Die improvisierte Staatsgründung

Octobre 1918 à Prague, photo: Archives de VHÚ
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Vor 100 Jahren wurde der erste eigenständige tschechoslowakische Staat ausgerufen. Von Anfang an war er als parlamentarische Demokratie geplant, zugleich erbte er das Minderheitenproblem von der früheren k. u. k. Monarchie. Im Folgenden mehr dazu, wie die Republik entstand und mit welchen Schwierigkeiten ihre Politiker am Anfang zu kämpfen hatten.

28. Oktober 1918 in Prag | Foto: Militärhistorisches Institut in Prag
„Der selbständige tschechoslowakische Staat tritt ins Leben. Damit an die bisherige Rechtsordnung angeknüpft werden kann, damit es nicht zu Wirren kommt und der Übergang zum neuen staatlichen Leben ungestört verläuft, ordnet der Nationalausschuss im Namen des tschechoslowakischen Volkes, des höchsten Souveräns, Folgendes an.“

So heißt es am 28. Oktober 1918 im ersten Gesetz, mit dem der demokratische tschechoslowakische Staat ausgerufen wird. Es folgen drei Punkte, mit denen die Ordnung bewahrt werden soll. Denn noch ist Krieg, und Wien hat weiterhin die Befehlsgewalt über das Militär in Prag.

Der Historiker Ivan Šedivý von der Prager Karlsuniversität betont allerdings, dass es eher zufällig genau an diesem Tag zur Staatsgründung gekommen ist:

Ivan Šedivý  (Foto: Šárka Ševčíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Die Entstehung der Tschechoslowakei umgibt bis heute eine geheimnisvolle Aura. Denn zum einen waren die wichtigsten politischen Anführer auf dem Weg zur Selbständigkeit zu diesem Zeitpunkt nach Genf verreist, dort trafen sie sich mit Gleichgesinnten aus dem Ausland. In Prag war also nur die zweite oder dritte Garde zurückgeblieben. Und zum anderen trafen sich diese Politiker eigentlich aus einem anderen Grund in Prag.“

Staatsgründer auf Reisen

Diese Männer wollen am Vormittag des 28. Oktober 1918 verhindern, dass weiterhin Lebensmittel – und vor allem Mehl – aus den böhmischen Ländern nach Österreich transportiert werden. Doch sie hören, dass Wien die Bedingungen des amerikanischen Präsidenten Wilson für Friedensverhandlungen akzeptiert hat. Die Menschen und die Presse in Böhmen und Mähren fassen dies sofort als Kapitulation der k. u. k. Monarchie auf. Und der tschechoslowakische Nationalausschuss habe dann spontan die Initiative ergriffen.

„Der Ausschuss hatte wohl schon einen Plan zur Machtübernahme ausgearbeitet. Seine Mitglieder erkannten, dass es nichts mehr abzuwarten gab. Sie kontaktieren also irgendwie den Statthalter der Monarchie in Prag und handelten eine friedliche Übergabe der Macht aus. Außerdem wandten sie sich an die Prager Armeeführung“, sagt Šedivý.

Wien  (Foto: Wikimedia Commons,  Public Domain)
Die Truppen bestehen vor allem aus Ungarn und Rumänen. Die haben aber angesichts der zerfallenden Donaumonarchie andere Sorgen als den Wiener Machterhalt in Prag. Und das obwohl in den Schubladen sogar ein Befehl liegt, um das Standrecht auszurufen. Theoretisch hätte es also auch zu einem Blutvergießen kommen können, meint Geschichtswissenschaftler Šedivý.

„Allerdings denke ich, dass die Haltung in Wien wichtig war. Und dort bestand kein Interesse mehr daran, um die Gebiete außerhalb der österreichischen Stammländer zu kämpfen. Man wollte eher die Lage in der Donaumetropole stabilisieren und dort einen blutigen Aufstand verhindern. Zwar kam es auch in Wien zur Revolution, aber ein großer Umsturz wie jener der Bolschewiki in Russland wurde vermieden. Man konzentrierte sich also auf die österreichischen Länder, und die militärischen Statthalter versuchten die Soldaten eher zu mäßigen.“

Kaiser Franz Josef  (Foto: Wikimedia Commons,  Public Domain)
Erst am folgenden Tag verbreitet sich die Nachricht von der Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik auch in Mähren. Es folgt die Slowakei und erst im November auch die Karpaten-Ukraine.

