Ein Idealist des Sexuellen - Karel Jaroslav Obratil
Folklore - das klingt nach Trachten und idyllischen Liedern. Der mährische Lehrer Karel Jaroslav Obratil (1866-1945) war aber an einer anderen, dunkleren Seite des Volksschaffens interessiert: Gegen alle Widerstände sammelte er zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Zoten, derbe Witze und vulgäre Lieder - das verborgene sexuelle Erbe der Völker der Tschechoslowakei. Eine Erinnerung an einen ungewöhnlichen Vorkämpfer des freien Denkens in den böhmischen Ländern.
"Fass´ mir nicht ans Knie - sind doch nur Knochen dran. Greif´ lieber etwas höher, da fängt erst die Freude an!"
So mag es vor hundert Jahren zu später Stunde in den böhmischen Kneipen geklungen haben - das Volksleben hatte auch seine derben Züge. Dass wir heute noch davon wissen, das ist das Werk eines merkwürdigen und ungewöhnlichen Mannes: Karel Jaroslav Obratil, Jahrgang 1866, ein Amateur im besten Sinne des Wortes. Gegen alle Widerstände hat er jahrzehntelang all das gesammelt, was Volkskundler vor ihm geflissentlich übersehen haben, um weiterhin den Mythos von der Sittenreinheit des einfachen Volkes pflegen zu können - derbe Lieder und Geschichten, Toilettensprüche, vulgäre Reime und Witze, kurzum die sexuelle Folklore der böhmischen Länder.
"Wie teilt man einen Furz durch fünf? Einfach einen Handschuh vor den Hintern halten! - Wer war der potenteste Mann der Welt? Kolumbus, dem standen sogar die Eier!"
Karel Jaroslav Obratil wurde 1866 im mährischen Hukvald als Sohn des örtlichen Lehrers geboren. Er wuchs in bescheidenen ländlichen Verhältnissen auf und trat als einfacher Dorflehrer in die Fußstapfen des Vaters. Schon bald zeigte sich seine kämpferische Begabung und sein unermüdlicher Organisationsgeist - an den zahlreichen Orten seiner Laufbahn als junger Lehrer wurde er zum Vorkämpfer der Ideen der nationalen Wiedergeburt, national, antiklerikal und aufgeklärt. Er gründete Theatergruppen, nationale Sokol-Turnvereine, gab Zeitschriften und Broschüren heraus. Dabei, so der Frankfurter Bohemist und Obratil-Experte Franz Schindler, stand er stets in der Nachfolge und im Schatten der großen nationalen Wiedererwecker, von Palacky und Rieger bis hin zu Masaryk.
"Aber es ist eigentlich immer die Frage gewesen: Wie haben sich diese Leute und ihre Ideen in breiten Bevölkerungskreisen durchgesetzt? Ich denke, Obratil hat da einen sehr großen Beitrag geleistet. Er hat eine Reihe von Broschüren herausgegeben, die für jedermann finanziell auch leicht zu erwerben waren und in denen er die einfachen Leute mit den Gedanken der tschechischen Größen bekannt gemacht hat - angefangen von Zizka über Jan Hus bis hin zu Masaryk. Diese Broschüren sind teils in 14, 15 Auflagen erschienen, das heißt, sie wurden gekauft und auch gelesen. Und ich glaube, damit hat er einen großen Beitrag dazu geleistet, dass das tschechische Volk sich auch als ein solches verstanden hat."Entscheidend für Obratil war in den 1890er Jahren eine Begegnung mit dem späteren Präsidenten Tomas Garrigue Masayrk, damals noch Hochschullehrer und Reichsratsabgeordneter in Wien.
"Masaryk, das war ein großes Vorbild. Obratil hat sich auch im Äußeren Masaryk immer mehr angenähert - es gibt später Bilder von ihm, bei denen man denkt, man sieht Masaryk. Das gehörte wohl irgendwie bei ihm mit dazu."
Masaryks Ideal der absoluten Wahrhaftigkeit wandte Obratil daraufhin auch auf seine unstillbare Bücherleidenschaft an. Mehr und mehr faszinierte ihn das Unterdrückte, Verbotene und Verfemte - die geheime Welt der erotischen Literatur."Man denkt, jemand, der für die Nation kämpft, der ist ordentlich, ein Bildungsbürger, der hat eine Abscheu gegen Obszönitäten - aber Obratil war politisch ein sehr links orientierter Mensch; er hat die Gedanken von Masaryk hoch geschätzt. Und dessen Leitspruch war ´Die Wahrheit siegt´ - das ist ja auch das Motto im Wappen der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Und ich glaube, das hat er ernst genommen."
In seinem Bereich vermutlich sogar ernster, als Masaryk es selbst gewünscht hätte. Karel Jaroslav Obratil beginnt, systematisch die sexuelle Folklore seiner Heimat zu sammeln - die dunkle und verleugnete Seite des Volkslebens.
