Rübezahl - ein Europäer der allerersten Stunde
Generationen von tschechischen, deutschen und polnischen Kindern und Erwachsenen kennen ihn - Rübezahl, den Herrn des Riesengebirges. Wer dieser Berggeist eigentlich ist und wie lang es ihn schon gibt, berichtet Christian E. Rühmkorf.
Ein riesiger, fast schlacksiger Mann mit dunkelgrünem Umhang und einem langen grauen Bart taucht zwischen den sanften Ausläufern des Riesengebirges auf. Im Mund eine lange rauchende Pfeife, in der Hand einen Strauß rosafarbener Blümchen. Mühelos steigt er über die ihm zu Füßen liegenden Berge hinweg, verharrt einen Moment und streut dann die Blümchen ins Tal. Unter seiner gebieterischen Geste steigen sie, wundersam zu einem Schriftzug formiert, aus dem Tal wieder empor: "Krkonosska pohadka". Und jedes tschechoslowakische Kind weiß: Es ist Zeit für eine neue Folge der Märchen aus dem Riesengebirge, in denen der habsüchtige, geizige Trautenberg und sein unfolgsames Gefolge vom Berggeist an der Nase herumgeführt werden.
Wer heute ins Riesengebirge reist, muss auch nicht lange warten, bis er seinem mächtigen Herrscher begegnet. In der erstbesten Ortschaft wird dem Reisenden der geliebte, gefürchtete und sagenumwobene Berggeist entgegentreten. Als geschnitzter Pfeifenkopf, als Räuchermännchen oder bemalter Baumstumpf. Von bemalten Tellern, Tassen und Aschenbechern wird er den Reisenden mit mürrischen Augen aus dem Regal eines Souvenir-Ladens anstarren. Abends wird sich der müde Tourist im benachbarten Hotel-Restaurant "Rübezahls Garten" bei einem Bier das Rübezahl-Menü schmecken lassen. Dabei ist es egal, welcher Herkunft der Reisende ist oder in welchem Teil des Riesengebirges er sich aufhält. Der Herr der Berge wird sich ihm in seiner Landessprache vorstellen - als Rzepior, Krakonos oder eben: Rübezahl. Dieser Geist ist selbst ein ewiger Grenzgänger. Und er schert sich keinen Deut darum, ob er sein Wesen und Unwesen in Spindleruv Mlyn oder Spindlermühle, in Hirschberg oder Jelenia Gora treibt. Da ist er ganz Europäer!
Aber - ist Rübezahl nur eine Erfindung des tschechoslowakischen Fernsehens oder der Tourismus-Industrie? Viele Kinder glauben das. Erwachsene wissen, dass der Berggeist eine volkstümliche Sagengestalt ist. Aber nur wenigen ist bewusst, dass er schon in der Zeit der Renaissance kein Unbekannter war.Wie der Berggeist in den vergangenen Jahrhunderten aussah und was er trieb, das bestimmte seit jeher ein anderer Geist: der Zeitgeist. Bereits 1561 hatte der Breslauer Kartograph Martin Helwig eine sehr genaue Vorstellung, als er ihn auf seiner Landkarte des Riesengebirges in Kupfer stach: ein phantastisches Geschöpf mit Adlerkopf und Hirschgeweih, dem Rumpf und den Vordertatzen eines Löwen und den Hinterbeinen eines Bocks. Auch zwei Schwänze hatte das Ungetüm. Einen nach oben gerichteten Löwenschwanz und einen nach unten gerichteten Bockschwanz. Heute ist diese Zeichnung das Wahrzeichen des Bezirksmuseums in Hirschberg / Jelenia Gora in Polen.
Seine Gestalt wurde eine künstlerische Inspiration für viele Generationen von Schriftstellern und Künstlern. Mal die Urkräfte der Natur symbolisierend, mal romantisch-märchenhaft. Auch Moritz von Schwind, ein herausragender Künstler der deutschen Romantik, malte im Jahre 1828 diese Gestalt. Seine Vorstellung wurde von nun an Vorbild für viele malerische, graphische und plastische Darstellungen Rübezahls - heute kann man das Bild in der Schack-Galerie in München sehen.
Vom teuflisch aussehenden Ungetüm hat sich der Herr des Riesengebirges heute jedoch in einen sinnenden, in sich versunkenen langbärtigen Alten verwandelt, der mit einer groben Keule oder einem knorrigen Wanderstab in der Hand sein Riesenreich durchstreift. Auf tschechischer Seite wiederum sieht man ihn zumeist als gutmütigen Pfeifenraucher im Gefolge von Vögeln und Waldtieren, mit denen er in Freundschaft lebt. Was ihm der Volksmund gelassen hat, ist seine übermenschliche Größe von über zwei Metern.
Und wie sieht es in ihm aus? Ist Rübezahl gut oder böse? Auch was diese Frage betrifft hat der mächtige Zeitgeist ein Wörtchen mitzureden. Johannes Prätorius, der erste Sammler und Verfasser von Rübezahl-Geschichten, veröffentlicht 1662 seine "Daemonologia Ribunzalii Selisii". In der Geschichte "Rübezahl schwängert eine Obristin" beschreibt er einen vom 30-jährigen Krieg verrohten Rübezahl. Prätorius lässt ihn eine Offiziersgattin auf ihrem Weg nach Karlsbad in sein Schloss entführen, beköstigen und - schwängern:
"Wie sie vorher über Macht und Willen gegessen, also hatte sie itzund auch sich müssen in die Schlafkammer führen lassen, da sie die prächtigsten Betten und ein aus der Maßen fast königliches Nachtlager angetroffen, in welches sie sich geleget, und die ganze Nacht über wunderliche Grillen gemacht hat, weil sie aus großer Bestürzung nicht gewußt, wie ihr geschehen, wo sie wäre und wo ihre Leute logiereten. Hierauf war zur Mitternacht der kavalierische Rübezahl für ihr Bette gekommen, hatte seine Dienste präsentieret und sie teils bittlich, teils zwingend dahin bemächtigt, daß sie in seinen ehebrecherischen Willen sich hatte müssen ergeben: es soll ihr aber dabei alles sehr kalt vorgekommen sein, wie sie selber es nicht in Bedenken genommen hat, hernach über einer Tafel solches zu erzählen, bei Anwesenheit vieler hoher Offiziere. Wie endlich die Nacht schier vergangen, und es in die Morgendämmerung geraten, da soll der Kavalier abermal zu ihr gekommen sein, sie genötigt haben, aufzustehen, sich anzuziehen und nach ihren Leuten sich verschaffen zu lassen."
