Kunstliebhaberin Sidonie Nádherná und Schloss Vrchotovy Janovice

Eingang zum Schloss in Vrchotovy Janovice (Foto: Dana Martinová)

In einer malerischen Landschaft, etwa 70 Kilometer südlich von Prag zwischen den Flüssen Moldau und Sázava (Sasau), befindet sich Městys Vrchotovy Janovice / Markt Janowitz. Die dortige Wasserfestung der Herren von Janowitz aus 14. Jahrhundert wurde später zum Schloss umgebaut, das sein Aussehen im Laufe der Jahrhunderte mehrmals veränderte. Der letzte große Umbau erfolgte Mitte des 19. Jahrhunderts, als das Schloss seine heutige neugotische Gestalt bekam. Im Jahre 1879 gelangte es in den Besitz der Adelsfamilie Nádherní von Borutin. Die letzte Besitzerin in dieser Reihe war Sidonie Nádherná. Ihr ist es zu verdanken, dass sich das Schloss tiefer in das Bewusstsein der Menschen einprägte.

Porträt von Sidonie Nádherná,  August 1917  (Foto: M. de Lalancy)

Sidonie Nádherná hauchte dem Schloss und dem anliegenden Park eine gewisse Harmonie und einen ungewöhnlichen Zauber ein, was eine ganze Reihe von bedeutenden Besuchern beeindruckte. Diese sind folglich nicht nur wegen des Schlosses und des Parks nach Vrchotovy Janovice gekommen. Es war vor allem die außergewöhnliche Aura, die Gastgeberin Sidonie ausstrahlte. Diese für ihre Zeit sehr emanzipierte und kultivierte Frau wurde am 1. Dezember 1885 geboren, und in wenigen Tagen, am 30. September, jährt sich zum 70. Mal ihr Todestag. Über ihr bewegtes und schicksalhaftes Leben kann die heutige Kastellanin des Schlosses, Ludmila Fiedlerová, viel erzählen. Zugleich revidiert sie einige der Irrtümer, die zu Sidonie Nádherná überliefert sind.

„Baronin Sidonie Nádherná von Borutín war die letzte Privatbesitzerin des Schlosses in Vrchotovy Janovice. In der Presse wird sie bis heute oft so charakterisiert, dass sie eine Mäzenin und Organisatorin des Kulturlebens gewesen sei. Diese Einschätzung entspricht aber nicht unbedingt der Wahrheit. Und ganz sicher findet sich diese Behauptung nicht im Buch der tschechisch-deutscher Schriftstellerin Alena Wagnerová, in Deutschland 2003 erschienen unter dem Titel „Das Leben der Sidonie Nádherný. Eine Biographie“. Eine Mäzenin im wahrsten Sinn des Wortes, dass sie als reiche und gebildete Adlige irgendwelche Künstler unterstützt hätte, war Sidonie wirklich nicht. Aber sie war gewiss sehr hilfsbereit gegenüber ihren Freunden. Sie war auch keine Organisatorin des kulturellen Lebens. Eher könnte man sie als ausgezeichnete Gastgeberin bezeichnen, die außer ihren Freunden auch bekannte interessante Leute nach Janowitz einlud. Diese wollte die Hausherrin näher kennenlernen. Als zweifellos begabte, gebildete, feinsinnige Dame mit großem Charme schuf sie auf Schloss Janowitz eine Welt, die für ihre Besucher überaus angenehm, anheimelnd und freundlich war. Die meisten Gäste kamen immer wieder gerne, und zwar ihretwegen. Und da reden wir über einen Zeitraum von 30 Jahren, und zwar von den 1910er bis 1940er Jahren.“

Harmonie mit Bruder Jan und Besuche von Rainer Maria Rilke

Porträt Sidonie Nádherná von Max Švabinský,  einem ihrer großen Verehrer | Foto: Archiv des Nationalmuseums in Prag,  CC BY 4.0 DEED

Sidonies Charakter und ihre Ansichten waren zweifellos davon geprägt, dass sie in einem harmonischen Umfeld aufwuchs. Leider starb ihr Vater Karel Nádherný schon 1895 im Alter von nicht ganz 46 Jahren an einer Lungenentzündung. Sidonie verstand sich sehr gut mit ihren beiden Brüdern, ihrem Zwilling Karel, aber vor allem mit Jan. Dieser eröffnete ihr den Zugang zur Bildung, denn als Adelstochter konnte beziehungsweise durfte sie eigentlich nicht studieren. Sie hatte eine Hauslehrerin, während Jan für sie Bücher mitbrachte und mit ihr über Literatur, Philosophie und Kunst diskutierte. Beide hatten gemeinsame Interessen, und als Jan bereits 1913 mit nur 29 Jahren starb, traf das seine Schwester schwer.

