Rolle von Masaryk bei der Staatsgründung
Der Gründungstag der Tschechoslowakischen Republik, der 28. Oktober 1918, stellt eine der wichtigsten Zäsuren in der neueren tschechischen Geschichte dar. Obwohl gerade historische Erfolge meistens viele Väter haben, wird die Republikgründung immer noch fast ausschließlich mit der Person des Prager Philosophie-Professors Thomas Masaryk assoziiert, der später, nach seiner Rückkehr aus dem Exil auch deren erstes Staatsoberhaupt wurde. Mehr dazu von Robert Schuster.
Entspricht der Ruf von Masaryk den historischen Tatsachen, oder stellt er eine Verengung des ganzen Sachverhalts auf die markanteste Person der tschechischen Autonomie-Bewegung dar? Darüber unterhielten wir uns mit der Historikerin Martina Lustigova von der Prager Karlsuniversität:
"Hier gibt es die Legende, dass Tomas Garrigue Masaryk der Begründer des Staates war. Natürlich möchte ich nicht seine Verdienste in Frage stellen - er war eine wichtige Persönlichkeit im ausländischen Widerstand, aber es gab auch einen Widerstand im Inland. Hier arbeiteten z.B. Karel Kramar, Premysl Samal, oder Alois Rasin. Im Zusammenhang mit der Gründung der Tschechoslowakei müssen wir auch über diese Männer sprechen. In der ersten Republik gab es eine Legende vom Väterchen Masaryk, die sehr stark war. Die gegenwärtige Geschichtsschreibung hat keine Vorurteile mehr, die Historiker schreiben nicht mehr nur über Masaryk, sondern auch über Stribrny, Svehla. Es gibt aber nach wie vor sehr viele Bücher über Masaryk, aber nur sehr wenige über die übrigen Politiker dieser Zeit."
Als in den Novembertagen des Jahres 1989 die Marktplätze der Tschechoslowakei voll mit Menschen waren, die das Ende des kommunistischen Regimes forderten, hatten viele von ihnen auch ein Portrait Masaryks dabei. Sie hegten die Erwartung, dass nach dem Machtverzicht der Kommunisten das Land in seiner Entwicklung eben an die so genannte Erste Republik anknüpfen könnte. In wie weit haben sich diese ursprünglichen Erwartungen erfüllt, bzw. waren diese Hoffnungen überhaupt angebracht? Was ist vom einstigen Ethos der Ersten Republik in der Nach-Wende-Zeit übrig geblieben?
"Die erste Republik, das war die Realität des Jahrhundertanfangs. Diese Epoche endete im Jahr 1938. War es also möglich nach der Wende des Jahres 1989 hier anknüpfen zu wollen? Meiner Meinung ist das unmöglich. Viele Jahre lebten die Tschechen unter einem totalitären Regierungssystem. Wie kann man unter solchen Bedingungen einfach an die Zeit vorher anknüpfen? Die erste Republik wurde start idealisiert und immer wieder darauf hingewiesen, dass es eine parlamentarische Demokratie war, aber die Erste Republik hatte auch ihre Fehler, wie die große Korruption. Anfang der 90er Jahre wollten Viele das alles nicht sehen."
Der erste Präsident der Tschechoslowakei, Tomas Masaryk, war gleichzeitig auch der Typus eines Intellektuellen in der Politik. Was vielleicht im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts relativ oft zu sehen war, gilt in der heutigen Zeit eher als Ausnahme. Lässt sich heute unter Tschechiens Politikern jemand finden, der in dieser Hinsicht mit Masaryk verglichen werden könnte? Hören Sie dazu abschließend noch einmal die Historikerin Martina Lustigova:
"Masaryk war ein Intellektueller bevor er Politiker wurde, er war Philosoph, unterrichtete an der Universität, schrieb Bücher. Nach dem Jahr 1918 hatte er auch Respekt als Intellektueller. Aber haben wir heute, in der gegenwärtigen Politik auch Intellektuelle? Ja, die gibt es zwar, aber sie sind in kleinen marginalen Parteien vertreten, die fast keine Rolle spielen. Man spricht auch über Vaclav Klaus als einem Intellektuellen in der Politik, aber ich denke, dass das nur ein Wunsch ist. Vaclav Klaus möchte die Rolle spielen, er hat ein Seminar an der Hochschule, er schreibt viele Artikel, Bücher, usw. Alle kennen die Hauptideen von Tomas Garrigue Masaryk, aber wer kann heute etwas über das Denken des Präsidenten Klaus sagen? Wir kennen dessen Euroskeptizismus, aber nicht mehr."