„Selber schuld“ – das Prager Theaterfestival deutscher Sprache 2023 und die Welt, in der wir leben
Bereits zum 28. Mal werden in der tschechischen Hauptstadt die wichtigsten aktuellen Bühnenproduktionen aus dem deutschsprachigen Raum gezeigt. Beim Prager Theaterfestival deutscher Sprache sind daher zum Beispiel auch eine Inszenierung von Michael Thalheimer oder die deutsche Schauspielerin des Jahres 2023, Wiebke Mollenhauer, zu sehen. Der aktuelle Jahrgang wird am 4. November eröffnet und läuft fast einen Monat lang, konkret bis zum 3. Dezember. Verantwortlicher Leiter des Festivals ist Petr Štědroň. Diese Woche hat er das Programm vorgestellt. Nach der Pressekonferenz entstand folgendes Interview.
Herr Štědroň, das Prager Theaterfestival deutscher Sprache steht ja immer unter einem Motto. Dieses Jahr lautet es „Selber schuld“. Was bedeutet das?
„Das Motto zieht sich durch die ganze Dramaturgie der diesjährigen Ausgabe des Festivals. Das heißt, es wird die Welt gezeigt, in der wir leben. Die Frage ist dabei: Wer ist an der Lage schuld? Sind wir es selbst? Und in welchem Maße können wir das ändern? Damit meine ich die gewalttätigen Konflikte, die sich leider derzeit abspielen – und das nicht nur in Form von Kriegen, sondern auch in zwischenmenschlichen Beziehungen.“
Beim Blick durch das Programm ist mir aufgefallen, dass es viel um Traumata geht, aber auch um Krieg. Das ist teils ganz schön harte Kost. Machen Sie uns dennoch Lust auf die Inszenierungen zu diesem Thema…
„Natürlich ist das teilweise harte Kost. Auf der anderen Seite reagieren so die deutschsprachigen Theaterhäuser auf die Welt, die uns umgibt. Die Dramaturgie des zeitgenössischen deutschsprachigen Theaters ist immer sehr kommentierend in Bezug auf die aktuelle Lage der Welt. So ist das auch in diesem Fall. Aber niemand sollte Angst haben, es geht nicht nur um Trauer, sondern auch um Komik und vor allem um eine Reflektion zwischenmenschlicher Beziehungen und Gefühle.“
Vorhin bei der Pressekonferenz haben Sie gesagt, dass mit einer Inszenierung auch Wiebke Mollenhauer nach Prag kommt, die jetzt als beste deutschsprachige Schauspielerin 2023 ausgezeichnet wurde. In welchem Stück ist sie zu sehen?
„Es handelt sich um eine Produktion aus dem Schauspielhaus Zürich, also aus dem Bereich des Schweizer Theaters. Die Regie hatte der deutsche Regisseur Christoph Rüping, er ist eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des zeitgenössischen Regietheaters und wurde zum Beispiel mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Christoph Rüping arbeitet oft sehr gründlich mit Gestik und Mimik der Schauspieler, mit dem Darsteller an sich. Er konzentriert sich also auf die schauspielerische Leistung. Und so ist das auch in ‚Crave‘ oder ‚Gier‘, wie die Inszenierung heißt, die in Zürich nach einem Text von Sarah Kane entstand. Die Inszenierung ist wirklich sehr stark. Und die Jury der Zeitschrift ‚Theater heute‘ hat eindeutig Wiebke Mollenhauer, die Hauptdarstellerin in diesem Stück, zur Schauspielerin des Jahres erkoren.“
Auch in diesem Jahr wurde die beste tschechische Inszenierung eines in deutscher Sprache verfassten Textes mit dem Josef-Balvín-Preis ausgezeichnet. Sie wird jetzt im Rahmen des Festivals gezeigt. Dieses Mal ist es die Inszenierung von Lion Feuchtwangers Wartesaal-Trilogie. Was zeichnet sie aus?
„Vor allem handelt es sich um eine außerordentliche Leistung, diese drei dicken Romane auf die Bühne zu bringen. Die Inszenierung kommt aus dem Prager Theater Divadlo X10. Jeder einzelne Teil der Trilogie hat dabei eine besondere Handschrift des Regisseurs oder der Regisseurin. In zwei Fällen sind es Regisseurinnen, und zwar Tereza Říhová und Kamila Polívková, beim dritten Teil hat Ondřej Štefaňák die Regie geführt. Auch bei der Wartesaal-Trilogie hat sich die Dramaturgie am derzeitigen Zustand der Welt orientiert. Lion Feuchtwanger hat sehr hellseherisch die Genese des deutschen Nationalsozialismus charakterisiert. Und die Inszenierung im Divadlo X10 zeichnet dies auf sehr starke Weise nach.“
Alle drei Teile der Inszenierung sind ja zusammen sechs Stunden lang. Lohnt es sich denn auch, vielleicht nur eine oder zwei der Aufführungen anzuschauen?
