„Invasion 1968“: Gespräch mit dem Autor des Fotobandes Josef Koudelka
Im Frühjahr dieses Jahres ist in acht europäischen Ländern und in den USA ein Fotoband erschienen, der die dramatischen Ereignisse der Okkupation der Tschechoslowakei im August 1968 in einer exzellent eindrucksvollen Weise veranschaulicht. Einer der bedeutendsten tschechischen Fotografen, Josef Koudelka, hat in 249 Aufnahmen bedrückende Momente im Leben der besetzten Stadt und ihrer Bewohner festgehalten und damit ein Zeitdokument über die ersten sieben Tage der Okkupation unter dem Titel „Invasion 1968“ kreiert. Einen ähnlichen Querschnitt durch das Geschehen jener Tage in Prag bot in diesem Sommer Koudelkas gleichnamige Ausstellung im Altstäter Rathaus mit 169 großformatigen Aufnahmen. Viele davon gab es zum ersten Mal in der Öffentlichkeit zu sehen. Jitka Mládková hat mit dem Fotografen gesprochen.
Herr Koudelka, Sie sagen: „Wenn es schon zu dem Unglück kommen musste, so hatte ich Glück, dass ich dabei war.“ Sind Sie in der Nacht, als Prag besetzt wurde, vielleicht mit dem Gedanken in die Stadt aufgebrochen, die Situation zu dokumentieren?
„Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Das Fotografieren war mein Hobby, in meinem Land ist etwas passiert, ich war Bürger dieses Landes, mir war also absolut klar, dass ich das Geschehen fotografieren werde.“
Bis dahin waren Sie aber als Theaterfotograf bekannt. Ihr „Thema“ waren schon damals - und sind es bis heute - die Roma. Sie waren also kein Fotojournalist. Anhand Ihrer Fotos vom August 1968 könnte man es aber glauben. Sind Sie sozusagen über Nacht Fotoreporter geworden?
„Ich war eigentlich kein Fotoreporter. Von dem Fotojournalismus wusste ich so gut wie gar nichts. Wenn sich aber verschiedene Leute meine Fotos anschauen, sprechen sie von einem Beispiel des Fotojournalismus und dass es wahrscheinlich in der ganzen Geschichte kein ähnliches Ereignis gegeben habe, das in einer vergleichbaren Weise und Umfang von einem Fotografen dokumentiert wurde.“
Eines Ihrer bekanntesten Fotos zeigt eine Hand mit den deutlich sichtbaren Zeigern einer Armanduhr im Vordergrund und den geisterhaft menschenleeren Wenzelsplatz dahinter. Es wurde lange angenommen, dass es Ihre Hand ist. Wie entstand eigentlich dieses Foto?
„Es ist interessant, dass sich bei mir niemand gemeldet hat, mit einer Ausnahme allerdings. Das war der Mann, dessen Hand ich fotografierte. Es gibt ein Foto, auf dem eine Hand mit einer Armbanduhr und der leere Wenzelsplatz zu sehen sind. Alle glaubten, dass es meine Hand ist, Cartier Bresson mit einbegriffen. Er pflegte zu sagen, dieses Foto habe er nicht besonders gerne, da meine Hand darauf sei. Ich habe ihm das nicht ausgeredet. Es ist aber nicht meine Hand, sondern eines Jungen Mannes. Im Moment, als ich auf ein Baugerüst geklettert war, kam er mir nach, und ich bat ihn, seine Hand vor das Objektiv auszustrecken. Ich wollte, dass die Uhrzeit und zugleich auch der leere Wenzelsplatz zu sehen sind. Er fragte mich anschließend, ob er meine Hand fotografieren darf, was auch geschehen war. Ungefähr vor fünf Jahren klingelte das Telefon und ein Mann sagte mir, er sei es, dem ich die Hand fotografierte. Wir haben uns dann getroffen.“
Konnten Sie sich die authentische Situation, die sie vor 40 Jahren fotografiert hatten, bei der Auswahl der Photos für den Fotoband „Invasion 1968“ in Erinnerung rufen?
