„Ich könnte es aufzeichnen“ – Vom Erinnern an Paulusbrunn
In Paulusbrunn / Pavlův Studenec an der böhmisch-bayerischen Grenze steht heute kein Haus mehr. Wie viele Ortschaften direkt am Eisernen Vorhang wurde der Ort vollständig zerstört und verschwand im Grenzstreifen. Fast 80 Jahre nach der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung lebt die Erinnerung dennoch weiter – dank engagierter Menschen beiderseits der Grenze und dank der Zeitzeugen, die das Paulusbrunn ihrer Kindheit noch im Kopf haben.
„Es ist schon komisch, so unwirklich. Man kann es sich nicht vorstellen. Wir saßen auf der Bank, und wenn ich hinüberschaue – unser Haus stand in der Nähe. Da ist nichts mehr. Da stehen jetzt Bäume.“
Emmi Rößler ist 88 Jahre alt. Seit 1946 lebt sie in der Kleinstadt Bärnau im Oberpfälzer Wald, direkt an der tschechischen Grenze. Ihre Kindheit verlebte sie nur ein paar Kilometer weiter östlich, in Paulusbrunn. Vor kurzem hat sie wieder einmal den Friedhof dort besucht. Die Häuser ringsherum gibt es nicht mehr.
„Aber ich könnte noch jedes Stückchen sagen: Das war hier, das war dort, so hat es ausgesehen. Wenn ich nur zeichnen könnte, doch ich kann es leider nicht. Ich bräuchte einen Computer, aus dem ich es rauslassen könnte“, so Rößler.
Die Dörfer der Gemeinde Paulusbrunn schmiegten sich unterhalb des Grenzkamms in die Hügellandschaft des Böhmischen Waldes. Heute hat sich die Natur längst das Terrain zurückerobert. Umgeben war die Gemeinde von dichten Wäldern, allesamt im Besitz der Familie Windisch-Grätz. Vorderpaulusbrunn war der größte Ort. Emmi Rößler:
„Da waren Geschäfte, einige schöne Wirtshäuser und eine Art Rathaus. Es gab ein Pfarrhaus, es gab Lehrer, ein eigenes Lehrerhaus, es war alles da. Arzt gab es keinen, da musste man nach Bärnau. Es hat schon manches gefehlt. Aber sonst war Paulusbrunn ein aufstrebender Ort.“
Emmi Rößler hat alles vor Augen, die Nachbarn, deren Häuser und Höfe…
„Gegenüber waren die Resnhahn, auf der anderen Seite die Wettinger. Über den Wettinger waren die Grüner, da wo der Dreckhaufen ist. Dann war die Straße, im Eckhaus waren die Kühlerer, dahinter Blommer. Neben Kühlerer hinauf waren die Muas, dann die Post und dann wir. Wir waren ein bisschen zurückgesetzt, davor war noch ein Garten und ein Einfamilienhaus. Ich könnte es aufzeichnen!“
„Können bitte alle Paulusbrunner mal die Hand heben?“
1939 hatte die Gemeinde Paulusbrunn im damaligen Bezirk Tachau über 1500 Einwohner. Die letzten Zeitzeugen von heute waren damals Kinder.
Oktober 2021. Im Schulhaus von Bärnau wird gefeiert: Nach vier Jahren präsentiert die Arbeitsgemeinschaft Paulusbrunn ihre Ergebnisse. „Können bitte alle Paulusbrunner mal die Hand heben?“, so die Frage. Es zeigt sich: Ein Dutzend ehemalige Bewohner sind gekommen. Rainer Christoph, Heimatforscher und früher Direktor der Hauptschule Bärnau, ist Vorsitzender der Arge Paulusbrunn:
„Es war uns ein Anliegen, den Ort wieder ein bisschen hervorzuholen. Und ich denke, es ist uns gelungen.“
Vor Gästen und Unterstützern der Initiative – wie dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und dem Adalbert-Stifter-Verein – referiert Rainer Christoph die geschichtlichen Hintergründe. Nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelte sich aus zehn Ortsteilen die Gemeinde und die Pfarrei Paulusbrunn.
