EU-Gipfel in Berlin, Raketenabwehr in Böhmen
Die Beziehungen Tschechiens zu seinen Nachbarn, seinen Bündnispartnern in EU und NATO sowie zu den USA geben derzeit genügend Anlass zur Debatte. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem zwei Themen: Das Ansinnen Washingtons, in Böhmen die Radaranlage eines Raketenabwehrsystems zu errichten, und der EU-Gipfel in Berlin, auf dem es unter anderem um die Zukunft der Europäischen Verfassung ging - auch wenn das Wort Verfassung in der Berliner Erklärung wohlweislich weggelassen wurde.
Der Gesichtsausdruck der deutschen Kanzlerin auf dem Foto ist nicht ganz leicht zu deuten. Angela Merkel steht neben dem tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus. Beide blicken einander an. Merkel hat den Mund weit geöffnet, vermutlich lacht sie. Aber eigentlich sieht es eher aus, als würde sie jemanden, der ihr gerade auf die Füße getreten ist, fragen, ob er nicht aufpassen kann.
Das Bild zierte am Montag die Titelseite der Tageszeitung Lidove noviny - Tag eins nach dem Berliner Gipfel, auf dem der fünfzigste Jahrestag der Römischen Verträge gefeiert wurde, und damit der Geburtstag der heutigen Europäischen Union. Im Begleittext heißt es:
"Die Spitzen der Europäischen Union unterschrieben auf dem Berliner Gipfel eine Erklärung, in der angedeutet wird, welche Richtung die EU künftig einschlagen soll. Zu den Kritikern dieser Erklärung gehörte auch Vaclav Klaus. Bei dem Gipfeltreffen aber traten die Streitigkeiten hinter die Feierlichkeiten zurück. Wenigstens so lange, bis die deutsche Kanzlerin Angela Merkel erklärte, die Europäische Verfassung wiederbeleben zu wollen."
Vielleicht sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die deutsche EU-Präsidentschaft damit einem Auftrag folgt, den sie bereits voriges Jahr vom Europäischen Rat bekommen hat. Bis zum Ende des deutschen Vorsitzes, also bis Juni 2007, soll demnach ein Fahrplan für die Schaffung eines neuen institutionellen Rahmens für die EU stehen. Dennoch wird die nun wieder aufkeimende Verfassungsdebatte in tschechischen Medien gerne als Projekt der deutschen Nachbarn gehandelt. So etwa schreibt die rechtsliberale Tageszeitung Lidove noviny am Mittwoch:
"Für ihre Leser ist die Berliner Erklärung ungefähr so aufregend wie die Bedienungsanleitung einer Waschmaschine. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass es sich nicht weiter lohnt, sich mit einer solchen Nebensächlichkeit zu beschäftigen. Aber Merkel ist es gelungen, am Ende des Textes die Verpflichtung unterzubringen, die Union bis zum Jahr 2009 auf eine neue gemeinsame Basis zu stellen. Aus dieser könnte recht bald eine Art Versprechen werden, die Europäische Verfassung anzunehmen, respektive etwas, das diesem bereits einmal abgelehnten Text sehr ähnlich ist."Der Kommentar schließt mit den Worten:
"Berlin weckt mit seinem derzeitigen Verhalten den Verdacht, dass es zum Bismarckschen Modell zurückkehrt, also zur Überzeugung, dass Deutschland am meisten Platz unter der europäischen Sonne zusteht - einfach deshalb, weil es am größten ist. Das ist sehr gut an dem Stil zu erkennen, mit dem die Bundesregierung den Ratsvorsitz führt und mit dem sie den Weg zu einer gemeinsamen Verfassung ebnet."