„Man muss die Trilogie natürlich nicht komplett sehen, so wie auch Lion Feuchtwanger drei eigenständige Romane geschrieben und dann zu einer Trilogie verknüpft hat. Aber es lohnt sich schon, alle drei Teile zu sehen…“
Außerdem zeigen Sie eine weitere tschechische Theater-Produktion. Sie ist eine Hommage an den Gründer des Festivals, Pavel Kohout. Stellen Sie die Inszenierung doch einmal vor…
„Ja es ist eine Hommage an diesen Schriftsteller. Pavel Kohout ist im Juli 95 Jahre alt geworden, was unglaublich klingt. Aber er ist im Kopf absolut klar und gehört immer noch zu denjenigen, die die gesellschaftliche Lage in Tschechien regelmäßig kommentieren. Pavel Kohout hat das Festival 1996 gegründet. Und wir zeigen die Bearbeitung von einem seiner früheren Texte namens ‚Sex‘ auf der Bühne des Weinberger Theaters (Divadlo na Vinohradech, Anm. d. Rd.). Sex heißt jetzt nicht Geschlechtsverkehr, sondern bezieht sich auf die Zahl sechs. Das Stück wurde deswegen so benannt, weil darin Dissidenten aus kommunistischen Zeiten auftreten, und zwar Václav Havel, Ivan Klíma, Alexandr Kliment, Karel Kosík, Ludvík Vaculík und Pavel Kohout selbst.“
Gibt es unter den Aufführungen deutschsprachiger Bühnen beim Festival vielleicht eine oder zwei, die Sie besonders hervorheben wollen?
Das ist eine außerordentliche, fast choreographische Arbeit von Toshiki Okada, einem japanischen Theaterkünstler, der die Tradition des europäischen Theaters mit der seiner Heimat miteinander verbindet.
„Ich würde gerne ‚Doughnuts‘ aus dem Thalia Theater Hamburg erwähnen. Das ist eine außerordentliche, fast choreographische Arbeit von Toshiki Okada, einem japanischen Theaterkünstler, der die Tradition des europäischen Theaters mit der seiner Heimat miteinander verbindet. ‚Die Scham‘ wäre vielleicht noch zu nennen – eine Produktion aus dem Volkstheater Wien. Es ist die Bearbeitung einer Prosa von Annie Ernaux, in der Regie von Ed. Hauswirth – eine sehr starke und lebendige Inszenierung. Zudem würde ich noch ‚Im Herzen der Gewalt‘ empfehlen. Das ist eine Arbeit des Intendanten der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, und eine Adaption des gleichnamigen Romans von Edouard Louis.“
Sie haben zum zweiten Mal auch einen sogenannten Open Call gestartet. Dieser richtet sich an Theaterakademien in Deutschland. Welche der Schulen hat diesmal das große Los gezogen und darf sich beim Festival präsentieren?
„Diesmal ist es die Hamburger Hochschule für Musik und Theater mit der Inszenierung ‚Odysseus kauft sich ein Pferd‘. Dabei handelt es sich um die Arbeit einer frischgebackenen Absolventin der Hochschule namens Lena Reißner. Sie begibt sich auf die Spuren des Odysseus-Mythos und zeigt diesen aus weiblicher Perspektive. Dies ist zwar etwas vereinfacht gesagt, aber sie dekonstruiert den Mythos im Sinne von weiblicher und männlicher Perspektive – was also die Frauen und was die Männer so von Odysseus träumen.“
Und last but not least zeigt das Theaterfestival programmbegleitend auch immer eine Ausstellung. Was ist dieses Mal zu sehen?
„Diesmal zeichnet für die Ausstellung und den dazugehörigen Workshop Nina Wetzel verantwortlich. Sie ist eine wirklich weltweit bekannte deutsche Bühnen- und Kostümbildnerin. Nina Wetzel ist schon seit langem mit der Schaubühne in Berlin verbunden, aber auch mit der dortigen Volksbühne und vielen weiteren deutschsprachigen Theaterhäusern. Ebenso aber arbeitet sie mit der Comédie-Française und der Pariser Oper zusammen. Ihr Schaffen ist wirklich sehr breitgefächert, und Nina Wetzel hat zuletzt im Centre Pompidou und bei der documenta in Kassel ausgestellt. Diesmal wird sie im Prager Goethe-Institut und im Prager Divadlo na zábradlí, also dem Theater am Geländer, ihre Bühnenbildentwürfe und weitere Artefakte zeigen.“
Das Prager Theaterfestival deutscher Sprache beginnt am 4. November und läuft bis 3. Dezember. Der Kartenvorverkauf startet an diesem Samstag, 21. Oktober. Weitere Informationen zu den Karten und zum Programm unter www.theater.cz.