„Sidonie Nádherná zu charakterisieren ist relativ schwierig. Von daher ist es leicht, ohne tieferes Wissen ein verzerrtes Bild zu erhalten. Ich würde mich deshalb der Worte einer ihrer Besucherinnen bedienen. Die Rede ist von Anna Masaryková, der Nichte des tschechoslowakischen Staatsgründers Tomáš Garrigue Masaryk. In ihren Memoiren bemerkte sie: ‚Sidonie Nádherná war eine Adlige im wahrsten Sinne des Wortes und gleichzeitig eine moderne Dame des Jugendstils.‘ Ich würde ergänzen, dass sich diese zwei Welten in ihrer Person in gewissem Maße harmonisch vereinten, doch manchmal standen sie sich auch konträr gegenüber. Sie war ein Freigeist, der sein eigenes Leben führen wollte. Für eine Frau war das zu dieser Zeit nicht immer einfach, und so trug sie auch die Konsequenzen ihrer Entscheidungen. Manchmal nahm sie diese mit Fassung, manchmal war sie unglücklich darüber. Sidonie war sehr empathisch. Sie hörte ihren Freunden aufmerksam zu. Und sie hatte ein Gespür für die Natur. Das spiegelte sich darin wider, wie sie den Schlosspark pflegte. Ich selbst würde dies als das Hauptmerkmal bezeichnen, das von ihr hier zurückblieben ist. Wenn sie in ihrem Privatleben schwierige Zeiten durchlebte, war die Arbeit im Park zu einem gewissen Grad eine Art Zuflucht für sie. Sidonie ging die Dinge nicht nur theoretisch an, sondern sie arbeitete jeden Tag hart im Park. Das war speziell in den letzten Lebensjahren der Fall, was für eine Frau ihres Alters und ihres sozialen Status zu dieser Zeit nicht üblich war.“

Exponat der Ausstellung „Rilke,  Kraus und Vrchotovy Janovice“  (Foto: Dana Martinová)

Zu den bedeutenden Gästen, die nach Janowitz kamen, gehörte beispielsweise der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke. Aus den Briefen, die er seiner Frau Klára schrieb, wie auch aus der Korrespondenz mit Sidonie geht hervor, dass dieser Lyriker in Janowitz das Zuhause fand, das er ständig gesucht hatte.

„Sidonie traf erstmals 1906 mit Rilke zusammen. Damals reiste sie mit ihrer Mutter nach Westeuropa, unter anderem nach Frankreich. In Meudon besuchten sie den Bildhauer August Rodin, und in dessen Atelier arbeitete Rainer Maria Rilke als Sekretär. Ein Jahr später kam Rilke nach Prag, wo er eine Vorlesung hielt, die vom Concordia-Verein organisiert wurde. Hier machte er sich mit Jan Nádherný bekannt, der ihn nach Janowitz einlud. Rilke traf dort am 2. November ein und verbrachte einen Nachmittag auf dem Schloss. Auch wenn dies nur ein kurzer Besuch war, verfehlte er seine Wirkung nicht: Rilke behielt sein Leben lang die Szene im Gedächtnis, als die schöne Baronin Sidonie Nádherná von der Burgbrücke aus auf ihn zukam – mit einem roten Mantel über ihren Schultern. Der Dichter kam auch Ende des Jahres 1910 zu Besuch, um einige Wochen auf Schloss Janowitz zu verbringen, sowie 1911, als er Sidonie aber dort nicht antraf. Trotzdem verbrachte er schöne Momente im blühenden Schlosspark. Mit Rilke verstand sich Sidonie ähnlich gut wie mit ihrem Bruder Jan, und das nicht nur auf dem Gebiet der Kunst, sondern auch im privaten Leben. Beide trafen sich nicht nur in Janowitz, sondern an vielen Orten in Europa. Sidonie kannte auch Rilkes Frau Klára persönlich. Sie war eine Studentin von Rodin, in dessen Atelier später auch die berühmte Büste von Sidonie entstand. Dieses Kunstwerk ist bis heute auf Schloss Vrchotovy Janovice zu sehen.“