In einem Kommentar der linksliberalen Tageszeitung Pravo wird zunächst ähnliche Kritik geübt. Etwa daran, dass die Berliner Erklärung nicht von allen Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde, sondern nur von den Chefs der drei wichtigsten europäischen Institutionen, also von Rat, Kommission und EU-Parlament:
"Die Deutschen, die die Union derzeit anführen, konnten auf diese Weise - in der besten Tradition des (politischen) Blitzkriegs - die 'Widerstandsnester' in Prag und anderswo umgehen und schnell ihr Ziel durchsetzen: eine gemeinsame Erklärung, die das Streben nach einer stärkeren, effektiveren und weltweit einflussreicheren Union nicht verschleiert."Blitzkrieg und Widerstandsnester - nicht nur im Kontext der tschechisch-deutschen Diplomatie sind das provokante Reizworte. Dennoch kommt der Kommentator von Pravo am Ende zu einer ausgleichenden Schlussfolgerung:
"Tschechische Politiker geben nun damit an, dass einige Begriffe, die ihnen gegen den Strich gingen, in der Deklaration fehlen, und dass sie - seht her! - erfolgreich waren. Die eigentliche Bedeutung der Erklärung aber verschleiern sie damit. Denn auch wenn aus dem Text wirklich einige für Prag 'unannehmbare' Wörter verschwunden sind: Der 'noch weniger annehmbare' Gedanke eines starken Europa blieb in ihr enthalten und zieht sich durch den gesamten Text, vom Anfang bis zum Ende. Genau dieser Gedanke kann in den nächsten Monaten und Jahren die Union weit mehr motivieren als irgendwelche expliziten Erwähnungen der Europäischen Verfassung oder des 'europäischen Sozialmodells'. Einige Politiker, die in Berlin zusammengekommen sind, haben das offenbar verstanden - und sind mit der Erkenntnis von dort weggefahren, dass die EU-Verfassung derzeit schlicht und einfach auf der Tagesordnung steht."
Unter den Top-Themen im Kommentarteil der tschechischen Zeitungen fand sich diese Woche noch ein weiteres Thema der Außenpolitik: Die Radaranlage eines US-amerikanischen Raketenabwehrsystems, die, geht es nach dem Willen Washingtons, im böhmischen Brdy errichtet werden soll. Hintergrund: Die Entscheidung Prags, mit den USA in offizielle Verhandlungen über das international umstrittene Projekt zu treten. Stein des Anstoßes ist in erster Linie die Tatsache, dass es sich einstweilen um eine bilaterale Angelegenheit handelt, in der weder die Rolle der NATO noch die der EU geklärt ist. Die Tageszeitung Mlada fronta dnes schreibt dazu:
"Wir hören offene Drohungen russischer Generäle und nehmen auch den eher versteckten Druck deutscher und zuletzt auch österreichischer Diplomaten wahr. Das Ziel beider Seiten ist es, uns von einer Einigung mit den USA abzuraten."
Ein Rat, dem man laut Mlada fronta dnes jedoch nicht unbedingt folgen sollte:
"Es ist wohl keine Überraschung, dass die postkommunistischen Mitteleuropäer zur Entwicklung Europas eine andere Meinung haben und in den Diskussionen über die Zukunft gleichberechtigte Partner sein wollen. Daher müssen sie auch bei den Versuchen, ihr außenpolitisches Gewicht zu vergrößern, einen lauten Schrei aus Russland und leise, aber ebenso eindringliche Kritik aus Deutschland hinnehmen. Diese Kritik muss aber keinesfalls bedeuten, dass sich die tschechische Regierung auf einem falschen Weg befindet, der sie in die internationale Isolation führt."
Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Tschechinnen und Tschechen gegen die Radaranlage ist. Die Tageszeitung Pravo widmete sich am Donnerstag auch diesem innenpolitischen Aspekt und der Kommunikation mit den Bürgern.
"Die meisten Tschechen sind höfliche Leute. Sie haben verstanden, dass man mit einem Verbündeten über dessen Vorschlag zunächst verhandelt, und erst dann eine mündige Entscheidung trifft - vor allem wenn es um eine solch heikle Sache wie die Radaranlage in Brdy geht. In diesem Sinne ist die gestrige Entscheidung für die meisten Menschen wohl nachvollziehbar. (...) Aber man kann sich die Frage durch den Kopf gehen lassen, warum amerikanische Experten die künftige Baustelle vorbereiten sollen, noch bevor die tschechische Regierung die Verhandlungen abschließt und entscheidet, ob überhaupt - und wenn ja wo - diese Baustelle entstehen soll. Das nämlich erweckt den Eindruck, als ob diese Verhandlungen schon im Vorfeld entschieden seien - was bereits nach übertriebener Höflichkeit riecht."