Anni Kreisl, als Baby vertrieben: "Heute fühle ich mich als Pragerin!"

Anni Kreisl (Foto: Autor)

Anni Kreisl war wenige Monate alt, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihren beiden Schwestern nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde. Als Sudetendeutsche war sie zunächst auch in Deutschland nicht willkommen: Anni wuchs mit dem Gefühl auf, ein Flüchtling zu sein. Heute empfindet sie weder Bitterkeit, noch verspürt sie Lust, materielle Ansprüche zu stellen. Nach der Wende des Jahres 1989 erschloss sie sich ihre ehemalige Heimat auf ihre Art. Und die lässt sich etwa so beschreiben: Das Land erkunden, Kontakte knüpfen und - die Sprache lernen.

Anni Kreisl  (Foto: Autor)
Vor zwei Wochen haben wir an dieser Stelle ein Interview mit Jaroslava Moserova gebracht, einer tschechischen Expolitikerin, die sich in unserem Gespräch an ihr ehemaliges Kindermädchen erinnert hat. Dieses Kindermädchen war eine Sudetendeutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden ist. Heute haben wir Frau Anni Kreisl bei uns zu Gast. Frau Kreisl, Sie können zu diesem Thema ebenfalls etwas beitragen, allerdings aus einer anderen Perspektive. Sie gehörten nämlich selbst zu den Vertriebenen. Allerdings können Sie sich an diese Zeit wohl nicht mehr wirklich erinnern.

"Nein, nicht direkt. Ich war fünf Monate alt, als meine Familie vertrieben wurde. Ich bin im Dezember 1944 geboren, in einem ganz kleinen Dorf in Südmähren. Und 1945 mussten meine Mutter, meine Großmutter, meine Schwestern und ich das Land verlassen."

Wie hat sich das abgespielt? Was hat Ihnen Ihre Mutter davon erzählt?

"Es muss wohl sehr dramatisch gewesen sein. Es wurden sämtliche Bauern des Dorfes auf dem Marktplatz zusammengerufen, und dort wurde ihnen mitgeteilt, dass sie in einer halben Stunde das Land verlassen müssen. Sie können sich vorstellen, wie chaotisch es dann zuging. Man hat natürlich nicht gewusst, was man mitnehmen soll. Ich habe beispielsweise erst seit letztem Jahr eine Geburtsurkunde. Meine Mutter hat die Windeln vergessen. Sie musste dann immer eine Windel in irgendwelchen Dorfbrunnen auswaschen, an denen sie vorbeikam, und die andere flatterte am Kinderwagen. Und meine Großmutter: Die war eine sehr starke Frau. Sie hatte eine schöne kleine Uhr von ihrem Lieblingssohn bekommen, meinem Onkel, der später in der Tschechoslowakei gelebt hat, und diese Uhr musste mit. Das war ein richtiger Kampf! Meine Mutter hat natürlich gesagt, es ist viel zu gefährlich, die Uhr mitzunehmen. Denn sie wird uns weggenommen, und dabei wird es womöglich gewalttätig. Aber die Großmutter bestand darauf, und ich habe die Uhr dann unter meinem Kopfkissen transportiert. Sie steht heute in meinem Wohnzimmer."

Wie ist Ihr Weg verlaufen?

"Zunächst über Wien, wo ich damals Tanten hatte, bei denen wir längere Zeit verbracht haben. Danach ging es über diverse Lager die Donau aufwärts, bis ins Schwäbische."

Wir sprechen jetzt schon von einer Zeit, an die Sie aktive Erinnerungen haben. Wie haben Sie ihre Kindheit erlebt? Waren Sie sofort vollständig in die deutsche Gesellschaft integriert, oder haben Gefühle des Fremdseins Sie begleitet?

"Diese Gefühle waren sehr stark. Ich hatte schon das Bewusstsein, ein Flüchtling zu sein. Natürlich konnte ich sehr gut schwäbisch, aber zu Hause mit der Familie habe ich österreichisch gesprochen. In der Öffentlichkeit habe ich das aber vermieden. Dieses Nicht-Dazugehören, das hat mich eigentlich meine ganze Kindheit und Jugend hindurch begleitet."

Waren Sie während dieser Zeit auch neugierig auf Ihre frühere Heimat? Welches Bild hatten Sie von der Tschechoslowakei?

