Lidice: Neuer Film und neuer Blick auf die Ereignisse von 1942

‘Lidice’

In der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1942 kam es zu einer der größten Tragödien in der neueren tschechischen Geschichte. Die mittelböhmische Gemeinde Lidice hörte auf zu existieren – sie wurde zerstört als „Vergeltungsmaßnahme“ für das Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich am 27. Mai. Nach dem Krieg haben sich hierzulande Dutzende Literaten und Filmregisseure auf verschiedenste Art mit diesem Ereignis auseinandergesetzt, das für die Bewohner des so genannten Protektorats Böhmen und Mähren fatale Folgen hatten. Einen neuen Blickwinkel versucht der neue Spielfilm „Lidice“, der seit Donnerstag (2. Juni) in den tschechischen Kinos läuft. Geschichte in der Gegenwart - das ist das Motto des heutigen „Kapitels aus der tschechischen Geschichte“.

Jan Kubiš und Jozef Gabčík
Ende Dezember 1941: Böhmen und Mähren sind von den Nazis besetzt, als so genanntes Protektorat, und tschechoslowakische Widerstandskämpfer starten die Operation „Anthropoid“. Die Aktion ist von der tschechoslowakischen Exilregierung in London über viele Monate hinweg vorbereitet worden. Fallschirmjäger, die in England für den Widerstandskampf ausgebildet wurden, springen über tschechischem Gebiet ab. Sie haben den Auftrag, den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich zu töten. Am 27. Mai 1942 verüben die Fallschirmjäger Jan Kubiš und Jozef Gabčík den geplanten Anschlag. Heydrich, der in seinem Auto auf dem Weg in sein Büro auf der Prager Burg ist, wird schwer verletzt. Acht Tage später erliegt er seinen Verletzungen.

Reinhard Heydrich
Auf den Anschlag reagierte die Nazi-Führung im Protektorat mit Terror. Sie rief das Kriegsrecht aus. Allein bis zum 3. Juni, als das Kriegsrecht offiziell endete, wurden etwa 4,75 Millionen Menschen kontrolliert, über 13.000 verhaftet und rund 700 hingerichtet. Die Demonstration von Macht und Gewalt der Okkupanten dauerte aber in Wirklichkeit vier Monate lang und forderte noch viel mehr Opfer. Das war auch der Grund, warum nach dem Krieg nicht selten verlautete, es sei ein allzu hoher Preis für die Ermordung des nach Hitler und Himmler drittmächtigsten Mannes im nationalsozialistischen Deutschland gezahlt worden.



Das Thema „Lidice“ ist bis heute ein sensibles Thema für viele Tschechen. Seinerzeit wollte sich damit auch der weltbekannte Hollywood-Regisseur tschechischer Abstammung, Miloš Forman, filmisch auseinandersetzen. Aus persönlichen Gründen. Seine Eltern kamen im KZ ums Leben. Auf die Idee, das Thema etwas provokativ wie einen propagandistischen Film der Nazis zu gestalten, verzichtete er letztlich aber. Denn Lidice wurde zu einem Instrument einer anderen Propaganda - der kommunistischen.

Zdeněk Mahler
Das Drehbuch zum neuen Film hat Zdeněk Mahler geschrieben, die Regie führte Petr Nikolaev. Regisseur Nikolaev hatte persönliche Gründe, sich des Drehbuchs anzunehmen. Sein Großvater war Offizier und Angehöriger der tschechoslowakischen Legionen im Ersten Weltkrieg. Am Tag seiner Filmpremiere erinnerte sich Nikolaev in einem Gespräch für den Tschechischen Rundfunk:

„Einmal, es war in der Zeit des Protektorats, war er in einem Café, in dem auch ein Provokateur saß. Auf seine Äußerungen reagierte mein Großvater mit einer Mahnung an den Mann, dieser würde noch die Erde küssen wollen, die einst Präsident Masaryk mit seinen Füßen berührt habe. Es war kurz nach dem Attentat auf Heydrich und der Mann war ein Denunziant. In der Familie wurde erzählt, unser Großvater habe seinen besten Anzug angezogen, die Golduhr genommen und sei weggegangen. Die Familie hat ihn danach nie mehr wieder gesehen. Er wurde in Brünn hingerichtet. Ob erhängt oder erschossen, weiß ich nicht.“

Petr Nikolaev
Petr Nikolaev wollte aber keinen historischen Dokumentarfilm drehen, und anders als in älteren Streifen steht auch nicht das Geschehen um das Attentat auf Heydrich im Mittelpunkt. Vielmehr werden Lebensgeschichten erzählt vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse – die persönlichen Lebensdramen einfacher Bewohner des kleinen Dorfes in Mittelböhmen, das durch einen absurden Zufall zum Schauplatz eines grausamen Racheaktes wurde. Die Filmgeschichte basiert auf den zwischenmenschlichen Beziehungen, dazu gehören Liebe, Neid, Hass und vieles mehr. Und sie basiert ebenso auf dem Gedanken, dass Kleinigkeiten den Lauf der Geschichte ändern können.



