Behinderte in Tschechien

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Jahrzehnte lang wurden Behinderte durch das kommunistische Regime systematisch von der Gesellschaft ferngehalten und in Anstalten weggesperrt. Als selbständige Individuen durften sie sich erst nach der politischen Wende von 1989 wieder fühlen. Wie lebt es sich heute als Behinderter in Tschechien? Durch ein neues Gesetz über Sozialdienstleistungen können pflegebedürftige Behinderte in Tschechien jetzt auch erstmals frei darüber entscheiden, welche Art von Pflege sie von wem in Anspruch nehmen wollen.

Vojtech Civak ist Deutschlehrer am Jedlicka-Institut für körperbehinderte Kinder und Jugendliche auf dem Prager Vysehrad. Ein sympathischer, lebensfroher Mann Mitte Dreißig, dessen linker Augapfel aufgrund einer starken Sehbehinderung in einem Fort hin- und herhüpft:

"Meine Erfahrung ist, dass man jetzt viel mehr über die Behindertenproblematik spricht - der Rundfunk, das Fernsehen. Man soll sich also nicht über Mangel an Informationen beschweren. Aber die Gesellschaft könnte toleranter sein - noch toleranter."

Vor 1989 hat Civak selbst eine Schule für Sehbehinderte besucht. Pflegeanstalten und Heime während des Kommunismus - ähnlich wie fast alle übrigen staatlichen Institutionen damals für viele Tschechen heute rückblickend ein purer Alptraum:

"Wenn ich jetzt daran zurückdenke, muss ich sagen, dass eine streng kollektive Erziehung herrschte: Alle Kinder dasselbe machen mussten, dasselbe mögen, man musste dasselbe sagen und man musste gleich wie die anderen denken. Wie kann man das erreichen? Nur mit strengem Regime. Also, der Tagesablauf war sehr streng."

Die tschechische Öffentlichkeit bekam vor 1989 von den Behinderten so gut wie gar nichts mit. Das Jedlicka-Instituts, wo Vojtech Civak heute arbeitet, illustriert diese gezielte Politik der Kommunisten in besonderem Maße. Es befindet sich in unmittelbarer Nähe des damaligen Kulturpalasts und wenn hier politische Sitzungen stattfanden, erhielt das Institut die Weisung, seine behinderten Zöglinge hinter verschlossenen Türen zu halten.


Die Metrostation Muzeum, wenige Meter vom zentralen Wenzelsplatz entfernt, einer der Hauptknotenpunkte im Prager Nahverkehr. Seit einiger Zeit gibt es hier einen Aufzug für Behinderte - ein Trend der letzten Jahre: immer mehr U-Bahn-Ausgänge lässt der Prager Magistrat behindertenfreundlich ausstatten, auch Niederflurbusse und eine erste Niederflurstraßenbahn gibt es bereits. Noch sind sie aber die großen Ausnahmen. Dennoch: Behinderte in Prag wissen sie zu schätzen und betonen die vielen Vorteile im Vergleich zu kleineren Städten und Dörfern. Die Prager Verkehrssituation - so behindertenunfreundlich sie im Vergleich etwa mit anderen europäischen Großstädten erscheinen mag: als wesentliches Problem wird sie von vielen Behinderten hier nicht wahrgenommen.

Das Hauptproblem für behinderte Menschen in Tschechien ist heute - wie überall in Europa - die hohe Arbeitslosigkeit. Mehr als 50 Prozent der arbeitsfähigen Behinderten sind heute ohne Beschäftigung, schätzt Vaclav Krasa, Vorsitzender des Nationalrats der behinderten Menschen in Tschechien. Hinzu kommt ein spezifisch tschechischer Trend:

"Wir haben festgestellt, dass sich in Tschechien in der letzten Zeit mit ziemlicher Vehemenz ein sonderbares Phänomen durchsetzt: eine Umgehung des Arbeitsgesetzes, das Firmen mit über 25 Mitarbeitern eine Behindertenquote von vier Prozent vorschreibt oder - alternativ - Behindertenwerkstätten mit über 50 Prozent behinderten Angestellten unterstützen, indem sie ihnen eine bestimmte Menge an Erzeugnissen abkaufen. Einige Arbeitgeber umgehen diese Bestimmung jetzt, indem sie sich über eine Behindertenwerkstatt Waren bei einer Drittfirma bestellen oder indem sie sogar Pseudo-Behindertenwerkstätten gründen. Das trägt natürlich in keiner Weise zur (Mehr-)Beschäftigung von Behinderten bei."