Tschechische Nationalflagge
"Als Kind habe ich mich nach dem Land überhaupt nicht gesehnt. Ich habe es erst im Jahr 1990 kennen gelernt, nach der Öffnung. Als ich dann aber die Berge gesehen habe, etwa den Grubenberg, von dem mein Vater immer gesprochen hat, und auch das Haus, in dem ich geboren bin, oder den Friedhof, auf dem es von der Familie mütterlicherseits überhaupt kein Grab mehr gibt - nur ein Opa ist noch da - da ist dann die andere Seite zum Sprechen gekommen. Das war schon ein starkes Erlebnis."

In den neunziger Jahren sind auch ganz andere Dinge zum Sprechen gekommen. Die Jahrzehnte lang herrschende Eiszeit wurde plötzlich aufgetaut. Bekanntlich hat das auch dazu geführt, dass von sudetendeutscher Seite plötzlich wieder Eigentumsansprüche laut wurden und umgekehrt in der tschechischen Bevölkerung wieder Ängste vor den Deutschen auftauchten. Wie sehen Sie das vor dem Hintergrund Ihrer Biografie?

"Ich muss sagen, da werde ich ein bisschen böse. Wir haben natürlich zu Beginn nach dem Krieg öfters mal Südmährertreffen besucht. Dort hat sich herausgestellt: Anfänglich hatten alle Schwierigkeiten. Das ist ganz klar, wenn man ohne Habseligkeiten in ein fremdes Land kommt. Aber man bekam ja Unterstützung, und die Leute waren arbeitsam. Ich weiß, dass es allen gut ging. Und wer jetzt nach Tschechien möchte, der kann das ja. Meine Tochter zum Beispiel ist Pferdewirtin. Ich fände die Idee wunderbar, wenn sie hier einen Pferdehof eröffnen würde und so in dieses Land zurückkehren würde. Denn auf diese Art und Weise kann man ja sein Heimatland auch wiedergewinnen."

Aber Sie haben Vorbehalte gegen Leute, die selbst vielleicht gar keine biografischen Bezüge zur Tschechischen Republik haben und nur über institutionelle Wege Eigentumsforderungen formulieren?

"Ja, das kann ja auch nur so sein. Dass ich einen Heimatbezug empfinde, ist bestimmt eine Besonderheit. Ich weiß, dass beispielsweise mein Cousin, der in Deutschland lebt, überhaupt keinen Bezug zu diesem Land hat. Vielleicht ist man neugierig, fährt mal hin, und denkt dann: Das ist doch ein ziemlich gottverlassenes altes Nest, ich bin froh, wenn ich wieder zu Hause bin. Ich glaube nicht, dass hier oft eine emotionale Bindung besteht."

Prag
Nun sind Sie ja ebenfalls gerade in Prag - und das nicht nur auf einen Wochenendbesuch.

"Ja, ich bin jetzt vier Monate hier, weil ich tschechisch lernen möchte. Ich habe noch zwei Cousinen in Prag, und es ist schwierig, sich zu verständigen. Deshalb habe ich begonnen, tschechisch zu lernen, und ich mache auch gehörige Fortschritte. Und ich muss wirklich sagen: Für mich ist das der Weg, meine Heimat wiederzugewinnen. Ich fühle mich jetzt tatsächlich als Pragerin!"

Sie haben Verwandte in der Tschechischen Republik, aufgrund der Kriegs- und Nachkriegsereignisse im vergangenen Jahrhundert haben Sie aber auch Verwandte in verschiedenen Teilen Deutschlands und Österreichs. Das heißt, Ihre Biografie macht Sie ja gewissermaßen automatisch zur Europäerin. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die europäische Integration?

"In der k. u. k. Monarchie war es ja üblich, dass man in die nächste Großstadt ging, wenn man auf dem Land nicht bleiben wollte. Das war bei uns natürlich zunächst mal Wien, wo zwei Tanten hingegangen sind. Eine andere Tante ging nach Prag und hat dort geheiratet. Ich denke, dass wir da wieder anknüpfen sollten. Diese Freiheit, diese Mobilität sollten wir wiedergewinnen. Zum Beispiel indem wir nach Prag oder nach Wien gehen und uns dort heimisch zu fühlen."