„Vielfältig waren auch immer die Beziehungen zu Bärnau. Und die Bärnauer gingen ebenfalls gern hinauf, vor allem zum Feiern. In Bayern war nicht viel los, aber oben an der Grenze, da war was los. Da gab es Tanz und Musik. Zu Ostern ging man sogar hinauf zum Beichten, denn das war auf der böhmischen Seite wesentlich leichter“, so Christoph.
Eng verflochten war auch die Wirtschaft – in der Zwischenkriegszeit etwa pendelten aus der Tschechoslowakei um die 200 Paulusbrunner zur Arbeit in die Bärnauer Knopffabriken. Nach Kriegsende, als die Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei bereits erwartet wurde, flohen viele „schwarz“ über die Grenze. 1950 stammte rund ein Viertel der knapp 2000 Einwohner von Bärnau aus Paulusbrunn.
„Peter, Tanja, wo kommt ihr denn her? – ‚Wir kommen aus Paulusbrunn. Da hat meine Oma früher gewohnt.‘ – Paulusbrunn, was soll denn das sein? – ‚Was, du kennst Paulusbrunn nicht? Das ist ja eine echte Bildungslücke.‘“
Schüler aus Bärnau bringen die Spurensuche szenisch auf die Bühne. Auch Fachoberschulen und Gymnasien haben eigene Projekte zu Paulusbrunn auf die Beine gestellt, Ausstellungen und Publikationen entstanden. Rainer Christoph:
„Wir haben Kunstprojekte durchgeführt und sogar einen Geschichtswettbewerb mit Grundschulen, das Ergebnis wurde mit einem bayerischen Landessieg preisegekrönt. Diese Schüler waren dermaßen begeistert, drei hatten auch Eltern mit Vertreibungsschicksalen. Die haben das Schicksal ihrer Eltern zusätzlich aufgearbeitet und mir dann übergeben. Wir haben auch immer versucht, die Eltern mit einzubinden und dabei große Unterstützung bekommen.“
Renovierte Böttgersäule
Ihren Anfang nahm die AG mit der Renovierung der sogenannten Böttgersäule. Sie war das Zentrum von Paulusbrunn. Benannt ist sie nach Josef Carl Böttger, von 1885 bis 1896 Bezirksobmann in Tachau / Tachov. Er trieb den Bau einer Straße zwischen den Paulusbrunner Ortschaften voran und verbesserte den Lebensstandard in der zuvor ärmlichen Gegend. Die klassizistische Böttgersäule, die daran erinnert, blieb als eines von wenigen Relikten erhalten. Ihr Zustand war jedoch schlecht. 2017 initiierte die tschechische Gemeinde Obora die Renovierung und fand im Verein Goldene Straße einen Projektpartner auf deutscher Seite. Dana Lesak-Mueller ist Bürgermeisterin von Obora:
„Die Böttgersäule liegt auf dem Gebiet unserer Gemeinde Obora und gehörte historisch zu Thiergarten. Sie ist heute Teil des circa 16 Kilometer langen historischen Böttgerrundwegs von Hermannsreuth über den Friedhof Paulusbrunn zur Böttgersäule, zur Prinzfabrik und zurück. Im weiteren Teil des Projekts haben wir rund 25 Tafeln installiert, die über die Geschichte der Orte und Menschen vor 1945 wie auch danach informieren.“
Der heutige Böttgerrundweg führt auf bis zu 800 Meter Höhe – mit Aussicht auf die Mittelgebirge beiderseits der Grenze, etwa den Steinwald und den markanten Pfraumberg / Přimda. Fahrradfahrer und Wanderer sind ganzjährig unterwegs. Die Mitglieder der AG Paulusbrunn bieten Führungen an.
„Das ist übrigens diese renovierte Böttgersäule. Sie war schief und vermoost, Sie werden Einschüsse finden“, so Norbert Steinhauser, der regelmäßig Führungen auf dem Böttgerweg gibt.
