Winter 1945: Protektorat Böhmen und Mähren nimmt 300.000 deutsche Flüchtlinge auf
Die Jahreswende 1944/1945 brachte bereits den sechsten Winter des Zweiten Weltkriegs. Für Europa und den Rest des Globus zeigte sich allmählich die Hoffnung auf einen baldigen Frieden. Für mehrere Millionen deutsche Einwohner der Ostgebiete des Deutschen Reiches bedeutete dies allerdings, sich auf die Flucht vor der heranrückenden Roten Armee nach Westen zu machen. Der Exodus führte damals auch über tschechisches Gebiet.
1945 war in Europa und der ganzen Welt ein Jahr des Umbruchs. Nach langen Jahren des Zweiten Weltkriegs konnte man endlich den Frieden feiern. „1945 – Rok zlomu“, auf Deutsch „Das Umbruchsjahr 1945“ heißt ein Projekt des tschechischen Nationalarchivs in Prag, das anlässlich des 80. Jahrestags des Kriegsendes ins Leben gerufen wurde. Das Archiv hat ein Kalendarium auf seiner Website veröffentlicht, das an wichtige Ereignisse von damals erinnert. Die Archivarin Zdeňka Kokošková:
„Es ist ein Projekt, das alle zwölf Monate umfasst, obwohl der Durchbruch im Mai 1945 für alle in Europa natürlich am wichtigsten ist. Unsere Idee war, dass es für Forscher und die breite Öffentlichkeit interessant sein dürfte, zu erfahren, was vor diesem Durchbruch geschah, aber auch, was danach folgte. Angefangen mit Januar 1945 gibt es zu jedem Monat Hinweise auf den Verlauf des Krieges und internationale Verhandlungen. Am wichtigsten sind jedoch die Informationen über unser Land, über Aktivitäten der Besatzungsverwaltung, über den Widerstand, aber auch über die Exilregierung. Jeden Monat fügen wir sechs bis acht Dokumente und Bilder zu jenen Themen hinzu, die wir mit unseren Archivmaterialien belegen können. Das Kalendarium basiert also ausschließlich auf Dokumenten im tschechischen Nationalarchiv.“
Das Kalendarium liegt schon jetzt bis zum Ende des Jahres 1945 vor. In jedem Monat werden rund 20 Ereignisse erläutert. Die genannten Dokumente, Bilder und weiteren Archivalien werden dann jeweils zu Anfang des Monats veröffentlicht. Für Januar sind es unter anderem ein Protokoll aus der Plenarsitzung des tschechoslowakischen Staatsrats im Londoner Exil, eine Depesche zum Gespräch von Edvard Beneš mit dem sowjetischen Diplomaten A. I. Tschitchaew über die Karpathenukraine sowie ein Protokoll, in dem ein tschechischer Bahnangestellter in Starý Kolín sein Zeugnis über die Durchfahrt eines Transportzugs mit Häftlingen aus dem KZ Auschwitz über das Gebiet des Protektorats Böhmen und Mähren ablegt.
Kalendarium „Das Umbruchsjahr 1945“ bietet Einblicke in Archivdokumente
Der 22. Januar 1945 bietet im Kalendarium die Einsicht in einen auf Deutsch verfassten Schnellbrief. Der deutsche Staatsminister für Böhmen und Mähren, Karl Hermann Frank, ordnet damit die Einrichtung der sogenannten „Leitstelle Ost“ an. Zitat:
„Das Protektorat Böhmen und Mähren muß sofort auf Grund der militärischen Lage im Osten zunächst 50.000 deutsche Flüchtlinge aufnehmen, die in den Randbezirken des Landes Böhmen untergebracht werden sollen. Mit einer Erhöhung der Zahl auf das Doppelte ist zu rechnen. Zur Erledigung der meinem Geschäftsbereich hierbei erwachsenden Aufgaben wird mit sofortiger Wirkung eine ‚Leitstelle Ost‘ mit dem Sitz in Prag errichtet.“
Soweit die Anordnung von Karl Hermann Frank. Die Historikerin Zdeňka Kokošková leitet die dritte Abteilung des Nationalarchivs in Prag, in der Archivbestände von 1918 bis 1992 aufbewahrt werden. Eben dort befindet sich auch das zitierte Dokument zur „Leitstelle Ost“:
„Die Zentrale wurde auf direkte Initiative aus Berlin gegründet. Einen Tag vor ihrer Einrichtung kam eine Anweisung vom Reichsinnenministerium. Der Anstoß war die fürchterliche Lage für die deutschen Flüchtlinge, die sich den Grenzen des Protektorats beziehungsweise des heutigen Tschechiens näherten. Sie kamen aus den östlichen Gebieten, angefangen von Ostpreußen, quer durch Polen, und hauptsächlich über Schlesien in unsere Region.“
Der Vormarsch der Roten Armee ab Herbst 1944 löste eine gewaltige Fluchtwelle der deutschen Bevölkerung aus den Ostprovinzen des Reiches aus. Flüchtlingskolonnen waren allgegenwärtig. Ihr Hauptziel war Deutschland, doch viele landeten zunächst auch auf tschechischem Gebiet.
