Filmexpertin: „Wir leben immer noch auf zwei getrennten Planeten – in West- und in Osteuropa“
Das 57. Internationale Filmfestival in Karlovy Vary / Karlsbad erreicht am Samstagabend mit der Preisverleihung seinen Höhepunkt. Die Preise werden im Hauptwettbewerb sowie im sogenannten Proxima-Wettbewerb vergeben. Jury-Mitglied bei Letztgenanntem ist auch Barbara Wurm. Die Slawistin und Osteuropafilm-Expertin ist an der Humboldt-Universität in Berlin tätig. Wurm übernimmt bald die Leitung der Sektion Forum bei der Berlinale, in der Vergangenheit war sie unter anderem beim Festival des mittel- und osteuropäischen Films goEast in Wiesbaden und bei DOK Leipzig tätig. RPI hat mit ihr über das Phänomen Osteuropa-Film, über die Rolle des Festivals in Karlsbad und über die Zukunft des Kinos gesprochen.
Frau Wurm, wir treffen uns beim Filmfestival in Karlsbad, und Sie sind als Jury-Mitglied hier. Und zwar in der Jury der Sektion Proxima, die erst im vergangenen Jahr ins Leben gerufen wurde. Was charakterisiert diese Sektion?
„Die Sektion möchte junge Leute in den Vordergrund holen, neue Stimmen – ich glaube auch sehr frische und mutige. In der Beschreibung liest man aber natürlich, dass es kein Ausschlusskriterium gibt für schon etwas etabliertere Regisseurinnen und Regisseure. Ich glaube, dass es in Proxima den Versuch gibt, eben neue Film-Stilistiken, neue Ästhetiken, also nicht so traditionelle und etablierte Genres, sondern neue Stimmen zu bringen.“
Was kann man sich darunter vorstellen, wie kann eine solche neue Stimme aussehen?
„Zumindest aufgrund der Filme, die ich bisher gesehen habe, gibt es erstens den Versuch, die weibliche Perspektive abzubilden. Das Thema im zweiten Film war ganz klar Diversity und einfach eine große gesellschaftspolitische Frage. Im Zentrum steht nämlich, dass es selbst da, wo wir glauben, in diversen und aufgeschlossenen Gesellschaften zu leben, wahnsinnig tiefsitzende Rassismen und Xenophobien gebe sowie Vorurteile, wie ein junger Mensch seinen professionellen Werdegang machen muss.“
Phänomen ostmitteleuropäischer Film
Der Proxima-Wettbewerb hat eine Sektion ersetzt, die lange Jahre für das Filmfestival in Karlsbad kennzeichnend war – und zwar „Östlich vom Westen“. Ist das Ihrer Meinung nach schade?
„Ich glaube, dass die Festivals immer ihre internationale Perspektive haben, aber auch eine regionale. Ja, für mich persönlich ist es schade, weil ich eben dieses Osteuropa- oder Ostmitteleuropa-Interesse habe, aber es geht nicht nur um mich persönlich. Ich kann ziemlich gut verstehen, dass die Festivals, die in Mittel- und Osteuropa stattfinden, alles versuchen werden, um ihre internationale Öffnung auf eine andere Weise zu betreiben. Aber ich glaube, dass dies tatsächlich eine gewisse Lücke in den internationalen Circuit für ost- und mitteleuropäische Filme reißen wird. So denke ich zum Beispiel, dass wir das etwa in Berlin, wo ich jetzt bald als Leiterin des Forums der Berlinale anfange, wieder stärker machen sollten. Denn wir leben immer noch auf zwei getrennten Planeten: in West- und in Osteuropa.“
Glauben Sie, dass der osteuropäische Film beziehungsweise ostmitteleuropäische Film nicht nur eine geographische Bezeichnung ist, sondern wirklich ein Phänomen, das gemeinsame Züge trägt?
„Ich denke nicht unbedingt daran, dass es so etwas gibt wie ein kulturelles Abbild oder Mentalitätsabbild. Aber es gibt ein starkes Bedürfnis, dass Filme entstehen, die eben auch über Aktualitäten erzählen. Und eine der wichtigsten Aktualitäten ist immer noch, auch 30 Jahre nach der Wende, dass es einfach für viele Menschen ein Überlebenskampf ist, weil sie auf der Suche nach Jobs und nach Geld sind. Das ist zum Beispiel einer der Züge, der immer wiederkehrt. Und das andere ist die jetzt wieder aktualisierte Kriegserfahrung. Es ist wahnsinnig viel politisch in Bewegung, und das wird sich auch in den Filmen zeigen.“
Das Kino hat sich verändert
Sie sagen, das Kino habe sich verändert. In welchem Sinne?
„Es gibt auf der einen Seite eine riesige Etablierung von professionellen Marktmechanismen. Damit ist nicht gemeint, dass alles schlecht wird oder alles nur Verkaufsware ist. Diese Professionalisierung führt für ganz viele Leute gerade auch aus den nicht privilegierten Ländern dazu, dass sie Filme machen können. Aber es gibt einen großen Koproduktionstrend, der die Diversifizierung in ein Ungleichgewicht legt, bei dem die Geldgeber auf der schwereren Waagschale liegen. Das Kino hat sich verändert, was das Publikum betrifft. Die jüngeren Leute sind immer schwerer bei der Stange zu halten, weil sie mit anderen Bildkulturen aufwachsen. Streaming ist das Hauptthema. Es gibt kaum noch verlässliche Kinos, in denen man 35-Millimeter-Filme zeigen kann. Der Analogfilm ist also so gut wie tot. Es wird immer schwieriger, diese Community zusammenzuhalten. Das hat auch dazu geführt, dass viele ins Lamentieren, ins Jammern rutschen, die alten Zeiten seien viel besser gewesen. Das glaube ich gar nicht unbedingt, aber es war überschaubarer, und man war wahrscheinlich bescheidener. Ein Großteil unserer Arbeit besteht auch darin, uns vor der Datenflut zu schützen. Wir müssen aus wahnsinnig vielen Filmen, die produziert werden, ein paar wenige auswählen, die Aufmerksamkeit verdienen.“
Besuchen sie öfters das Festival in Karlsbad?
„Ich bin wahrscheinlich die einzige sogenannte Osteuropafilm-Expertin, die bisher noch nie in Karlovy Vary war. Das hat eher andere Gründe, weil ich auch an der Universität bin und das einfach ein schlechter Zeitraum ist. Aber umso größer ist jetzt die Freude.“
Und welche Eindrücke haben Sie nach den ersten Tagen?
„Na ja, Karlovy Vary ist ein Ort, der nicht ganz unbeschrieben ist. Weil ich Russisch studiert habe, habe ich viel stärker erwartet, dass ich auf der Straße auch Russisch sprechen werde. Das ist aktuell nicht mehr so der Fall. Jetzt muss ich mein Tschechisch, das eingerostet ist, wieder auspacken. Die Stadt ist aus vielen Gründen superinteressant. Ich komme aus Österreich, und sie hat kulturell-historische Beziehung zu vielem, was ich kenne. Es ist also nicht ganz neu für mich. Was mir schon auffällt, ist diese extreme Event-Kultur und Entertainment-Kultur. Das schneidet sich stark mit dem Tourismusanspruch, den viele Städte haben, die überleben wollen. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch, dass es zum Beispiel ein Filmfestival ist, das richtig viel Geld hat, weil es ein super Sponsoring macht. Auch das ist sehr eindrucksvoll.“