Max Rostock - Vom SS-Mann in Lidice zum kommunistischen Agenten
Lidice - genau 65 Jahren sind vergangen, seitdem das Dorf von den NS-Besatzern dem Erdboden gleichgemacht und die meisten der Bewohner ermordet wurden: willkürliche Vergeltung für das Attentat auf Reinhard Heydrich. An der Aktion Lidice maßgeblich beteiligt war SS-Obersturmführer Max Heinrich Rostock. Nach dem Krieg endete er in tschechoslowakischer Haft. Hier wurde aus dem Todeskandidaten Rostock der kommunistische Agent "Fritz". Eine Geschichte vom Verwandeln und Vergessen.
Lidice, 10. Juni 1942: In den frühen Morgenstunden durchkämmen NS-Einheiten das Dorf, stecken die Häuser in Brand, treiben 173 Männer zur Hinrichtungsstätte; mehr als 300 Frauen und Kinder werden deportiert, meist in den sicheren Tod. Vor Ort ist auch der NS-Sicherheitsdienst aus dem nahen Kladno. Leiter der Dienststelle: SS-Obersturmführer Max Rostock. Historiker Jiri Plachy hat die Vorgänge rekonstruiert:
"Die gesamte Dienststelle des Sicherheitsdienstes in Kladno hat sich an den Vorgängen in Lidice beteiligt. Sicher ist, dass sie den Lidicer Pfarrer Josef Stemberk abgeführt haben. Rostock persönlich hat den 73-jährigen Geistlichen dabei misshandelt. Er ist dann in einen Keller zu den anderen Männern des Ortes gekommen und später zusammen mit ihnen hingerichtet worden."
Ein ehemaliger Gestapo-Mann hat bei einer Untersuchung unmittelbar nach Kriegsende seine Erinnerungen an den Tag zu Protokoll gegeben:
"Ich habe gesehen, wie der Pfarrer, ein schon älterer Herr, bei Rostock Halt gemacht und ihm eine Bitte vorgetragen hat. Rostock hat ihn darauf an beiden Schultern gepackt, mit Gewalt umgedreht und so getreten, dass er auf die Straße gestürzt ist. Als er wieder aufstehen wollte, haben auch andere Sicherheitsdienst-Leute auf ihn eingetreten. Später hat Rostock dann erklärt: ´Der Pfaffe hat das gut gemacht. Durch sein Beten und die Segnungen hat er die Leute dazu gebracht, dass sie wie Schafe zur Hinrichtung gegangen sind.´ Und alle haben dazu gelacht."
Wer war dieser Max Heinrich Rostock? Einer von Tausenden? Die Biographie bleibt unscharf: Geboren 1912 in Ludwigshafen. Bescheidene Verhältnisse, Handelsgehilfe, Zimmermaler. Karriere erst nach der Machtergreifung: Beitritt zur SA, dann zur NSDAP; 1935 Aufnahme in die SS. Arbeit beim Sicherheitsdienst, dem Nachrichtendienst der SS. Hier zeichnet sich Rostock aus, baut die Dienststelle Kladno auf. Einsatz in Lidice, Jagd auf tschechoslowakische Fallschirmspringer. Weitere Stationen im Protektorat. Zu Kriegsende setzt sich Rostock ins Reich ab, versucht, unter neuem Namen in der Heimatstadt Ludwigshafen unterzutauchen. Derweil läuft in Prag die Fahndung nach ihm, erklärt Historiker Jiri Plachy:
"So etwa im Jahr 1947 hat die Tschechoslowakei eine Fahndungsliste mit den Hauptkriegsverbrechern zusammengestellt - 50 Leute, nach denen vorrangig international gesucht werden sollte. Und auf dieser Liste stand auch Max Rostock. Man kann also sagen, er hat zu den Top Ten der Kriegsverbrecher in der Tschechoslowakei gehört."
Im Juni 1948 wird Rostock von französischen Besatzungsbehörden in Ludwigshafen verhaftet; nach zähen Verhandlungen ein Jahr später in die inzwischen kommunistische Tschechoslowakei ausgeliefert, berichtet Plachy. Es beginnt das dritte Leben des ehemaligen SS-Manns Max Heinrich Rostock:
"Er war sich natürlich im Klaren darüber, dass ihm die schärfste Strafe droht. Schon in der Untersuchungshaft hat er daher versucht, seine Dienste der Geheimpolizei anzubieten, mit Hinweis darauf, dass er viele Namen kenne - Leute, die in der Tschechoslowakei für die NS-Geheimdienste gearbeitet hatten, ehemalige Sicherheitsdienst-Offiziere, die jetzt in Westdeutschland leben, und dass er diese Kenntnisse in den Dienst der kommunistischen Tschechoslowakei stellen könnte."