Deutsches Dominanzstreben

Die Idee eines eigenständigen Staates der Tschechen und Slowaken ist zu Ende des Ersten Weltkriegs allerdings noch jung. In der nationalen Erweckungsbewegung ab Mitte des 19. Jahrhunderts hätten erst einmal andere Vorstellungen vorgeherrscht, sagt Jaroslav Šebek vom Historischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften:

„Überlegungen zur Gründung eines eigenständigen Staates waren nur ein Randphänomen. Alle tschechischen Politiker des Mainstreams im 19. Jahrhundert und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gingen davon aus, dass Böhmen und Mähren Teile der Vielvölker-Monarchie bleiben würden. Nur verlangten sie mehr Rechte. Zudem sollte sich Kaiser Franz Josef auch zum böhmischen König krönen lassen. Dazu ist es aber nie gekommen.“

Doch der Ausbrauch des Ersten Weltkriegs verändert die Lage. Das hat auch mit dem Verhalten der gut drei Millionen deutschsprachigen Böhmen und Mähren zu tun, wie Šebek weiter ausführt.

Tomáš Garrigue Masaryk | Foto: Tschechisches Fernsehen
„Die Deutschen spekulierten damals auf eine dominantere Stellung auch in den böhmischen Ländern. Das führte bei den tschechischen Politikern zu einem Stimmungswandel. Außerdem spielten die Aktivitäten des späteren Staatsgründers Tomáš Garrigue Masaryk eine Rolle, er war bis zum Ersten Weltkrieg Abgeordneter im Reichsrat in Wien. Ab 1914 verhandelte er im Ausland über die Unterstützung eines tschechoslowakischen Staates“, so der Fachmann.

Masaryk wendet sich dafür an Politiker jener Staaten, die im Krieg gegen die Mittelmächte stehen – und damit auch gegen die k. u. k. Monarchie. In den USA öffnen sich die Türen für ihn unter anderem über seine amerikanische Frau. Doch anderswo braucht er ebenso Verbündete. Dabei helfen ihm der eher sozialistisch orientierte Edvard Beneš, damals ein junger Soziologe, und auch der slowakische General Milan Rastislav Štefánik.

Milan Rastislav Štefánik  (Foto: Wikimedia Commons,  Public Domain)
„Milan Rastislav Štefánik hatte Kontakte in die Salons des Adels und in französische Regierungskreise. Das ermöglichte, auch Masaryk mit den entsprechenden Ansprechpartnern bekannt zu machen. Dieser beginnt also, sich mit französischen und auch britischen Politikern zu treffen. Dann reist er in die USA, zudem verhandelt er in Russland. Auf diese Weise entstand der Boden dafür, dass die entscheidenden Mächte, die gegen Österreich-Ungarn und Deutschland kämpften, der Entstehung des tschechoslowakischen Staates zustimmten“, sagt Jaroslav Šebek.

Das allein reicht aber mitten im Krieg nicht. Masaryk hat für seine Idee auch noch ein sozusagen schlagendes Argument. Schon ab 1915 entstehen in Frankreich tschechoslowakische Legionen, dann später auch in Russland und Italien. Diese unterstützen die Armeen der Entente auf den Schlachtfeldern.

Degenerierte, verantwortungslose Dynastien

In der Endphase des Krieges wird die Frage immer wichtiger, wie denn ein neues Europa aussehen soll. US-Präsident Woodrow Wilson wünscht sich in erster Linie eine Demokratisierung in Europa. Speziell an der Idee einer Tschechoslowakei findet er Gefallen, da er schwache Staaten in Mitteleuropa möglichst vermeiden will. Bereits am 18. Oktober 1918 verfassen Masaryk, Štefánik und Beneš die sogenannte Deklaration von Washington. Es ist die Unabhängigkeitserklärung des tschechoslowakischen Volkes. Damit erteilen sie den Ideen des österreichischen Kaisers Karl I. vom 16. Oktober eine Absage. Der Herrscher hat in der Verzweiflung vorgeschlagen, die Monarchie in einen Bundesstaat umzuwandeln. Doch in der Erklärung von Washington schreiben die tschechischen und slowakischen Vertreter:

Erklärung von Washington
„Wir können und wollen nicht mehr unter der direkten oder indirekten Herrschaft jener leben, die Belgien, Frankreich und Serbien vergewaltigt haben und Mörder Russlands und Rumäniens seien wollten. Das sind die Mörder von mehreren Zehntausend Bürgern und Soldaten unseres Blutes und Mitschuldige an ungezählten, ungenannten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in diesem Krieg von diesen beiden degenerierten, verantwortungslosen Dynastien begangen wurden.“ (Übersetzung: Till Janzer)

Manche Historiker halten diese Unabhängigkeitserklärung des tschechoslowakischen Volkes im Übrigen für das entscheidende Dokument auf dem Weg zum eigenen Staat – und nicht die Proklamation zehn Tage später.