Zweidimensionaler Zeitzeuge
Die Eltern von Steinhauser stammten aus dem Paulusbrunner Ortsteil Schanzhäuser. Nun steht er an der Böttgersäule, direkt an der Straße von Bärnau nach Tachov:
„Schauen Sie einmal hierher. Schauen Sie sich die Bilder hier an, dieser rote Punkt ist unsere Säule. Vergleichen Sie einmal den Verlauf des Böttgerwegs. Das heißt, der Weg ist unser zweidimensionaler Zeitzeuge. Wenn man wandert, ist quasi die gesamte tragische Geschichte enthalten, bis hin zum Nazi-Einmarsch. Ferdl, Zeitzeuge!“
Auch Ferdinand Zwerenz ist zur Böttgersäule gekommen. 1938, als Hitler mit dem Münchner Abkommen die – von den meisten Einheimischen stark erwünschte – Angliederung des „Sudetenlands“ ans Deutsche Reich erzwang, war er noch nicht geboren. Er kam 1939 zur Welt und lebte in Hinterpaulusbrunn. An die Vertreibung 1946 erinnert er sich gut:
„Von heute auf morgen kamen sie und sagten, morgen früh werdet ihr abgeholt.“
Wieviel Gepäck durftet ihr mitnehmen?
„30 Kilo. Wir mussten dann hierher und wurden von der Böttgersäule aus verladen auf Lastwagen bis nach Tachau.“
Nach einigen Wochen im dortigen Internierungslager kamen Ferdinand Zwerenz und seine Familie zunächst nach Magdeburg, in die Sowjetische Besatzungszone. Weil der Vater zuvor für eine Schmuckfabrik auf Bärnauer Gebiet gearbeitet hatte – die sogenannte Prinzfabrik, heute ebenfalls Teil des Rundwegs – durfte Familie Zwerenz nach Bayern umziehen.
„Der Vater hat in der Prinzfabrik an der Grenze gearbeitet. Da hat ihm die Chefin einen Zettel mitgegeben, sie braucht ihn wieder als Arbeiter, er bekommt die Wohnung und alles gestellt. Wir waren vielleicht drei Monate in der DDR, aber dann sind wir wieder in Bärnau angekommen.“
Zurück von der Führung auf dem Böttgerweg zu Emmi Rößler. Nach der Ankunft 1946 und mehreren Jahren in einer Flüchtlingsunterkunft bauten ihre Eltern in Bärnau das Haus, in dem sie bis heute lebt. Die Vertreibung sei schlimm gewesen, sagt sie.
„Aber ich bin froh, dass ich es damals anders empfunden habe – leichter. Als wir ausgesiedelt wurden, wäre ich gerne woanders hingekommen. Ich war ja damals elf Jahre alt. Dass wir nicht mehr zurückkommen, auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen.“
Ihre Familie hatte gute Startbedingungen, denn als Landwirte hatten sie bereits vor der Aussiedlung auch Felder auf der bayerischen Seite. Damit verloren sie nicht ihren kompletten Besitz. Emmi Rößler fiel die Eingewöhnung in Bärnau leicht:
„Ich kannte Bärnau ja schon, weil meine Tante hier wohnte. Und von Bärnau kamen viele nach Paulusbrunn. Als ich hier in Bärnau wieder in die Schule kam, kannte ich viele schon, die zuvor bei uns waren, zu Ostern zum Beispiel. Ich hatte keine Schwierigkeiten. Wir wurden auch nie als ‚Bejm‘ oder sowas bezeichnet, denn wir waren bekannt. Anderswo war es vielleicht schlimmer, aber ich hatte keine Schwierigkeiten.“
Von Rückkehr war bald nicht mehr die Rede. Vom Grenzkamm konnten die Paulusbrunner nur zusehen, wie ihre Häuser nach und nach verschwanden.
