Journalistin Kurmaschewa: Zehn Monate Haft in Russland, ohne die Gründe zu kennen
2024 waren in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks mehrere Tausend Interviews zu hören. Eines der wichtigsten wurde im November ausgestrahlt. Zu Besuch im Studio war Alsu Kurmaschewa. Die Journalistin hat die russische sowie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und arbeitet seit langem bei Radio Free Europe in Prag. Als sie 2023 in Russland als angebliche „ausländische Agentin“ verhaftet wurde, rief das internationale Proteste hervor. Rund zehn Monate saß sie im Gefängnis – bis sie am 1. August 2024 im Rahmen des großen Häftlingsaustauschs freikam, den vor allem die USA und Deutschland in Vermittlung der Türkei mit Russland ausgehandelt hatten.
Als Alsu Kurmaschewa am 11. November ins Studio des Tschechischen Rundfunks kam, war sie seit mehr als drei Monaten in Freiheit. Auf die Frage, wie es ihr gehe, antwortete die 48-Jährige:
„Ich fühle mich jetzt in Sicherheit. Das ist das Wichtigste für mich. Und ich bin in Freiheit. Das empfinde ich so, wie ich es sage. Ich habe die Freiheit, morgens aufzustehen, wann ich möchte, und rauszugehen, mit wem oder wann ich will. Wenn ich dann zurück nach Hause komme, kann ich die Tür selbst öffnen und schließen. Dies alles hat Sinn. Normalerweise denkt man darüber nicht nach. Aber für mich ist es nun ganz grundlegend. Auch ein Telefon zu haben, bedeutet eine große Freiheit – ebenso wie die Möglichkeit, es auszuschalten.“
Die Journalistin hielt sich gerade privat bei ihrer Mutter in Russland auf, als sie bei ihrer Rückreise am 2. Juni 2023 auf dem Flughafen in Moskau verhaftet wurde. Die Behörden warfen ihr vor, sie hätte bei der Einreise ihren US-amerikanischen Pass nicht registrieren lassen. Weil ihr dieser und auch der russische nun abgenommen wurden, konnte sie das Land nicht verlassen und musste bei ihrer Mutter auf die weiteren Entscheidungen warten. Sie wisse inzwischen, so Kurmaschewa im Interview, dass diese Zeit von den Behörden genutzt worden sei, um weitere falsche Beweise gegen sie zusammenzutragen…
„In den fünf Monaten, die ich zu Hause auf die erste Anklage gewartet habe, empfand ich riesige Angst und Unsicherheit. Ich wusste, dass es vielleicht nicht gut ausgeht. Ich dachte zwar daran, dass sie mir wohl lange nicht erlauben werden auszureisen. Aber ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, dass ich in Haft komme.“
Diese begann für Kurmaschewa am 18. Oktober 2023. Eine in Aussicht gestellte Entlassung wurde immer wieder um zwei Monate verschoben – so auch nach der ersten Gerichtsverhandlung am 1. Dezember. Bei dieser habe ihr Anwalt ihr eine wichtige Mitteilung gemacht, berichtet die Journalistin: nämlich dass die Menschenrechtsorganisation Memorial sie als politische Gefangene eingestuft habe.
Die russische NGO Memorial kann seit 2022 nicht mehr in ihrem angestammten Land tätig sein und agiert derzeit durch mehrere internationale Niederlassungen, unter anderem in Tschechien. Die Kategorisierung als politische Gefangene habe ihren Anwälten sehr bei der Verhandlung ihrer Freilassung geholfen, sagt Kurmaschewa und beschreibt, welche unmittelbaren Folgen diese öffentliche Mitteilung für sie selbst hatte:
„Als ich ins Gefängnis zurückkam, gaben sie mir sofort eine andere Zelle mit schlechteren Bedingungen. Ich weiß zwar nicht, ob das mit der Kategorisierung als politische Gefangene zusammenhing, aber das war egal. Nun spürte ich, dass ich mir mein Leben in Haft organisieren musste. In dieser Zeit habe ich noch intensiver Joga und Meditation gemacht und gebetet. Ich begann, viel zu lesen – aber nicht, um mir die Zeit zu vertreiben, sondern ich wollte sinnvolle Lektüre. Ich hatte keinen Zutritt zur Bibliothek, weil ich in Isolation war. Also begann ich dafür zu kämpfen. So habe ich mir immer kleine Ziele gesteckt und dachte: Jetzt werde ich erst einmal nicht freikommen, also regle ich mein Leben hier drin.“
Prozessbeobachterin aus Tschechien anwesend
Der Grund, warum sie ins Gefängnis geschickt worden war, sei ihr von den russischen Aufsehern und Ermittlern trotz mehrfacher Nachfrage nie mitgeteilt worden, betont Alsu Kurmaschewa. Auf der Website von Radio Free Europe heißt es heute, dass gegen die Reporterin damals als „ausländische Agentin“ sowie wegen der „Verbreitung von falschen Informationen“ über das russische Militär ermittelt worden sei. Dass ihr Fall weltweit verfolgt werde, habe sie unter anderem durch die Anwesenheit von Journalisten bei den Gerichtsterminen bemerkt, sagt Kurmaschewa:
