„Gerade ich muss länger leben als die Gewalt“ – Jiří Weils Erzählungen
Jiří Weil gilt als Klassiker der neueren tschechischen Literatur. Eindringlich schildern seine Romane „Moskau – die Grenze“ und „Mendelssohn auf dem Dach“ die europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts: den kommunistischen Terror und die Naziverbrechen. Weils kurze Prosa war dem deutschen Publikum jedoch bislang nicht bekannt. Nun nahmen sich zwei Heidelberger Slawisten ihrer Übersetzung an. Das gelungene Ergebnis liegt seit Anfang dieses Jahres in dem Band „Sechs Tiger in Basel“ vor.
Mehrere Erzählzyklen dienten den Herausgebern Urs Heftrich und Bettina Kaibach als Vorlage. 26 Texte haben sie ausgewählt und so angeordnet, dass beim Lesen dieser äußerst unterschiedlichen Geschichten eine doppelte Wirkung entsteht:
„Wir haben die Erzählungen streng chronologisch angeordnet, so dass man den Band eigentlich auch als eine Art biographischen Roman lesen könnte. Die Erzählungen bilden im gewissen Sinn die wichtigen Stationen in Weils sehr bewegtem Leben ab. Natürlich ist jeder Texte auch für sich lesenswert und es sind wirklich meisterhaft gestaltete Erzählungen. Aber man kann das Buch eben auch anders lesen, als eine Art Lebensgeschichte“, erläutert Bettina Kaibach.
Nicht nur ein bewegtes sondern auch ein bewegendes Leben war dem Autor beschieden. Als Intellektueller, der die Ideale und nicht die Ideologien verehrte, geriet er stets zwischen alle Fronten: Obwohl überzeugter Kommunist entkam Weil in den 30er Jahren nur knapp den stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion. Zurück in Prag ereilte den jüdischstämmigen Kommunisten jedoch erneut existenzielle Bedrohung während der Naziokkupation.
Weils Schicksal spiegelt sich in der Vielseitigkeit seiner Texte wider, die für jeden Leser etwas zu bieten haben. Die Erzählungen spielen an zahlreichen Schauplätzen, die von Zentralasien bis nach Westeuropa reichen. Auch thematisch und stilistisch ist der Bogen weit gespannt - kaum zu glauben, dass solch eine Bandbreite an sprachlicher Virtuosität und verschiedenen Tonlagen einer Feder entspringt. Die Übersetzerin der Texte, Bettina Kaibach:
„Jiří Opelík hat geschrieben, dass Weil diese Erzählungen gewissermaßen als Labor für seine Romane benutzt hat, wo er bestimmte stilistische Herangehensweisen erprobt hat. Das fällt tatsächlich auf, wenn man die Erzählungen liest. Das sind sehr unterschiedliche Texte von nüchtern-komischen Texten aus der frühen Zeit. Dann die lyrische Prosa des Zyklus ´Farben´, der eine Art Nachruf auf die Opfer der Nazis bildet: Da wird die Grenze zu Lyrik überschritten. Dann gibt es wiederum Erzählungen, in denen Weil einen sehr absurden Ton anschlägt. Das sind die Erzählungen, in denen er aus dem Rückblick, in der Nachkriegszeit, auf die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts blickt. Das sind Erzählungen, die zum Teil fast aus Dialogen bestehen.“
Die Außenseiterschicksale sind es, die den roten Faden durch die Geschichten bilden. In der Darstellung ihrer Ausgrenzung und Isolation wird jegliche Ideologie in Frage gestellt. So berichtet die einleitende Erzählung „Am Neuruppiner See“ in nüchterner Sachlichkeit von einem glühenden Kommunisten. Nach der Täuschung preußischer Beamten verlässt er das bürgerliche dekadente Westeuropa in Richtung Russland. Doch wird bereits in der nachfolgenden Geschichte die Absurdität des russischen Boheme-Lebens in skurriler Komik vorgeführt. Die Avantgardekreise, die der junge Enthusiast in Moskau beharrlich aufsucht, bieten ihm statt Freiheit und Kreativität lediglich Anarchie und Trunkenheit. Der enttäuschte Idealismus des Reisenden wird durch eine Gipsbüste seines Lieblingsdichters kompensiert. Jedoch erleidet die Büste des Dichters ausgerechnet durch einen preußischen Zollbeamten das gleiche Schicksal wie die Illusionen des Ich-Erzählers:
„Ich öffnete meinen Koffer. Es waren nur Bücher darin und Sergej Jessenins Büste. Alles andere hatte ich in Moskau verteilt. Der Zöllner wühlte in den Büchern. Aber offenbar verstand er kein Russisch, und Bücher interessierten ihn generell nicht. Dann zog er die Büste heraus. „Was ist das?“, fragte er streng. „Eine Büste“, sagte ich. „Die Büste eines russischen Dichters.“ „Was ist das für ein Unsinn!“, regte sich der Zöllner auf und griff nach einem Hämmerchen. „Das ist die Büste eines großen Dichters, er heißt Sergej Jessenin.“ Der Zöllner begann, die Büste mit dem Hämmerchen abzuklopfen. „Was tun Sie da?“, schrie ich. “Sie zerschlagen ja die Büste, sie ist doch aus Gips.“ „Eben“, sagte der Zöllner und hieb mit einem Schlag Jessenins Nase ab. „Sie transportieren da drin Brillanten.“ „Sind Sie übergeschnappt?“, schrie ich. „Was soll ich mit Brillanten?“ Aber der Zöllner ließ sich nicht beirren, er fuhr sorgfältig fort, die Büste zu zerschlagen, bis nur noch Splitter übrig blieben. Dann sah er mich enttäuscht an. „Es war wirklich eine Büste“, sagte er angewidert. „Und so eine Schweinerei schleppen Sie aus Russland bis hierher?“ Ich gab keine Antwort.