„Da war nichts mehr. Alles wurde abgerissen. Ich weiß noch, als einmal an Christi Himmelfahrt die Kirche gesprengt wurde. Das kann man nicht vergessen. Der Friedhof wurde eingeebnet, er war dann eine Wiese. Bei den Grüner, wenn man ins Wittichsthal runterfährt, war ein großer Erdhaufen. Das war der Dreck, der vom Friedhof runtergeschoben wurde. Und erst vor ein oder zwei Jahren hat jemand aus Bärnau den Grabstein meiner Großmutter gefunden“, erzählt Emmi Rößler.
Schöner Ort für einen Ausflug
Der Friedhof wurde schon Anfang der 1990er Jahre symbolisch wiederhergestellt – allerdings nicht in den früheren Ausmaßen. Er liegt auf der Nordroute des Böttgerwegs auf dem heutigen Gemeindegebiet von Halže / Hals. František Čurka ist dort Bürgermeister. Im Mai 2022 ist er wieder einmal nach Bärnau ins Rathaus gekommen – die AG Paulusbrunn präsentiert eine Broschüre zum Böttgerweg. Die Erneuerung des Friedhofs sei das Verdienst der Paulusbrunner in Bärnau gewesen, sagt Čurka:
„Damals ist es gelungen, finanzielle Mittel des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds zu gewinnen, und wir deckten die restlichen Kosten. Nachdem die Restaurierung und die Reinigung von unserer Seite aus beendet waren, übernahmen Bürger aus Hermannsreuth und Bärnau die Pflege. Sie kümmern sich um die Grabsteine, schneiden das Gras; es ist quasi ihr Denkmal.“
Zu den Kümmerern zählt auch Ferdinand Zwerenz mit seinen 82 Jahren. Sogar unter Corona-Zeiten wurde die grenzüberschreitende Pflege des Friedhofs irgendwie aufrechterhalten – es gebe schließlich keinen Eisernen Vorhang mehr, meint Bürgermeister Čurka. Zur Zielgruppe der neuen Broschüre, die zweisprachig erscheint, zählen auch die Einwohner seiner Gemeinde.
„Man kann in unserer Gemeinde die Leute an einer Hand abzählen, die sich erinnern, als in Paulusbrunn noch etwas stand. Die neue Generation der nach 1950 geborenen hat keine direkte, konkrete Erinnerung mehr. Diese Gemeinde wurde unmittelbar nach dem Krieg zerstört, und das Trauma war auf beiden Seiten – da gibt es nichts zu beschönigen. Heute sehen die Menschen darin eine Landschaft, die sie gerne besuchen, zum Radfahren oder Skifahren. Für sie ist es ein schön hergerichteter Ort, zu dem sich ein Spaziergang oder ein Ausflug lohnt“, so František Čurka.
Gut möglich, dass Ausflügler auf Emmi Rößler treffen. Sie plant schon wieder die nächsten Touren, die nach der Corona-Pandemie endlich wieder möglich sind. Oft ist sie am Grenzkamm mit ihrer Tochter im Auto unterwegs. Dann suchen die beiden gemeinsam nach Spuren von Paulusbrunn.
„Sie weiß es ja oft auch nicht, und ich bin dauernd am Erzählen – das wird das sein, das wird das sein – ja, wo geht es denn jetzt nach Hermannsreuth? Ich habe gesagt, wenn wir da weiterfahren, kommen wir nach Hermannsreuth. Da fahren wir mal, die Straße muss es doch noch geben, oder nicht? Ich weiß nicht, ob es die noch gibt – gibt es die nicht mehr?“
Der für Wanderer und Radfahrer ausgeschilderte Böttgerrundweg mit zahlreichen Informationstafeln beginnt auf dem Parkplatz direkt hinter dem Grenzübergang Bärnau / Pavlův Studenec, weitere Einstiege sind aber auch in Hermannsreuth oder direkt bei der Böttgersäule möglich. Die neue Broschüre mit Informationen zu den einzelnen Stationen gibt es unter anderem bei der Tourist-Info Bärnau und Weiden sowie in Tachov, Halže und Obora.
Aktuelle Informationen und Kontakte zur Arbeitsgemeinschaft Paulusbrunn finden sich unter https://www.facebook.com/Paulusbrunn sowie www.goldene-strasse.de.