Erst Schauspieltruppe, dann Nationaltheater: Die Anfänge des tschechischen Theaters
Mehr als 200 Jahre Theatergeschichte beschreibt eine neue Ausstellung im Prager Nationalmuseum. Sie erinnert an berühmte, aber auch inzwischen fast vergessene Persönlichkeiten des tschechischen Theaterlebens und zeigt, wie sich die Stellung von Schauspielern seit den Anfängen verändert hat. Die Schau trägt den Titel „Když hvězdy září“.
Die Anfänge des tschechischen Theaters liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei fahrenden Schauspieltruppen. Libor Vodička leitet die Theaterabteilung des Nationalmuseums und ist Kurator der neuen Ausstellung.
„Es waren vor allem deutschsprachige Schauspieltruppen, die damals in den Böhmischen Ländern auftraten. Sie hatten bemerkt, dass es hierzulande ein zahlkräftiges Publikum gibt. Dazu wussten die Theaterleute, dass einige Kollegen auch problemlos ihr Repertoire ins Tschechische übersetzen oder sogar Stücke auf Tschechisch schreiben konnten. Eine wichtige Persönlichkeit war in dieser Zeit Josef Kajetán Tyl. Er ist als Dramatiker und Verfasser des Textes der tschechischen Nationalhymne bekannt geworden. Aber weniger erwähnt wird, dass er zudem als Politiker agierte und vor allem Schauspieler, Übersetzer und Regisseur war.“
Das erste bedeutende Ensemble, mit dem Tyl zusammenarbeitete, war die Wanderbühne von Philipp Zöllner (1783-1863). Zöllner war Libor Vodička zufolge deutschsprachig. Das Theater hatte in seiner Familie eine lange Tradition, denn schon seine Vorfahren waren mit einer Schauspieltruppe umhergereist. Ab 1848 schloss sich Josef Kajetán Tyl (1808-1856) der Truppe von Zöllner an. Sie spielten vor allem in Westböhmen. Die Wanderbühne konzentrierte sich auf das tschechischsprachige Publikum. Der Kurator:
„Philipp Zöllners Frau, Eliška Zöllnerová (1822-1911, Anm. d. Red.), stammte aus Ungarn. Sie gilt jedoch als Urmutter des tschechischen Theaters. Nach dem Tod ihres Mannes übernahm sie die Leitung der Schauspieltruppe und leitete sie bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Bei Zöllnerová haben mehrere später berühmte Mitglieder des Schauspielensembles am Prager Nationaltheater ihre Karriere begonnen.“
Mythen um Dramatiker Josef Kajetán Tyl
Libor Vodička weist noch auf eine weitere Persönlichkeit hin, die damals eine wichtige Rolle im Theaterleben Böhmens spielte. Es war Anna Forchheimová-Rajská, die Mutter der Kinder von Josef Kajetán Tyl.
„Um Tyl ranken sich unterschiedliche Mythen. Sein Leben und Schaffen wurde von den tschechischen Patrioten im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts sowie später von den Kommunisten ihren Vorstellungen entsprechend gedeutet. Was ihnen nicht passte, wurde tabuisiert. Dazu gehörten Tyls Familienverhältnisse. Er lebte mit zwei Frauen zusammen, die Schwestern waren. Mit der älteren von ihnen – Magdalena – war er verheiratet, mit der jüngeren – Anna – hatte er Kinder. Die Kinder erzog jedoch die als Schauspielerin weniger erfolgreiche Magdalena. Für die damalige Gesellschaft war dies problematisch, darum wurde darüber eher geschwiegen. Tyl starb im Alter von 48 Jahren. Anna Rajská heiratete später einen Schauspielerkollegen, trat nicht mehr im Theater auf und kümmerte sich ganz um ihre Familie.“
Anna Rajská starb 1903 im Alter von 81 Jahren. Sie galt damals als die älteste tschechische Schauspielerin. Rajská wurde auf dem Nationalfriedhof auf dem Prager Vyšehrad bestattet.
Ein einflussreicher und bekannter tschechischer Schauspieler aus der Zeit von Josef Kajetán Tyl war Jan Kaška (1810-1869).