„Die nächste Verhandlung war dann am 1. Februar. Dort war auch schon eine Mitarbeiterin der tschechischen Botschaft. Es war für mich sehr wichtig, dass das tschechische Außenministerium eine Beobachterin ins Gericht schickte, damit sie sehen konnte, dass ich in Ordnung bin und aussagen kann. Natürlich durften wir kein Wort miteinander reden. Nur mit den Augen führten wir einen kurzen, aber schönen Dialog. Durch sie sah ich, dass Tschechien sich um mich kümmert.“
Mit ihrem Mann habe sie sich nur Briefe über ihren Anwalt austauschen können, so Kurmaschewa weiter. Und der Kontakt zu ihren beiden Kindern sei ihr gänzlich verboten worden. Durch die Öffentlichkeitsarbeit von Memorial hätte sie aber Post von überall auf der Welt bekommen, erinnert sich die Journalistin, darunter auch Briefe und Karten aus Tschechien…
„In Prag gibt es die tolle Organisation Babičky bez hranic (zu Deutsch: Großmütter ohne Grenzen, Anm. d. Red.). Ich finde, sie macht eine sehr sinnvolle Arbeit. Von ihren Mitgliedern habe ich viele Postkarten bekommen. Eine Dame war beim Konzert der Tschechischen Philharmonie und schickte mir von dort eine Karte. Sie hatte das gesamte Programm aufgeschrieben. Da ich eine musikalische Ausbildung habe und schon oft in der Philharmonie war – auch auf dem Cello mit einem Orchester dort gespielt habe –, hörte ich durch den einen geschriebenen Satz innerlich das ganze Konzert. Das war wunderschön. Meine Zellengenossinnen schauten mich an und dachten: ‚Alsu ist wieder mit den Gedanken woanders und will nicht mit uns reden‘. Ich habe mir in Haft immer solche Momente geschaffen, in denen ich nicht an dem eigentlichen Ort war, sondern eben bei der Tschechischen Philharmonie, in Prag oder im Böhmerwald.“
Nachdem sie die ersten Monate in Einzelhaft verbracht hatte, habe sie sich dann eine Zelle mit neun anderen Frauen geteilt, fährt Kurmaschewa fort. Diese hätten wegen Finanzdelikten eingesessen. In den gemeinsamen Gesprächen sei es meist nur um unverfängliche Themen, wie Kinder, Reisen oder das Essen gegangen. Die Journalistin erinnert sich besonders an eine junge Frau, die genau wie sie zwei Kinder hat:
„Über Politik konnten wir uns aber nicht unterhalten. Denn sie glaubte, dass alles, was gerade in Russland passiert, auch richtig sei und so sein solle. Da ich schon so viele Jahre in Prag lebe, fürchten sich manche Menschen in Russland davor, mich nach etwas zu fragen. Der Propaganda zufolge sind nämlich Tschechien und Prag, ebenso wie die ganze westliche Welt, gegen Russland. Dieses Narrativ hört man dort sehr oft im Fernsehen, und das beeinflusst die Leute. Meine Zellennachbarin konnte darum nicht verstehen, dass es in Prag Menschen gibt, die nicht gegen etwas sind, sondern zum Beispiel für internationale Beziehungen, denen sich auch Russland öffnen sollte. Das Land verschließt sich jedoch gerade.“
Alsu Kurmaschewa war in den insgesamt fast zehn Monaten ihrer Haft in zwei verschiedenen Gefängnissen, nämlich in Kasan und in Moskau-Lefortowo. Was die Haftbedingungen und den Umgang des Aufsichtspersonals mit den Insassen angehe, sei es überall gleich schlimm gewesen, so ihr Bericht. Körperliche Gewalt habe sie nicht erlebt. Aber die psychische Gewalt, Erniedrigungen und Bedrohungen seien massiv und nähmen den Menschen ihre Würde, urteilt die Journalistin.
Erste Andeutungen zur Freilassung
Den Winter über habe sie sehr viel Hoffnungslosigkeit verspürt, schildert Kurmaschewa. Dies habe sich geändert, als sie das erste Mal von einem möglichen internationalen Häftlingsaustausch erfuhr. Das sei im März 2024 gewesen:
„Damals veränderte sich die Kommunikation mit den Ermittlern. Sie deuteten mir gegenüber an, dass es vielleicht einen Austausch gebe. Ich wusste, dass vor mir bedeutendere Persönlichkeiten dran waren, wie etwa die US-Amerikaner Evan Gershkovich oder Paul Willen, die schon lange in Haft saßen. Meine Hoffnung auf den Austausch war dagegen sehr gering. Also haben wir gewartet. Die Ermittler sagten, das müsse vor Gericht verhandelt werden. Sie begannen, sich mir gegenüber etwas besser zu verhalten. Die Befragung wurde beendet. Ich war weiter in Haft und wartete auf etwas – aber niemand konnte mir sagen, auf was genau und wann das passiert.“
Was dann am 1. August passierte, war der größte Gefangenenaustausch zwischen Ost und West seit dem Kalten Krieg. Russland und Weißrussland sowie mehrere westliche Länder, darunter die USA, Deutschland und Polen, ließen insgesamt 26 Menschen frei. Wie genau auch sie auf die Liste gelangt sei, wisse sie bis heute nicht, sagt Alsu Kurmaschewa. Am Morgen des für sie so bedeutsamen Tages sei sie vom Gefängnispersonal lediglich aufgefordert worden, sich anzukleiden und bereitzuhalten. Ohne zu wissen, dass es sich um ihre Entlassung handelt, sei sie dann in den bereitstehenden Bus geführt worden, in dem schon andere Freigelassene gesessen hätten – so etwa der US-Amerikaner Evan Gershkovich, der für The Wall Street Journal in Moskau tätig und 16 Monate lang im Gefängnis war.
