Der Erdbeermann
Wildwachsende Beerenfrüchte sind in manchen Gebirgsgegenden sehr häufig. So ungefähr vermerkte Johann Gottfried Sommer in seinem Buch „Das Königreich Böhmen, statistisch dargestellt“. Das war im Jahr 1833. Dass die Sammlerkörbe nicht leer bleiben, mag auch an einem böhmischen Brauch liegen. Kinder legen nach dem Beerensammeln einige Früchte auf einen Baumstamm. Dazu sagen sie: „Da hast Du, Du gibst es übers Jahr wieder.“gesagt
Am Platz Námèstí míru im Stadtteil Vinohrady steht er jeden Tag und das seit einigen Jahren, mein Lieferant. Wenn ich so kurz nach acht Uhr auf dem Weg zur Arbeit dort vorbeikomme, sortiert er meist gerade die 500-Gramm-Körbchen mit den Beeren. Er hat sie auf einem Metallständer mit mehreren Querbalken angeordnet. Wenn er gerade aufschaut und sich unsere Blicke begegnen, dann grüßen wir uns.
Lange habe ich in diesem Mai gezögert, nicht nur zu grüßen, sondern auch zuzugreifen. Ich wähnte die Beeren nicht genügend von der Sonne verwöhnt, das Wetter war ja nicht so toll in Tschechien. Erst vor zwei Wochen stoppte ich auf meinem morgendlichen Weg.„Da sind Sie endlich, ich dachte, Sie machen gar nicht mehr Halt bei mir“, waren seine ersten Worte. Ich fabulierte etwas wie: „Ich lass die Erdbeeren ungern den ganzen Tag auf Arbeit rumstehen, da werden sie doch schlecht.“ Er versicherte aber, er habe die Erdbeeren ganz frisch am Morgen gepflückt. „Na“, dachte ich mir, „probieren wir mal, was Deine Beeren so aushalten.“Ich ließ die Erdbeeren also den ganzen Tag auf dem Fensterbrett im Büro stehen. Aber sieh da, am Abend waren sie noch frisch. Und sie schmeckten so süß. Seitdem ist er wieder mein Erdbeermann. Und die matschigen Importfrüchte aus Spanien-Frankreich-Italien können mir gestohlen bleiben. Nichts geht doch über den kleinen böhmischen Beerenhandel, auch wenn er nicht mehr wie 1833 auf Wildbeeren beruht.