Schlossbibliothek - im Hintergrund der Reisekoffer und die Büste von Sidonie Nádherná,  die Klara Rilke schuf  (Foto: Dana Martinová)

Schicksalhafte Begegnung mit Dichter Karl Kraus

Steinerner Tisch im Schlosspark,  Lieblingsplatz von Karl Kraus  (Foto: Ludmila Fiedlerová)

Als Sidonie Nádherná 27 Jahre alt war, lernte sie im Wiener Café Imperial den österreichischen Schriftsteller, Dichter, Dramatiker und Literaturkritiker Karl Kraus kennen. Es war ein wahrhaft schicksalhaftes Treffen, denn es veränderte das Leben der beiden. Obgleich ihre Beziehung zueinander voller Wendungen, Trennungen und erneuter Annäherungen war, blieb Kraus für Sidonie der treueste Freund überhaupt. Und Sidonie war für Kraus viele Jahre lang eine von ihm bewunderte Muse und eine Inspirationsquelle. Das Buch mit seinen Briefen an Sidonie Nádherná, das 1974 im Münchner Verlag Kösel erschien, wurde zu einer literarischen Sensation.

„Karl Kraus lernte Sidonie am 8. September 1913 kennen, nur einige Monate nachdem ihr Bruder Jan gestorben war. Die Beziehung der beiden hielt bis zu Krauses Tod im Jahr 1936, auch wenn es einige Unterbrechungen gab. Gleich im November 1913 kam Kraus nach Janowitz, und danach fuhr er oft dorthin. Man kann sagen, dass Janowitz für ihn nicht nur ein Ort der Entspannung, der Zuflucht und Inspiration war, sondern auch der Platz, an dem er intensiv und konzentriert arbeitete. Aus den Erinnerungen der Schlossbediensteten wissen wir, dass Karl Kraus überwiegend in der Nacht arbeitete. Und wenn er draußen bei Tageslicht arbeiten wollte, dann setzte er sich im Park an einen Steintisch unter die Linden, die bis heute dort stehen, oder an das Ufer des Teiches. Er schrieb hier viele Artikel für seine Zeitschrift ‚Die Fackel‘, und ganz sicher verfasste er hier auch Teile seines berühmten Dramas ‚Die letzten Tage der Menschheit‘. Mit Janowitz verknüpft ist zudem ein Teil seiner Übersetzungen von Shakespeares Werken. Hier entstanden zudem seine Verse über Natur und Liebe, die Kraus in kleinen Notizbüchern unter dem Titel ‚Worte in Versen‘ veröffentlichte. Er gab insgesamt neun dieser Büchlein heraus, fünf davon widmete er Sidonie, und zwar sowohl in direkter als auch in verhüllter Form. Das zweite Heft der Reihe widmete er dem Schlosspark in Janowitz. Es gab viele Frauen, an die der Dichter seine Verse richtete. Ich kenne aber keinen anderen Park, der mit einer Gedichtsammlung bedacht wurde.“

Schloss Janowitz besetzten deutsche, sowjetische und tschechoslowakische Soldaten

Max von Thun-Hohenstein  (Quelle: Wikimedia Commons,  CC0)

Obwohl Sidonie Karl Kraus liebte, fügte sie sich dem Druck ihres Umfeldes und heiratete standesgemäß einen Adligen. Der Auserwählte war Graf Max von Thun-Hohenstein, die Ehe wurde im April 1920 geschlossen. Es war aber eine voreilige Wahl. Sie verbrachten nur ein paar Monate zusammen, und dann trennten sie sich für immer. Trost fand Sidonie wieder bei Kraus und ebenso auf Reisen. Seit einigen Jahren fuhr Sidonie bereits Auto, damit war sie eine der ersten Frauen in Böhmen. Nach dem Tod ihres Bruders Karl im Jahr 1931 übernahm sie die Verwaltung der gesamten Herrschaft. Aus der Korrespondenz, die sie mit ihren Angestellten führte, geht hervor, dass sie sehr praktisch und haushälterisch dachte. Doch alles, was sie an Janowitz so liebte, wurde ihr durch den Einmarsch Hitlers Mitte März 1939 genommen.