„Da war mir dann alles klar. Ich befand mich allerdings in einem solchen Schock, dass wir uns nicht einmal unterhielten. Evan Gershkovich saß hinter mir. Ich habe ihn nur mit den Augen gegrüßt, und lange konnten wir gar nichts sagen – bis wir im Flugzeug saßen. Denn alle standen unter Schock. Dies war also der D-Day. In Moskau regnete es gerade. Ich verspürte natürlich viele Emotionen, verschiedene Gedanken und mein ganzes Leben schossen mir durch den Kopf. Auch jetzt, nach mehreren Monaten, kann ich nicht ruhig darüber reden. Ich habe das Land nicht so verlassen, wie ich es geplant hatte. Mehr als 20 Jahre lang war ich immer wieder dort, um die Familie und meine Mutter zu besuchen, aber auch wegen meiner Kultur und der tatarischen Sprache. Es ist das Land, in dem ich aufgewachsen bin. Und auf einmal wollte es mich nicht mehr haben.“
Von diesem Moment kann Kurmaschewa immer noch nur unter Tränen berichten. Aber es sei auch ein sehr glücklicher Moment gewesen, beteuert sie. Und sie ergänzt, dass sie sich seit ihrer Rückkehr mit Leuten treffe, die an ihrer Freilassung mitgearbeitet hätten, um nachträglich die näheren Umstände zu erfahren.
Unterstützung für andere inhaftierte Journalisten
Kurmaschewas Mutter lebt nach wie vor in Russland. Derzeit pflegten sie nur telefonisch und schriftlich ihr sehr enges Verhältnis, bekundet die Reporterin. Denn einen weiteren persönlichen Besuch plane sie in naher Zukunft nicht:
„Jetzt will ich nicht dorthin. Sie haben mir zwar nicht untersagt, nach Russland zurückzukehren, und mir auch meinen russischen Pass wiedergegeben. Besonders wurde betont, dass es kein Einreiseverbot für mich gebe. Aber derzeit würde ich das nicht wollen.“
Vergessen werde und wolle sie ihre Erlebnisse in russischer Haft nicht, betont Alsu Kurmaschewa. Sie wolle sie vielmehr aktiv in das Fundament ihres Lebens und ihrer Arbeit integrieren. Zu diesem gehöre ihre Überzeugung, dass Pressefreiheit die Grundlage für die Sicherheit einer Gesellschaft sei, sagt die Reporterin. Deswegen müssten weltweit auch die Regierungen für die Pressefreiheit einstehen, so die Mahnung von Kurmaschewa, die sich in ihrem Job nun auf die Förderung von Nachwuchsjournalisten konzentrieren will. Und sie engagiert sich noch auf andere Weise…
„Jetzt denke ich darüber nach, was ich künftig machen werde und wie ich meine Erfahrungen nutzen könnte. Momentan arbeite ich an einer Unterstützung der Familien von anderen Journalisten von Radio Free Europe, die in Haft sind. Das sind derzeit vier Personen. Ihar Losik und Andrej Kuznichek sitzen in Weißrussland im Gefängnis. Mit Ihar haben wir schon seit vier Jahren keinen Kontakt mehr. Wir wissen nicht, ob er gesund ist oder welche Hilfe er braucht. Dies ist ein schwieriger Fall. Dann ist Vladyslav Yesypenko auf der Krim. Er hat seine Familie und seine kleine Tochter drei Monate lang nicht gesehen. Und ein Kollege ist seit Mai in Aserbaidschan in Haft. In der Zwischenzeit wurde seine Tochter geboren. Ich weiß genau, was die Familien durchmachen – dass sie jeden Morgen aufwachen und nur einen einzigen Gedanken im Kopf haben: Was kann ich noch für ihn tun?“
Und außerdem sei sie bereit, jederzeit öffentlich über ihre eigenen Erfahrungen zu berichten, ergänzt Alsu Kurmaschewa:
„Es ist ja kein Geheimnis. Und ich glaube, unsere Stärke hier in der freien Welt liegt gerade darin zu reden und zu kommunizieren, Türen nicht zu verschließen und keine Brücken abzureißen, sondern Dinge aufzubauen. Zu reden ist wichtig, und es bedeutet Kraft und Sicherheit, auf die ich mich wieder freue.“