Auf zerschlagene Illusionen, groteske Utopien folgen historische Einblicke. In einer orientalische Dichtung nachahmenden Erzählweise verarbeitet Weil seine Verbannungszeit in Kasachstan. Hier stellt er den sozialistischen Verwüstungen die unverwüstliche Natur Zentralasiens sowie die zyklische Wiederkehr seiner uralten Geschichte entgegen.
Die Rückkehr aus der Verbannung nach Tschechien gelingt 1935. Bereits vier Jahre später wird Weil jedoch vom Mordprogramm der Nazis eingeholt. Die während der Prager Zeit des Untertauchens geschriebenen Erzählungen dokumentieren aus unmittelbarer Nähe das Grauen des Holocausts und betrauern zugleich die vernichteten Freunde. Im „Klagegesang für 77.297 Opfer“ setzt Weil den tschechischen ermordeten Juden ein mehrstimmiges rhythmisches Denkmal:
„Sie trieben sie in die Kasernen und zwangen sie, auf den Böden, auf dreistöckigen Pritschen zu schlafen. Sie teilten pro Kopf drei gefrorene Kartoffeln in der Schale aus oder gaben ihnen Spülicht, das sie einmal Kaffee, einmal Suppe nannten. Auch diese Abfälle mussten sie sich mit harter Arbeit verdienen. Dort hinter dem Wall blühten Bäume, zog sich eine Landstraße dahin, und grüne Hügel erhoben sich vor der Festung. Und die Stadt war voller Schmutz und Staub, und das Trappeln menschlicher Schritte hallte durch die Straßen bis zu der Stunde, da allen befohlen war, in ihren Sammelunterkünften zu bleiben.
Adolf Horovic war siebzig Jahre alt. Er stellte sich mit seinem Napf in die Schlange vor der Essensausgabe und wartete geduldig zwei Stunden. Dann goß ihm der Koch eine Kelle voll brauner Flüssigkeit in den Napf. Da Horovic vom Warten geschwächt war, stolperte er und stürzte. Die Suppe schwappte aus dem Napf und ergoss sich auf den schmutzigen, gestampften Lehmboden. Eine zweite Portion Suppe bekam Horovic nicht. Darauf hatte er kein Anrecht. Er saß auf dem Boden, und Tränen rannen ihm aus den Augen. Es war sein einziges Abendessen.
Und sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem großen Durst. Psalter 69,22“
Im Klagegesang wird der zweite rote Faden, der sich durch die Texte zieht, wohl am eindringlichsten vernommen: die unermüdliche Stimme des Überlebenden, der sein wie eine Beute davongetragenes Leben der Gewalt entgegenstellt. Die unverwechselbare Stimme des Autors bei der Übertragung ins Deutsche zu bewahren, sie nicht in den vielschichtigen und vielfältigen Tonlagen untergehen zu lassen, ist der Übersetzerin Bettina Kaibach meisterhaft gelungen. Der tschechische Literaturkenner und Kommentator des Bandes Michael Špirit:
„Weils Sprache ist auf den ersten Blick sehr einfach, durchsichtig, aber keinesfalls primitiv. Weil benutzt sehr direkte Mittel und in vielen Texten entsteht der Eindruck des Lyrischen. Die Übersetzung von Bettina Kaibach hält diese Spannung zwischen der direkten Sprache und des lyrischen Eindruckes.“
Der Band „Sechs Tiger in Basel“ liefert nicht nur die erste Übersetzung der Erzählungen ins Deutsche, sondern ist zugleich die erste Neuausgabe seit Jahrzehnten. Denn seit den 60er Jahren wurde Weils Kurzprosa in Tschechien nicht verlegt. Umso erfreulicher, dass die Neuerscheinung durch den aufwändigen Kommentar und das aufschlussreiche Nachwort eine besonders gelungene Edition bietet.
Jirí Weil: „Sechs Tiger in Basel“. Erzählungen. Ausgewählt von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bettina Kaibach, kommentiert von Michael Špirit; Libelle Verlag, Konstanz 2008.