Hilfe bei dieser Praxis können die Firmen laut Krasa problemlos im Internet finden, wo einige Dienstleister offiziell Unterstützung beim Umgehen der Behindertenquote anbieten.

"Offenbar wollen sich viele Firmen immer noch nicht mit der Beschäftigung von Behinderten auseinandersetzen und zahlen ersatzweise lieber die entsprechende gesetzlich festgelegte Summe. Und dann gibt es immer noch dieses Misstrauen gegenüber Behinderten wie überhaupt gegen Minderheiten. Das ist Ausdruck eines gewissen Fremdenhasses."

Mit seinem neuen Projekt EQUAL will der Nationalrat der Behinderten Firmen jetzt über Möglichkeiten informieren, Behinderte zu beschäftigen. Und vor allem über die Vorteile, die das mit sich bringt, zum Beispiel Steuererleichterungen. Die gesetzlichen Regelungen in dieser Hinsicht sind nach Meinung von Vaclav Krasa durchaus zufrieden stellend, nur werden sie eben viel zu häufig ungestraft umgangen.

Mit einem neuen Gesetz über Sozialdienstleistungen, das kürzlich vom tschechischen Parlament verabschiedet wurde, können Behinderte in Tschechien künftig erstmals frei darüber entscheiden, wie und wo sie betreut werden wollen - ob in der Familie, in einem Heim oder von einem Pfleger. Das Gesetz sieht vor, dass je nach Schwere der Behinderung bis zu 370 Euro monatlich direkt an die Betroffenen ausgezahlt werden. Mit dem Geld können diese dann eigenverantwortlich wirtschaften. Ein entscheidender Durchbruch, meint Jana Hrda, die sich in der Prager Assoziation für Rollstuhlfahrer bei tschechischen Politikern seit Jahren für das Gesetz stark gemacht hat und selbst seit 1983 im Rollstuhl und wird von ihrer Familie betreut:

"Das ist ein guter Anfang für die Integration. Die Behinderten können jetzt selbst entscheiden, was sie möchten, wie sie ihre Situation lösen wollen. Das ist das Wichtigste für uns: dass wir zuhause bleiben können." Folge des neuen Gesetzes wird ihrer Meinung nach sein, dass es ein größeres Angebot an Pflegeleistungen von gemeinnützigen Organisationen geben wird und sich dadurch auch der Staat unter Druck gesetzt fühlt, mehr Pflegeleistungen anzubieten. Zwar habe die Regierung gleich nach der politischen Wende von 1989 damit begonnen, die individuelle Betreuung von Behinderten finanziell zu ermöglichen, erinnert Hrda:

"Aber das war kein regelmäßiges Geld, kam also nur einigen Behinderten zu Gute. Jetzt stehen diese Pflegeleistungen jedem offen, der sie benötigt."

Als wichtiges Signal empfindet auch Vojtech Civak vom Jedlicka-Institut das neue Gesetz über Sozialdienstleistungen:

"Die Tschechen sagen gerne, dass alles, was die Politiker machen, nicht ausreichend ist. Aber objektiv bedeutet dieses neue Gesetz wirklich viel für die Behinderten. Das Geld, das früher die Gemeinden an die Behindertenheime gaben, jetzt direkt an die Behinderten gehen. Das bedeutet, dass der Behinderte, der Ganztagsbetreuung braucht, jetzt nicht mehr in einer Anstalt leben muss, sondern zu Hause bleiben kann, in seinem Wohnort arbeiten und sich die notwendigen Betreuungsleistungen kaufen kann. Und das ist sehr wichtig."