Kollektoren: Das unterirdische Herz der Hauptstadt als Touristenziel
In der tschechischen Hauptstadt gibt es eine geheimnisvolle Welt, von deren Existenz die Mehrheit der Prager keine Ahnung hat. Unter der Erde verbergen sich Wege, auf denen man kaum jemandem begegnet. Dabei münden sie an verschiedenen Orten im historischen Stadtkern, eigentlich an den attraktivsten Stellen Prags.
"Wir haben bereits vor dem EU-Beitritt mit den anderen Ländern zusammengearbeitet. Das längste Kabeltunnelnetz gibt es offensichtlich in Deutschland - es misst etwa 1000 Kilometer. Während der gegenseitigen Besuche hat es sich gezeigt, dass das Sicherheitssystem des Tunnelnetzes, das in Prag ausgedacht wurde, für alle am besten geeignet ist. Wir bemühen uns nun, das elektronische Sicherheitssystem der Kabeltunnel in der EU nach dem Prager Vorbild zu vereinheitlichen. Anfang Dezember reise ich mit einer Expertengruppe zu einem Treffen der Verwalter der Kabelschachtnetze nach Paris. Dort werden wir unser System ausführlich vorstellen und versuchen, den Kollegen in anderen Ländern zu helfen."
Der Kabeltunnel - der im Tschechischen "kolektor" genannt wird - ist ein unterirdischer Linienbau, der dazu dient, die Versorgungsnetze zu beherbergen und zu schützen. Kabel und Röhren sind zugänglich und können verhältnismäßig einfach kontrolliert, repariert und gewartet werden, betonen die Befürworter. Eventuelle Störungen und Fehler werden direkt im Tunnel beseitigt, dabei braucht man nirgendwo zu graben und den Verkehr zu stören.In den Tunnel gelangt man durch einen senkrechten Schacht. Der Eingang ist durch einen Deckel geschützt, den man im Prager Pflaster leicht übersehen kann. Das Prager unterirdische Kabeltunnelnetz misst heutzutage etwa neunzig Kilometer. Einen kleinen Teil davon konnte ich auch besichtigen. Durch einen senkrechten Schacht klettert man die eiserne Leiter hinunter und plötzlich befindet man sich in einem Gang, das gar nicht eng oder niedrig ist. Überall gibt es an den Wänden eine Art Regalböden, in denen dickere oder dünnere Kabelbünde und Röhren liegen. Sogar Straßenschilder gibt es hier, die die Richtung angeben. Was alles führt hier eigentlich lang? Otakar Capek:
"Gas, Wasser, die Heißwasserleitung, falls es eine gibt, sowie sämtliche Datenkabel einschließlich von Telekommunikationskabeln. Und schließlich auch die Stromleitung. Die Tunnel sind, wie man hier sieht, gar nicht klein. Die kleinsten messen 2,70 mal 2,10 Meter. Aber der klassische Durchmesser des Kabeltunnels ist derselbe wie bei der U-Bahn - 3,60 Meter. Hier kann man durchgehen, es ist da sauber, die Tunnel sind beleuchtet. Es ist eine interessante Welt."Im ganzen System gibt es Lufttechnik, die die Temperatur stabil hält. Sensoren kontrollieren die Feuchtigkeit sowie Druckwechsel. Informationen vom unterirdischen System werden an die Dispatcherzentrale geleitet, sagt der Experte:
"Das Einzigartige am tschechischen System besteht darin, dass 45.000 Stellen im Verlauf einer Sekunde kontrolliert werden. In jeder Sekunde wissen wir also, ob an allen der 45.000 Stellen die Verbindung in Ordnung ist und ob der Sensor funktioniert. Das ist das beachtenswerte daran." Der Dispatcher erkennt so, ob ein Fremder versucht, in den Schacht einzudringen oder ob sich einer der Mitarbeiter im Tunnel bewegt.
Das Kabeltunnelsystem im Prager Stadtzentrum ist eine verhältnismäßig neue Angelegenheit. Die ersten Kabeltunnel wurden am Stadtrand errichtet, wo sie nicht wie heute unterirdisch vorgetrieben, sondern abgeteuft wurden. Otakar Capek:"Das erste klassische Kabeltunnelnetz wurde in den Jahren 1974-75 in der Neubausiedlung im Stadtteil Dablice in Betrieb gesetzt. Es maß damals 5,5 Kilometer. Danach wurde das Netz allmählich auch in anderen Plattenbausiedlungen erbaut - wie beispielsweise in Modrany, Repy oder in der Südstadt. Die Tunnel waren insgesamt 75 Kilometer lang. Die Stadtführung war sich bewusst, dass es notwendig war, Kabeltunnel auch im Stadtkern zu bauen. Der erste wurde unter dem Wenzelsplatz errichtet. Dann folgte ein weiterer in Zizkov, und dann wurde das Netz zwischen dem heutigen Jan Palach-Platz, dem Marienplatz und dem Altstädter Ring über die Straße Am Graben und die Vodickova bis hin zum Museum und zur Straße Na Bojisti ausgebaut."
Das Tunnelsystem im Stadtzentrum umfasst etwa 16 Kilometer, sodass die Gänge unter der Stadt heute insgesamt etwa 90 Kilometer messen. Im historischen Stadtkern war der Bau jedoch viel komplizierter als am Stadtrand. Das System ist nicht abgeschlossen, den Bau eines weiteren Tunnels beginnt man in diesen Tagen unter dem Wenzelsplatz.
Die unterirdischen Tunnel stellen eine technische Sehenswürdigkeit dar, deren Besuch sich auch Touristen nicht entgehen lassen, sagt der Experte:
"Die Wirtschaftskammer der Hauptstadt Prag hat ein Touristenprogramm mit dem Titel ´Das technische Prag´ zusammengestellt. Wir haben uns dem Programm angeschlossen und haben drei verschiedene Führungen durch die Kabeltunnel vorbereitet - sowohl weniger anspruchsvolle, als auch etwas abenteuerliche Führungen, bei denen man mehrmals über Leitern klettern muss. Die Prager Wirtschaftskammer wird ein Reservierungssystem für diese Besichtigungen einführen. Aber auch ohne das System haben sich allein im November inzwischen schon 17 Gruppen - die Hälfte davon aus dem Ausland - angemeldet, die das unterirdische Netz kennen lernen wollen. Am Wochenende kommen beispielsweise dreißig Interessenten aus Kanada, die mehr über das Tunnelsystem wissen wollen."Als ich den, wenn man so will, "Herrn des unterirdischen Labyrinths" mit so viel Begeisterung über die "kolektory" erzählen hörte, musste ich ihn natürlich auch fragen, ob er beim Spaziergang durch die Stadt immer wieder daran denkt, was sich unter welcher Straße verbirgt.
"Mein Gott, ich bin eine völlig deformierte Persönlichkeit! Als meine Tochter noch klein war, und ich mit ihr durch Prag spazieren ging, habe ich plötzlich festgestellt, dass ich bei den Spaziergängen immer wieder die Deckel der Schächte wenigstens mit den Augen kontrolliert habe. Auch heute noch bin ich nicht imstande durch Prag zu gehen, ohne auf die Deckel zu schauen und mir vorzustellen, welcher Tunnel da drunter lang führt. Ich schaue mir natürlich die historischen Häuser an, aber die Deckel stehen mir irgendwie näher...."
Fotos: Autorin