Tisch von Jan Nádherný,  einer der vielen poetischen Plätze im Schlosspark  (Foto: Dana Martinová)

„Man kann wirklich sagen, dass damit für Sidonie eine Welt zusammenbrach. Südlich von Prag wollte die deutsche Armee einen SS-Truppenübungsplatz einrichten. Die Bewohner der Region sollten nach und nach ausgesiedelt werden, die von Janowitz bis zum 1. April 1944. Sidonie versuchte, so lange wie möglich im Schloss auszuharren. Dabei half ihr der Kunsthistoriker Václav Wagner vom Denkmalschutzamt. Aber schließlich musste auch sie ihr Haus verlassen, Ende März 1944 zog sie dann auf einen nahegelegenen Gutshof in Voračice. Im Schloss residierte mittlerweile ein SS-Oberkommando. Die Wirtschaftsgebäude des Hofes wurden von den Nationalsozialisten unter anderem als Reparaturwerkstätte für Militärfahrzeuge genutzt. Und weil die SS für ihren Truppenübungsplatz Arbeitskräfte brauchten, richteten sie in Vrchotovy Janovice eine Niederlassung des Konzentrationslagers Flossenbürg ein. Sidonie wiederum konnte zum Glück das ganze Mobiliar des Schlosses mit nach Voračice nehmen. Sie lagerte es in einigen hunderten Kisten in einer Scheune. Selbst wohnte die Baronin dann einige Jahre lang in einem kleinen Haus ohne Wasser und Strom.“

Der weitläufige und wunderschöne Schlosspark  (Foto: Dana Martinová)

1945 wurden die deutschen Offiziere auf dem Schloss durch sowjetische Soldaten und später durch die tschechoslowakische Armee abgelöst. Sidonie durfte erst im Sommer 1946 dorthin zurückkehren, doch in dem sehr verwahrlosten Schloss konnte sie nicht wohnen. Deshalb zog sie in ein Haus in der Nachbarschaft. Ziemlich schnell musste sie aber feststellen, dass die Einwohner von Vrchotovy Janovice sie jetzt anders sahen als früher. Einige begegneten ihr ausgesprochen feindselig, als wäre sie eine Deutsche. Auch wenn sie sich vor der deutschen Okkupation zur tschechischen Nationalität bekannt hatte, war sie eine deutschsprachige Tschechin. Ihre zweite Sprache war Englisch, das sie in ihrer Kindheit erlernt hatte. Tschechisch verstand sie gut, doch sie hatte Probleme, sich in dieser Sprache über ein schwieriges Thema zu unterhalten. Sidonie Nádherná bemühte sich trotzdem um den Wiederaufbau des Schlosses. Als man ihren Beschützer Václav Wagner im Sommer 1949 verhaftete, begann auch sie um ihre Freiheit zu fürchten. Die Baronin entschied sich zu emigrieren. Als entwurzelter Mensch ging sie nach England. Bis zuletzt fühlte sie sich mit Janowitz verwachsen. Sidonie Nádherná war erst ein Jahr in dem fremden Land, dann offenbarte sich die Krankheit, die sie in sich trug. Am 30. September 1950 starb sie an Lungenkrebs.

Grab von Sidonie Nádherná auf dem Familienfriedhof im Schlosspark,  links. Rechts von ihr ist Bruder Karel begraben. Foto: Dana Martinová

„Nachdem das Schloss 1950 konfisziert wurde, folgte eine traurige Zeit. Das Anwesen wurde zunächst als Textillager und später vom Bezirksarchiv genutzt. Ende der 1950er Jahre wurde es durch das Prager Nationalmuseum vor dem Verfall gerettet. Aber erst nach langen Jahren, im Mai 1999, gelang es Freunden von Sidonie aus Tschechien, Österreich, Deutschland und England, einen Plan zu verwirklichen: Die sterblichen Überreste der Baronin wurden nach Janowitz überführt. So kehrte Sidonie nach 50 Jahren heim.“

Das Schloss ist seitdem schrittweise wiederhergerichtet worden und erstrahlt heute wieder in seinem früheren Glanz. Derzeit sind dort drei Ausstellungen zu sehen. Sie heißen: „Die Gesellschaft in Böhmen im 19. Jahrhundert“, „Rilke, Kraus und Vrchotovy Janovice“ sowie „Böhmische Glockengießerei“. Und natürlich lässt sich auch wieder durch den schönen Schlosspark schlendern.

Schlossteich mit dem Schloss im Hintergrund  (Foto: Dana Martinová)
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