Der neue Staat der Tschechen und Slowaken entsteht allerdings auf einem Territorium, auf dem noch andere Völker leben. Auch die berufen sich auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, das US-Präsident Wilson unterstützt. Einen wirklich ausgearbeiteten Plan für die Lösung des Problems hat wohl auch Tomáš Garrigue Masaryk nicht. Historiker Šebek:

Jaroslav Šebek  (Foto: Dominika Bernáthová)
„Ich denke, seine Überlegung war, dass unter demokratischen Verhältnissen alles im Rahmen einer Debatte und im Dialog gelöst werden könnte. Masaryk nahm also an, dass nach Beruhigung der Lage die Ungarn und Deutschen ein Teil des Staates sein werden. Deswegen war er aber auch dafür, dass die Minderheiten – und vor allem die deutsche – weitreichende Rechte erhielten. Damit wollte er dem überspannten tschechischen Nationalismus entgegentreten.“

Die Realität sieht aber zunächst ganz anders aus, als am 28. Oktober 1918 der tschechoslowakische Staat ausgerufen wird.

„Man muss sagen: Das war ein Schock für die Deutschen. Sie hatten zuvor die Stellung des hegemonialen Volkes innegehabt, und nun waren sie eine Minderheit. Die deutschsprachigen Abgeordneten des Reichsrates in Wien schlossen sich daher am 30. Oktober zur Deutsch-Österreichischen Nationalversammlung zusammen. Sie gaben zu verstehen, dass sie dem Staat nicht angehören wollten. In der Folge entstanden vier separate Provinzen in den Grenzgebieten, die mehrheitlich deutsch besiedelt waren. Erst im Laufe des Dezembers 1918 bekam die neue tschechoslowakische Regierung die letzte dieser Provinzen unter ihre Kontrolle“, schildert der Historiker.

Schock für die Deutschen

Diese Kontrolle beruht zunächst meist auf militärische Präsenz. Immer wieder kommt es später aber auch zu zivilem Ungehorsam. Die größten Kundgebungen finden statt, als sich im März 1919 die Nationalversammlung Deutsch-Österreichs konstituiert – und das ohne die Abgeordneten aus Böhmen, Mähren und Österreich-Schlesien:

„Der schlimmste Moment in den tschechisch-deutschen Beziehungen kam am 4. März 1919. Da wurde bei Demonstrationen von Deutschböhmen an mehreren Orten das Feuer eröffnet. Die Folge waren über 50 tote Zivilisten“, so Šebek.

Der Schock darüber sitzt tief bei den Deutschen, obwohl die Verfassung dann letztlich weitreichende Minderheitenrechte garantiert. Im Vergleich zu anderen Staaten sei die Tschechoslowakei ziemlich liberal gewesen, betont Jaroslav Šebek.

Friedensverhandlungen in St. Germain  (Foto: Public Domain)
„Die deutsche Minderheit hatte zum Beispiel eigene Schulen und sogar eigene Universitäten. Sie konnte sich also auch intellektuell entfalten. Aber natürlich gab es genauso Probleme. Die entstanden unter anderem daraus, dass nicht viele Angehörige von Minderheiten im Staatsdienst beschäftigt waren. So dienten etwa auch in rein deutschen Gemeinden in den Grenzregionen tschechische Beamte, die nicht unbedingt die Sprache der Bewohner sprachen oder sie nur schlecht beherrschten. Vor allem aber waren es keine Deutschen. Das wurde in den 1930er Jahren dann zu einem der Steine des Anstoßes, als Hitler bereits an die Macht gekommen war und den Deutschen die Rückkehr zu nationaler Größe versprach.“

Während die ungelöste Nationalitätenfrage später zu einem Problem wird, geht es 1919 zunächst einmal um die Sicherung des tschechoslowakischen Staatsgebildes. Stichwort: Versailler Friedensverhandlungen.

„Erst bei den Friedensverhandlungen in Versailles, St. Germain und Trianon wurde der tschechoslowakische Staat definitiv anerkannt. In Versailles wird vereinbart, dass der Staat von Ungarn nicht nur die Slowakei erhält, sondern auch die Karpaten-Ukraine. Damit waren die Grenzen der Tschechoslowakei festgelegt“, bilanziert der Prager Geschichtswissenschaftler.

Der Vertrag von Trianon besiegelt die Abspaltungen aus dem Königreich Ungarn. Er wird am 4. Juni 1920 unterzeichnet.

Autor: Till Janzer
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