Die Angebote verhallen. Rostock wird in Prag zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt - zunächst zu lebenslanger Haft, dann später zu 25 Jahren.
"Erst im Jahr 1959, offenbar nachdem man nochmals die Archivmaterialien durchgegangen ist, ist bei dem damaligen Geheimdienst der Vorschlag eingegangen, dass Rostock geeignet sein könnte, um ihn als Agent in Westdeutschland einzusetzen. Rostock selbst hat die ganze Zeit über versucht, die Strafe zu mildern, aus dem Gefängnis zu kommen, und man kann sagen, dass er auf ein solches Angebot nur gewartet hat."
Es beginnt eine merkwürdige Zeit. Aus SS-Mann Max Heinrich Rostock wird der kommunistische Agent "Fritz". Mehrere Monate wird der Häftling Rostock von der Staatssicherheit angelernt. Die Zusammenarbeit klappt gut - man schätzt und versteht sich. Geheimdienst-Profis unter sich. Die Vergangenheit? Kein Hindernis, weiß Historiker Jiri Plachy:
"Während seiner Vorbereitung ist Rostock auch nach Lidice gebracht worden und hat dort seinen Führungsoffizieren gezeigt, wie die Aktion abgelaufen ist. Danach sind alle nach Prag gefahren und haben zusammen Nachtklubs besucht und sich gut amüsiert."
Kino, Nachtklub, Ausflüge - der Führungsoffizier bemüht sich, dem ehemaligen SS-Mann Rostock die letzten Monate in Prag so angenehm wir möglich zu machen. Währenddessen hält die staatliche Propaganda die Erinnerung an die Gräuel von Lidice hoch - das Dorf ist Vorzeigeobjekt des staatlich verkündeten Antifaschismus. Die Zusammenarbeit mit einem der Täter von Lidice - ein moralisches Tabu. Die Staatsicherheit zeigt sich skrupellos. Max Rostock dankt es ihr. Im Gefängnis entstehen Gedichte und wirre philosophische Schriften, mit der Rostock seinen neuen Geist beweisen will:
"Zehn Jahre marschier´ ich Tag für TagEs gab auch viel Sranda, Spaß, und nicht nur Plag´!
Und mein Herz beweist Euch Schlag um Schlag:
NENI ESESAK JAKO ESESAK - nicht alle SS-ler sind gleich!
Und Euch Tschechen nie vergessen mag:
Max, Euer Esesak."
Sogar der haarsträubende Entwurf für ein Filmdrehbuch findet sich in den Akten - mit Rostocks Bitte, das Skript dem Staatspräsidenten überreichen zu dürfen:
"Max Heinrich Rostock
spielt sich selbst in:
SURSUM CORDA - ERHEBET DIE HERZEN!
gewidmet den Kindern von Lidice und Anne Frank
Unerhörte, Packende Symbolik!
Eine Koproduktion unter Oberleitung der Staatlichen Tschechoslowakischen
Filmproduktion Barrandov"
Immerhin: die Staatssicherheit nimmt an den Werken keinen Anstoß. Am 4. Februar 1960 wird der ehemalige SS-Mann Max Rostock, vormals einer der meistgesuchten Kriegsverbrecher der Tschechoslowakei als StB-Agent nach Westdeutschland entlassen. Rostocks Treueschwüre halten aber nicht lange vor, hat der Historiker Jiri Plachy herausgefunden:
"Die Frage ist, ob Rostock nicht versucht hat, Kontakt zu einem westlichen Geheimdienst anzuknüpfen und aus seinen Beziehungen nach Prag irgendwie Kapital zu schlagen. Jedenfalls hat die Zusammenarbeit nach ein paar Monaten geendet."
Agent Fritz, so scheint es, hat vor allem sich selbst genutzt. Dennoch: viele Fragen bleiben offen: Hat sich die Staatssicherheit wirklich Material von Rostock erhofft? Oder war er nur kalkulierter Spielball der Geheimdienste - Ablenkungsmanöver in einem größeren Spiel? Dem ehemaligen Todeskandidaten Rostock konnte das egal sein. Max Heinrich Rostock arbeitete in den folgenden Jahren als gewöhnlicher Angestellter in Bremen. Zu den Vorgängen in Lidice wurde er vor deutschen Gerichten noch mehrfach verhört, aber nie mehr zur Verantwortung gezogen. Er starb unbeachtet im Jahre 1986.