Wie viele Facharbeiter braucht das Land? Tschechien diskutiert über sein Bildungssystem
In Tschechien wird seit geraumer Zeit darüber diskutiert, dass die Zahl qualifizierter Facharbeiter sinkt. Vertreter der Wirtschaft rufen immer lauter nach Änderungen in der schulischen Fachausbildung. Ihrer Vorstellung nach sollte dieser Bildungszweig gestärkt werden. Vom Bildungsminister verlangen sie deutliche Eingriffe, und der Ressortchef hat auch bereits reagiert. Doch gibt es auch viele Kritiker an diesem Weg.
„Wer mit der Hand arbeitet, wird als dumm eingestuft oder ist einfach ´out´“, so Dobeš im Juni auf einer Pressekonferenz in Prag.
In gewissem Sinne hat der Minister Recht. Das Handwerk hat in der Tat an Attraktivität eingebüßt. Nach der sechsjährigen Grundschule entscheiden sich die tschechischen Kinder oder Jurgendliche in der Regel für eine Fachmittelschule oder ein Gymnasium. Beides führt zum Abitur, und von den Abiturienten nahmen in den letzten Jahren über 70 Prozent ein Hochschulstudium auf.
Doch so viele Akademiker würden in Tschechien künftig nicht gebraucht, warnen unisono die Arbeitgeber. Im Juni schlugen sie sogar Alarm wegen mangelnder Fachkräfte. So sagte zum Beispiel Zdeněk Vršník von der tschechischen Wirtschaftskammer bei einer Konferenz mit Vertretern der Wirtschaft:„Es ist nicht ´fünf vor zwölf´, mittlerweile ist ´zwölf´ vorbei. Wir haben tatsächlich ernsthafte Probleme mit dem gesamten Bereich der Fachschulbildung. Für Tschechien bietet sich vielleicht eine der letzten Möglichkeiten, breite systematische Änderungen im schulischen Bereich vorzunehmen. Die Arbeitgeber sehen die offenen Fachkräftestellen als ein solch großes Problem, dass sie bereit sind, sich auch selbst an der Lösung zu beteiligen.“
Das tschechische Bildungsministerium verhandelt seit September 2010 mit den Arbeitgeberverbänden über ihre Forderungen - und der Ressortchef will ihre Stimmen erhört haben. Bei einer Pressekonferenz sagte er:„Es mangelt an menschlichen Ressourcen, und das ist auch im Alltagsleben zu verzeichnen: Einen guten Handwerker zu finden ist immer schwerer.“
Doch den Entwurf für ein neues Modell der Berufsausbildung hatte er nicht in der Tasche. Stattdessen war die Rede von Schritten, die sein Ministerium bisher gemacht hat oder zu machen gedenke, denn:
„Nicht jeder Schüler kann eine höhere Mittelschule erfolgreich absolvieren, wie sich jüngst auch gezeigt hat“, so Dobeš.Der Minister spielte mit dieser Aussage auf das im abgelaufenen Schuljahr neu eingeführte Zentralabitur an. Bei der ersten einheitlichen Reifeprüfung sind ein Fünftel der Schüler durchgefallen. Für die kommenden vier Schuljahre kündigte der Bildungsminister daher an, dass jeweils 30 Prozent der Grundschulabgänger an Berufsschulen gehen sollen. Wie das zu managen ist, erläuterte Dobeš indes nicht. Im Schulministerium muss man sich darüber aber vorläufig auch nicht den Kopf zerbrechen. 30 Prozent Berufsschüler von der Gesamtzahl der Schulabgänger entspricht im Prinzip der heutigen Situation. Auf der anderen Seite könnte das heißen, dass der Beschluss des Bildungsministers die Wirtschaftsvertreter nicht unbedingt besänftigen muss. Es stellt sich nun die Frage, ob 30 Prozent Berufsauszubildende genug, zu wenig oder sogar zu viel ist für die tschechische Wirtschaft. Darüber gehen die Meinungen auseinander und Uneingeweihte können schwer einschätzen, wessen Argumente richtig sind. Zoja Franklová vom Tschechischen Institut für Förderung der Berufsbildung gibt zu:
„Aus den uns zur Verfügung stehenden Daten, Statistiken und Analysen geht nicht hervor, dass Tschechien mehr Facharbeiter braucht. In der Bevölkerung sind sie weiterhin heute mit einem hohen Prozentsatz vertreten. Das rührt aus der Vergangenheit her, als in der Regel 50 Prozent des jeweiligen Grundschuljahrgangs im Berufsschulsektor weitergebildet wurden.“
Gemeint ist die kommunistische Vergangenheit. Und so war es auch noch zu Beginn der 1990er Jahre. Erst danach sank der Anteil der Berufsschulabsolventen allmählich auf den heutigen Stand. Franklová hat auch einen internationalen Vergleich parat:
„Vergleicht man Tschechien mit der Mehrheit der EU-Staaten zeigt sich, dass auch 30 Prozent Berufsschüler bereits eine verhältnismäßig hohe Zahl ist. Das hängt unumstritten mit der heutigen Entwicklung zusammen. Die Bedeutung der Industrieproduktion lässt nach, während der tertiäre Sektor an Bedeutung gewinnt. Dort finden logischerweise immer mehr Absolventen ihren Arbeitsplatz.“Es sei daher nicht auszuschließen, so Franklová, dass sich das Zahlenverhältnis von 70 Prozent Schulabgängern mit Abitur und 30 Prozent ohne Abitur weiter zugunsten der Ersten wandeln wird.