„Er war ein hochgebildeter Mann, übersetzte Theaterstücke für das Ständetheater und das sogenannte ‚Provisorische Theater‘ – also für den Vorgänger des Prager Nationaltheaters. Kaška war sehr modebewusst und wurde Chefgarderobier im Ständetheater. Viele Jahre lang schrieb er Artikel über Mode für die tschechische Illustrierte ,Kwěty české‘. In der Ausstellung zeigen wir Biedermeiermöbel aus dem Nachlass von Kaška. Des Weiteren sind hier Gegenstände zu sehen, die an die Schauspieltruppe Zöllner, an Anna Rajská und an Josef Kajetán Tyl erinnern. Seine Sachen wurden von der Familie Zöllner aufbewahrt, denn sie schätzte Tyl sehr.“
Die Ausstellung versucht dem Kurator zufolge, auf die Stellung der Theaterleute in der Gesellschaft sowie den politischen Kontext einzugehen:
„Im 19. Jahrhundert bedeutete Schauspielerei nicht, dass man eine gute gesellschaftliche Stellung innehatte und zu Geld kam. Damals bedeutete sie eher ein Leben am Rand der Gesellschaft. Oft galt es eher als Schande, wenn sich jemand einer Schauspieltruppe anschloss. Auch einige spätere Theaterstars wurden von ihren Eltern enterbt, als diese von ihrer Entscheidung erfuhren, Schauspieler zu werden. Wir dokumentieren das Theater in unserer Ausstellung als ein Kulturphänomen und erzählen zudem die Lebensgeschichten mehrerer früherer Stars, von denen viele mittlerweile vergessen sind. In einem weiteren Teil unserer Schau gehen wir auch auf das Thema der Kollaboration von Theaterleuten mit den jeweiligen politischen Regimes ein.“
In Deutschland erfolgreich – in Böhmen kritisiert
Nicht nur Fotos und Gegenstände aus dem Nachlass, sondern auch Büsten erinnern an Persönlichkeiten, die heute als größte Schauspieler ihrer Zeit gelten. Zu ihnen gehören Otýlie Sklenářová-Malá (1844-1912) und Jindřich Mošna (1837-1911). Der Kurator:
„Man muss betonen, dass beide in sehr unsicheren Zeiten Theater spielten. Die Bedingungen im Provisorischen Theater waren sehr hart vor dem Hintergrund schwieriger politischer Verhältnisse und engstirniger Bürger. Wegen der geringen Entlohnung verließen viele Schauspieler das Theater und gingen nach Deutschland. Später wurde ihnen dies jedoch vorgeworfen. So ging es beispielsweise dem Ehepaar Bittner. Jiří Bittner (1846-1903, Anm. d. Red.) war ein beliebter Darsteller von Heldentypen, seine Frau Marie (1854-1898, Anm. d. Red) machte der etwas älteren Otýlie Sklenářová-Malá Konkurrenz. Nachdem beide nach Deutschland gegangen waren, feierten sie Erfolge im Theater von Meiningen und anschließend auch in Berlin. Als sie nach Prag in das neu entstandene Nationaltheater zurückkehrten, hatte es vor allem Marie nicht einfach. Die Theaterkritiker schrieben, beide seien germanisiert worden, und bezeichneten sie als ,Abtrünnige‘. Marie wurde von der hiesigen Gesellschaft nicht mehr akzeptiert. Die Schauspielerin starb verhältnismäßig früh.“
Bittner und Mošna schrieben laut dem Kurator sehr interessante Memoiren, die sich auch heute noch gut lesen würden. In der Schau wird aus Mošnas Erinnerungen zitiert. Gezeigt werden zudem einige Gegenstände aus den Nachlässen mehrerer Schauspielerinnen. Libor Vodička macht auf den Schmuck und einen Fächer der Opernsängerin Eleonora Gayer von Ehrenberg (1832-1912) aufmerksam. Auf dem Fächer der Operndiva befinden sich die Unterschriften mehrerer Theaterkollegen. Die Sopranistin sang unter anderem 1868 die Titelrolle bei der Uraufführung von Smetanas Oper „Die verkaufte Braut“ in Prag.
In den tschechischen Theatern überwog bis Anfang des 20. Jahrhunderts noch ein romantischer Schauspielerstil mit vielen Deklamationen. Erst die neue Generation des Nationaltheaters habe mehr Realismus und psychologische Finesse mitgebracht, so der Experte:
„Die Generation von Hana Kvapilová, Marie Hübnerová und Eduard Vojan konnte sich in ihre Rollen sehr sensibel einfühlen. Alle mussten sich jedoch erste einmal gegen die Kritiker und das konservative Publikum durchsetzen. Die Theaterbesucher hatten kaum Sinn für ihre Schauspielkunst. Sie hielten es vielmehr für den Höhepunkt der Kunst, wenn ein Darsteller in schönem Tschechisch etwas rezitierte.“
Mehrere der damaligen Theaterstars wurden dem Experten zufolge in ihrer Heimat nicht akzeptiert. Dies galt vor allem für die Opernlegende Ema Destinová (1878-1930).
„Sie war bereits weltberühmt, als sie in die Heimat zurückkehrte. Doch das war zu Zeiten der k. u. k. Monarchie politisch unpassend. Sie wurde während des Ersten Weltkriegs der Spionage verdächtigt. Destinová war extravagant und selbstbewusst. Sie war damals schon so etwas wie ein Weltstar.“
Moderner Schauspielstil ersetzt Deklamationen
Hana Kvapilová galt um die Jahrhundertwende als die größte tschechische Schauspielerin. Ihre wichtigste Konkurrentin war Marie Pospíšilová (1862-1943). Der Kurator:
„Sie war sehr selbstbewusst und ambitiös. Wenn sie von den Theaterkritikern angegriffen wurde, hat sie mit ihnen polemisiert. Pospíšilová hatte es in Prag nicht leicht und entschied sich daher, nach Deutschland zu gehen. Als sie 1895 ans Prager Nationaltheater zurückkehren wollte, warfen ihr die Kritiker vor, sie sei eine Deutsche. Darauf zog sie wieder nach Deutschland, verdeutschte ihren Namen und wollte nichts mehr mit den Tschechen zu tun haben.“
Marie Pospischil spielte unter anderem am Theater in Hamburg und war auch Theaterdirektorin in Ústí nad Labem / Aussig. Der Dramatiker Vilém Mrštík (1863-1912) hielt Pospíšilová damals für die talentierteste tschechische Schauspielerin ihrer Zeit.
Einige Jahre lang dauerte es, bis sich der neue Schauspielerstil durchsetzte. Dabei halfen moderne Theaterstücke.
„Es war einfach unmöglich, beispielsweise Ibsens ‚Nora‘ im romantischen Stil aufzuführen. Das wussten die Schauspieler genauso wie die Dramatiker. Alois Jirásek, die Gebrüder Mrštík und Jaroslav Kvapil, der auch Regisseur war, schrieben Rollen für die neue Schauspielergeneration. Denn sie wussten, dass diese imstande war, solcherart Charaktere gut zu spielen.“
Die Ausstellung „Když hvězdy září“ (Als die Stars geglänzt haben) ist bis 30. September im neuen Gebäude des Nationalmuseums in Prag zu sehen. Das Museum ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Die Ausstellung ist zweisprachig – tschechisch und englisch.