František Šíma  (Karel Roden) im Gefängnis
Im Film „Lidice“ gibt es drei miteinander verflochtene Handlungsstränge. Die Hauptakteure haben ihre Vorbilder auch im realen Geschehen des Jahres 1942. Einer von ihnen ist František Šíma, der im Streit ungewollt seinen älteren Sohn umgebracht hat. Wegen fahrlässiger Tötung sitzt er im Gefängnis und rettet als einziger Mann aus Lidice paradoxerweise sein Leben. Das zweite Hauptmotiv ist ein Brief, in dem ein junger Mann seine Untreue mithilfe einer Lüge zu tarnen versucht. Diese gilt für die Nazis, die den Heydrich-Attentätern ohne Erfolg auf die Spur zu kommen versuchen, als Vorwand, die Vergeltungsoperation in Lidice durchzuführen. So wie es in Wirklichkeit auch geschah.

Die Vergeltungstat der Nazis begann in den frühen Morgenstunden des 10. Juni 1942. Alle Häuser in Lidice, auch die Schule und Kirche, wurden in Brand gesetzt. Alle 173 männlichen Bewohner im Alter zwischen 14 und 74 Jahren wurden erschossen. Die Frauen und Kinder wurden in die nahe Stadt Kladno gebracht. Zwei Tage später wurden die 184 Frauen ohne ihre Kinder mit Bussen ins KZ Ravensbrück verschleppt. Von den 88 Kindern, die die Nazis im Zuge ihrer Rassepolitik auf ihre Tauglichkeit zur Umerziehung untersuchten, wurden 81 ins KZ im polnischen Lodz transportiert. Dort wurden sie wahrscheinlich gleich nach der Ankunft vergast. Diese Geschehnisse werden im Film nur in relativ kurz aufeinanderfolgenden Sequenzen mit Gruppenszenen gezeigt.

Aus dem Film „Lidice“
In seinem Epilog, dem dritten Teil, setzt sich der Film mit der Frage auseinander, ob es ein wirklicher Gewinn ist, zu überleben, wenn man dabei seine Würde und Ehre verloren hat. Zwei Männer, die die Tragödie überlebt haben, suchen den Grund sowie die Kraft für das weitere Leben.

František Šíma kehrt ahnungslos aus dem Gefängnis zurück, weil ihm dort niemand die Wahrheit über seinen Heimatort zu sagen wagte. Dort, wo einst Lidice war, findet er nur einen weiten, bis zur Unkenntnis veränderten Landstrich ohne Menschen und Häuser vor. Die Nazis haben sogar den Lauf des Bachs umgeleitetet, damit nichts mehr so ist, wie es einst war. Der tschechische Gendarm Vlček, der ohne innere Überzeugung in den Dienst der regionalen Verwaltung der Besatzer getreten war, erschießt sich nach der Tragödie wegen seiner Gewissensbisse.

František Šíma findet nur einen Landstrich ohne Menschen und Häuser vor
Die Hauptmotive des Films werden nicht wie in vielen anderen tschechischen Produktionen vor dem Hintergrund von Heldentaten oder Bildern des Leidens verarbeitet. Das entspricht auch dem Drehbuch von Zdeněk Mahler, der wiederum sein eigenes Buch „Nokturno“ als Vorlage genommen hat. Den darin enthaltenen ungewöhnlichen Fokus erläutert er so:

„Mir lag daran, dass wir diese tragische Geschichte nicht als etwas betrachten, das uns in der Vergangenheit zugestoßen ist. Das Böse war als solches gegen unschuldige Menschen gerichtet und forderte ein Maximum an Opfern. Der Täter hat sich obendrein sofort dazu bekannt - ostentativ, ja abartig. Damals im Krieg hat es wie eine Tragödie ohnegleichen gewirkt, doch die Zeiten haben sich geändert.“



Gemeinde Ležáky
Mit dem „Täter“ meint Mahler selbstverständlich Nazideutschland, das sich unmittelbar nach dem Massenmord in Lidice zu der Tat bekannt hat. Dies geschah zum ersten und letzten Mal im Protektorat, obwohl die Nazis schon am 24. Juni 1942 mit der Gemeinde Ležáky nach demselben Muster verfuhren. Im Gespräch mit dem Tschechischen Rundfunk führte der Drehbuchautor in diesem Zusammenhang weiter aus:

„Solche Tragödien spielen sich heutzutage im Prinzip jede Woche ab. Das hat zur Folge, dass mit dem Zeitwandel und mit der Barbarisierung der modernen Welt auch die Geschichte von Lidice nicht nur als eine historische Parabel, sondern gleichzeitig auch als eine Metapher unserer heutigen Welt gilt. Heute sprechen wir von terroristischen Handlungen, sie haben aber dieselben Grundrisse. In diesem Sinne ist der Film ´Lidice´ keine historische Erinnerung, sondern eine Mahnung.“