So übernatürlich Rübezahls Wesen auch war, zu barocker Zeit war auch er kein Kind von Traurigkeit und stürzte sich - ganz Mensch - in vielerlei Lustbarkeiten. So in einer weiteren Geschichte von Prätorius - "Rübezahl buhlet mit einem Weibe":
"Ein Kaufmannsweib in Schlesien hat es eine lange Zeit im Gebrauch gehabt, daß, wenn der Mann in seinem Handel und Geschäften über Land gereiset und abwesend war, sie einen besonderlichen Buhlen und Beischläfer pflegte einzulassen. Derowegen hat sich´s begeben, daß auf eine Zeit der Kaufmann abermal wegen seines Handels und Kaufmannschaft ferner über Land gezogen: da ist der Rübezahl in Gestalt ihres gewöhnlichen Buhlens bei Nacht zu ihr gekommen. Und als er nun der Wollust gnugsam gepflogen und sich wohl gesättiget, hat er des Morgens frühe einer Elster Gestalt an sich genommen, hat sich auf den Keller gesetzt und seine Beischläferin mit diesen Worten gesegnet: Dieser ist dein Buhle und Beischläfer gewesen. Und ist also in einem Hui, ehe er kaum ausgeredet, verschwunden und hernach niemals wieder zu ihr gekommen."
Ein gutes Jahrhundert später, im Jahre 1782, veröffentlicht Johannes Karl August Musäus seine fünf "Legenden von Rübezahl" und verhilft dem Riesen der Berge damit von der Volksliteratur in das Reich der Kunst. Ganz im klassischen Sinne seiner aufklärerischen Epoche verwebt Musäus die Rübezahl-Geschichten mit Elementen aus der antiken Mythologie. So lautet der spöttische Auftakt zur ersten Legende:
"Auf den oft und matt besungenen Sudeten, der Schlesier Parnaß, hauset in friedlicher Eintracht neben dem Apoll und den neun Musen der berufene Berggeist, Rübezahl genannt, der das Riesengebürg berühmter gemacht hat, als die Schlesischen Dichter allzumal."
Bekannt gemacht haben Musäus´ Geschichten den Berggeist übrigens auch in England und in Frankreich. Dort erschienen bereits 1791 und 1844 Übersetzungen in den Landessprachen.
Doch nicht nur Klassik und Aufklärung durchwehen Musäus´ Geschichten. Auch der Sturm und Drang des Genies Rübezahl fordert seinen Platz. Für den Satiriker Musäus wird der Berggeist geradezu zu einem Sinnbild des Stürmers und Drängers:
"Denn Freund Rübezahl ist geartet wie ein Kraftgenie, launisch, ungestüm, sonderbar; bengelhaft, roh, unbescheiden; stolz, eitel, wankelmütig, heute der wärmste Freund, morgen fremd und kalt; aber mit sich selbst in stetem Widerspruch; albern und weise, oft weich und hart in zween Augenblicken, wie das Ei, das in siedend Wasser fällt; schalkhaft und bieder, störrisch und beugsam; nach der Stimmung, wie ihn Humor und innerer Drang beim ersten Anblick jedes Ding ergreifen läßt."
Auch und gerade zur Zeit der Romantik stürzt man sich auf den Rübezahlstoff. Verarbeitet ihn in nahezu allen literarischen Gattungen, wie Gustav Jungbauer in seiner 1923 in Reichenberg veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchung der Rübezahlsage feststellt. Ob Drama, Lyrik, Roman oder Erzählung. Ob Deutsch, Tschechisch oder Polnisch. Selbst auf die Opernbühne hat der Prager Wilhelm Marsano Rübezahl zu Beginn des 19. Jahrhunderts verholfen.
"Viele Menschen wollen Rübezahls Gunst und Gnade erfahren haben. Noch mehrere seiner niederträchtigen Tollheiten und gemeingefährlichen Tücken", schreibt im Jahre 1918 kein geringerer als Carl Hauptmann, der Bruder Gerhart Hauptmanns. Das ist wohl auch, was von Rübezahls Geist die nächsten Jahrhunderte überdauern wird: sein schillernder Charakter.
Dass der Berggeist noch heute fasziniert und unsere Phantasie anregt, das bewiesen unlängst Jugendliche aus Polen, Tschechien und Deutschland. Im Jahre 1996 ist von der Wojewodschaftsbibliothek in Jelenia Gora und dem Bezirksmuseum in Szklarska Poreba mit Hilfe von Finanzmitteln der Euroregion "Nysa" ein literarisch-künsterlischer Wettbewerb für Jugendliche veranstaltet worden. Sein Thema: Der Berggeist Rübezahl - Rzepior - Krakonos.
War Rübezahl vielleicht - ohne dass einer es gemerkt hätte - ein Europäer der allerersten Stunde? Möglich. Sicher ist wohl nur, dass Rübezahls Reich keine Grenzen kennt - es ist die Phantasie.