"Es vögelt ein Deutscher eine Deutsche, beim Schankwirt in der Stube. Sie ruft ´O mein Gott! - enges Loch und großer Bube!´"
In den Dorfkneipen lockt Obratil mit Freibier für diejenigen, die seinen Sammlungen etwas hinzufügen können. Keine einfache Arbeit, wie er sich später erinnert:
"Ist es mir gelungen, den Text eines Liedes aufzuzeichnen - oft genug unter dem Tisch - so ist mir die Melodie entgangen, habe ich die Melodie notiert, so ist mir der Text entgangen, und häufig wollten die Leute dann das gleiche Lied nicht zum zweiten Mal singen. Zum Lob des anderen Geschlechtes muss ich anfügen, dass die Frauen sehr viel mitteilsamer und zugänglicher waren als die Männer und auch ein besseres Gedächtnis hatten."
"Im Arsch, da ist es duster, es gibt da keine Fenster. Wie sollte´s da auch hell sein, wenn´s keine Fenster gibt?"
Gewährsleute tragen Obratil Material aus der gesamten damaligen Tschechoslowakei zu, bis hin in die russinischen Gebiete der Karpatoukraine. Seine erotische Leidenschaft allerdings passt denkbar schlecht zu seinem Beruf - inzwischen ist er zum Schuldirektor avanciert, noch dazu in Uherske Hradiste, im katholischen Südmähren. Auf Dauer bleibt sein Steckenpferd nicht verborgen - für Obratils zahlreiche politische Gegner eine willkommene Gelegenheit, Skandal zu machen. Der Hinweis auf den wissenschaftlichen Charakter der Sammlung nutzt nichts. Obratil wird vorzeitig pensioniert. Der einzige Sohn hat sich bei einem Unglück selbst erschossen, seine Frau ist über den Schmerz geisteskrank geworden. Alles, was Obratil bleibt, ist seine Sammlung. Er zieht nach Prag und beginnt dort 1932, die Fundstücke aus der sexuellen Folklore der Tschechen herauszugeben - in kleiner Auflage als Privatdruck, um der Zensur zu entgehen. Der Titel: Kryptadia.
"Der Titel Kryptadia geht eigentlich auf eine andere Publikation zurück, die in den 1880er Jahren veröffentlich worden ist. Es ist ein griechisches Wort und bedeutet ´Die versteckten Dinge`. Die ursprünglichen Kryptadia hatten den gleichen Inhalt: unzensierte folkloristische Texte mit sexuellen Motiven. Es gab dann eine Folgezeitschrift dazu, die Anthropophyteia, in Wien herausgegeben von Friedrich Salomon Krauss, der ein Südslawist war. Die Inhalte sind also großenteils slawisch, und da fällt auf, dass der tschechische Teil sehr unterentwickelt ist. Das hängt damit zusammen, dass Obratil schon früh mit Krauss verabredet hatte, dass er seine Sammlung als eigenen Band, als Beiwerk zu den Anthropophyteia veröffentlicht. Das ist aber nicht mehr passiert, sondern er hat das selbst und dann eben unter dem Titel Kryptadia gemacht."
"In Vinohrady, da am Riegerpark, da sitzt ein leichtes Mädchen. Für drei Heller darfste kucken, für ´ne Krone auch was mehr."
Karel Jaroslav Obratil hat es gerade noch geschafft, die drei Bände seiner Kryptadia fertig zu stellen, bevor die deutschen Wehrmachtstruppen in Böhmen und Mähren einmarschierten. Unter Nazis und Kommunisten war dann auf Jahrzehnte kein Platz für Obratils Forschungen. Die Kryptadia gerieten in Vergessenheit - jedenfalls fast, berichtet Obratil-Forscher Franz Schindler:
"Als ich in Mähren in den Archiven gearbeitet habe, da haben immer wieder Leute gesagt, dass sie den Titel kennen. Einige Männer haben mir auch erzählt, dass bekannt war, dass in der Bibliothek in Roznov ein Exemplar liegt. Und angeblich sind viele Jugendliche, auch aus weiter entfernten Städten, da hingefahren, um sich das durchzulesen."
"Was haben die Frauen unterm Rock? Ein Sanatorium für harte Fälle! - Wie kriegt man einen impotenten Schwanz dazu, dass er steht? Einfach ins Lexikon klemmen - da steht alles!"
Im Jahr 2000, mehr als 60 Jahre nach der ursprünglichen Ausgabe, sind die Kryptadia neu erschienen. Diesmal haben sie ihr Publikum gefunden. Ein spätes Happy End, das in krassem Gegensatz steht zu dem Schicksal von Karel Jaroslav Obratil selbst. Er hat im hohen Alter nochmals seinen lebenslangen Kampf um Recht und Freiheit aufgenommen - diesmal gegen die deutschen Besatzer. Karel Jaroslav Obratil starb, fast 80-jährig, am 5. April 1945 in der Gestapo-Haft in Prag.
"Während des Protektorats hat er sich - mit voller Inbrunst für jemanden der damals bereits 70 Jahre alt war - in den Dienst des tschechischen Volkes gestellt. Er hat im politischen Untergrund mitgearbeitet, Gelder gesammelt für Hinterbliebene von Gestapo-Opfern, und ist letztlich auch im Gefängnis Pankrac in Gestapo-Haft gestorben. Das ist für mich etwas bewundernswertes - dass jemand noch in diesem Alter bis zum letzten geht und sein eigenes Leben in Gefahr bringt. Allein deshalb ist er ein wirklich bewundernswerter Mann!"