Die Agentur Scio, die sich mit der Ermittlung von Fähigkeiten und Wissenskompetenzen tschechischer Schüler und Studenten befasst, findet die diskutierten 30 Prozent schon jetzt überflüssig. Man sei mithilfe einer Studie gegen den Mythos ins Feld gezogen, dass Tschechien so viele Lehrlinge brauche, sagte neulich der Scio-Chef Ondřej Šteffl im Tschechischen Fernsehen. Die Aufrufe des Bildungsministers an die Eltern, keine Angst zu haben und ihre Kinder an die Berufsschulen zu schicken, hätten ihn sogar auf die Palme gebracht. Das Interesse der Bevölkerung an anderen Möglichkeiten der Weiterbildung hat Štefl zufolge gute Gründe:
„Wenn man sich die Zahlen der Arbeitslosen anschaut, sieht man ganz unten die Gymnasiasten und etwas weiter oben die Leute mit Fachabitur. Die Berufsschulabsolventen liegen aber ganz oben. Ich verstehe nicht, warum man diesen Stand konservieren will, anstatt ihn zu verbessern.“Šteffl wirft dem Bildungsminister vor, der Industrielobby viel zu sehr sein Ohr zu leihen. Er spricht aber auch allgemein kritisch über das Bildungsniveau in Tschechien:
„Das tschechische Schulwesen entwickelt sich ohne ein zielgerichtetes Programm. Da kommt leicht der Eindruck auf, dass es in den vergangenen zehn Jahren eigentlich gar nicht geleitet wurde. Der eine sagt, man werde dies und das machen, was schon bald wieder von jemand anderem bestritten wird. Unser Bildungssystem ist wie ein Segelschiff auf dem Meer, das vom Wind in verschiedene Richtungen getrieben wird.“
An der Debatte um fehlende Fachkräfte nehmen auch Leiter verschiedener Berufsschulen teil. Nicht alle stimmen mit der Behauptung überein, dass das Interesse an Fachberufen nachlasse. Das Blatt wende sich wieder zum Besseren, glaubt zum Beispiel Miloslav Janeček, Leiter der höheren Fachschule für Bauwesen und Gartenbau. Bei dem erwähnten Treffen mit Vertretern der Arbeitgeber sagte er gegenüber dem Tschechischen Rundfunk:„In den letzten Jahren bleibt die Zahl unserer Schüler unverändert bei rund 1200. Das Verhältnis zwischen den Fachrichtungen mit Abitur und mit Lehre als Abschluss ändert sich langsam zugunsten der Letzteren. Das Interesse an Stellen in der Lehre nimmt zu. Immer mehr Menschen nehmen zur Kenntnis, dass geschickte und verlässliche Handwerker, die sowohl traditionelle als auch moderne Technologien beherrschen, sozusagen mit Gold aufgewogen werden. Das bekommen wir auch von vielen Eltern zu hören, die am Tag der offenen Türen mit ihren Kindern zu uns kommen, um sich Informationen zu holen.“
Wie auch immer die tschechischen Berufsschulen die Zukunft bewerten, eines müssen sie wie die ganze Gesellschaft: sich auf neue Beschäftigungstrends einstellen. Denn auch in Tschechien setzt sich mehr und mehr die Verlagerung vom traditionellen verarbeitenden Sektor zu den Dienstleistungen durch.