„Eines war dabei interessant. Ich bin mir einer Sache gerade in dem Moment bewusst geworden, als ich mein Archiv durchzuforsten begann: Das Gedächtnis kann versagen, aber die Fotos lügen nicht. Man glaubt manchmal, dass sich dies oder jenes vollkommen anders ereignet hat. Hätte mir jemand gesagt, dass es am Morgen des 21. August regnete, hätte ich widersprochen, dass es so war. Doch auf den Fotos habe ich Menschen mit Regenschirmen gesehen.“
Von der Wirkungskraft der Fotografie haben Sie sich schließlich auch bei einem Besuch in Aserbaidschan überzeugt, nicht wahr? In einem Dorf sind Sie auf einen Einheimischen gestoßen, der behauptete, 1968 als Soldat an der Befreiung der Tschechoslowakei teilgenommen zu haben. Wie haben Sie ihn von dem Gegenteil überzeugt?„Schau her, sagte ich zu ihm Ich war dort damals auch und es war ein bisschen anders als du sagst. Ich habe Tote gesehen. Nein, man habe nicht geschossen, es sei eine Konterrevolution gewesen, erzählte er. So habe ich aus der Tasche ein kleines Buch mit meinen Fotos von ´68, das in Frankreich publiziert wurde, aus der Tasche gezogen. Das sind meine Fotos, sagte ich ihm, und er hat mir geglaubt. Diese Aussagekraft kann sich in Fotos verbergen.“
Ihre Fotos wurden 1969 heimlich außer Landes geschmuggelt und gelangten nach New York. Die weltweit bekannteste Fotoagentur Magnum lancierte dann die Bilder in der Weltpresse, allerdings anonym, wohl gemerkt. Sie wurden auch anonym mit dem Robert Capa Award ausgezeichnet. Im Jahr 1970 sind sie nach Frankreich emigriert. Ist Ihnen diese Entscheidung schwer gefallen?
„Ich glaube, für jeden ist es sehr schwer, der sich entscheiden muss, sein Land zu verlassen, und der weiß, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach wird nicht mehr zurückkehren können. Ich musste die Tschechoslowakei verlassen. Wäre ich geblieben, bestand da eine große „Chance“, dass ich im Knast gelandet wäre. Aber auch danach, als ich schon emigriert war, habe ich lange immer wieder darüber nachgedacht, ob ich zurückgehen soll. Wenn man aber vor dieser Entscheidung steht, ist es absolut wichtig, sich zu sagen, dass es kein Zurück gibt und diese Tatsache hinzunehmen. Etwa nach dem Motto: Das Haus ist verbrannt und ich muss es von neuem bauen.“Gibt es allgemein etwas Positives, das man dem Leben im Exil abgewinnen kann?
„Dass man sich plötzlich in einem vollkommen anderen Milieu als bisher und unter anderen Menschen befindet. Man kann das sogar ausnutzen, dass die Menschen von dem Ankömmling fast nichts wissen und er etwas ganz Neues machen kann. Ich habe einen Fotoband mit dem Titel „Exil“ herausgegeben, zu dem der polnische Nobelpreisträger für Literatur, Cieslaw Milosz, einern Begleittext verfasst hat. Seine abschließenden Worte lauten: ´Das Exil kann den Menschen kaputtmachen. Wenn es ihn nicht kaputtmacht, macht es ihn stärker.“
Abschließend ein Zitat. Josef Koudelka:
„Es ist durchaus normal, dass vieles in Vergessenheit gerät. Gewisse Dinge sollten aber nicht vergessen werden. Zum Beispiel die sieben Tage, an denen wir uns wie eine einheitliche Nation verhalten haben. Und es gibt wahrscheinlich nicht viele ähnliche Beispiele in unserer Geschichte. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann wäre es, dass der Fotoband die Menschen daran erinnert, wie wir uns damals verhalten haben und dass das nicht schlecht war.“