„Rund 95 Prozent von diesen mehreren Hunderttausend Menschen waren zivile Bewohner der östlichen Regionen. Die Initiative ging natürlich von Berlin aus, aber deutsche Familien waren einfach auch aus eigenem Entschluss auf der Flucht vor der vorrückenden Roten Armee. Das ist ganz natürlich. Und es ist ebenso natürlich, dass nicht nur Zivilisten darunter waren, sondern auch Menschen, die sozusagen fliehen mussten, also etwa Nazi-Beamte oder Angehörige der Sicherheitskräfte.“
Familien auf der Flucht aus dem Osten
Die Flüchtlinge kamen aus Schlesien über das Reichsgau Sudetenland ins Protektorat. Die entsprechenden Verhandlungen wurden auf Ebene der sogenannten Gauleiter geführt, die direkt mit Staatsminister Frank in Kontakt standen. Nach der Einrichtung der Leitstelle Ost am 22. Januar 1945 wurde dann alles über deren Leiter Hanns Blaschek abgewickelt.
„Er war Schwager von K. H. Frank, der Blascheks Schwester geheiratet hatte. Die beiden Männer kannten sich aber schon vor dieser Hochzeit. Sie lernten sich in den 1930er Jahren in der Sudetendeutschen Partei kennen. Später stand Blaschek Frank im Dezember 1938 bei (der Gründung der NSDAP im Sudetenland beiseite. Er begleitete ihn dann auf seinem Weg aus dem damaligen Reichenberg nach Prag und arbeitete mit ihm in niederen Ämtern zusammen.“
Nach dem Krieg wurde Blaschek verhaftet und vom tschechoslowakischen Volksgericht zu zehn Jahren Haft verurteilt.
„Nachdem er 1955 seine Strafe verbüßt hatte, zog er zu seiner Familie, das heißt zu seiner Schwester nach Heilbronn in Westdeutschland. Dort arbeitete er und war bis zu seinem Tod künstlerisch tätig.“
22. Januar 1945: „Leitstelle Ost“
Die „Leitstelle Ost“, das heißt die Zentralbehörde für deutsche Flüchtlinge im Protektorat Böhmen und Mähren, hatte ihren Sitz am Wenzelsplatz in Prag. Sie war im Palast Phönix untergebracht und verfügte über Zweigstellen in den Regionen:
„Das waren keine festen Ämter, sondern Beamte, mit denen Hanns Blaschek kommunizierte. Die Behörde durfte damals nicht groß sein, denn in jener Zeit mangelte es schon überall an Leuten. Sicher gab es eine Zweigstelle in Olmütz, und auch an anderen Orten in Ost- und Nordmähren hatte Blaschek Verbindungsleute. Auf diesem Weg war er imstande, die Transporte von der Zentrale aus zu leiten.“
In der Anweisung vom 22. Januar wurde mit der Aufnahme von 100.000 Deutschen im Protektorat Böhmen und Mähren gerechnet. Doch die tatsächliche Zahl stieg mit der Zeit wesentlich an:
„Letztlich sprach man von 300.000 Menschen. Selbst K. H. Frank hatte sich schon dagegen gewehrt. Er schrieb sogar an Himmler nach Berlin, dass dies für das kleine Protektorat untragbar sei. Die Flüchtlinge kamen aber nicht auf einmal, sondern in Konvois von je 30.000 bis 40.000 Menschen.“
Mitte Januar sammelten sich in Schlesien etwa 600.000 Menschen an, die dort auf Hilfe warteten.
„Ihr Ziel lag meist außerhalb des Protektorats. Es gibt auch Karten der Transporte. Demzufolge fuhren sie zum Beispiel durch die Region Trutnov / Trautenau nach Litoměřice / Leitmeritz und danach weiter Richtung Südwesten. Die Sudetengebiete nahmen schon früher diese Flüchtlinge auf, im Protektorat kamen sie erst in der zweiten Januarhälfte an.“
Die Zahl von 300.000 Flüchtlingen wurde letztlich noch überschritten. Zum Vergleich: Das Protektorat hatte damals etwa 7,4 Millionen Einwohner, davon mehr als 7 Millionen Tschechen. Zdeňka Kokošková:
„Angesichts der Flüchtlingszahlen sollte ich vielleicht erwähnen, dass nur 285.000 Deutsche im Protektorat lebten. All die vielen Deutschen aus der früheren Tschechoslowakei befanden sich in den abtrünnigen Gebieten, das heißt, im Reichsgau Sudetenland und in den südlichen Teilen Böhmens und Mährens. Der Statistik von Ende 1944 zufolge lag die Zahl der Reichsdeutschen und der böhmischen Deutschen hierzulande niedriger, als die der ankommenden Flüchtlinge.“
Transporte, Unterbringung, Versorgung
Die Aufgabe der „Leitstelle Ost“ war nicht nur, die Transporte zu organisieren, sondern auch, die Menschen zu versorgen. Zunächst musste man nach Unterbringungsmöglichkeiten für die Flüchtlingsmassen suchen. Vor allem Schulen sollten diesem Zweck dienen:
„Frank hat zunächst angekündigt, dass der Unterricht nur an tschechischen Schulen unterbrochen wird, aber das reichte nicht aus, so dass auch einige deutsche Schulen geschlossen wurden. Denn große Klassenräume konnten viele Menschen aufnehmen, und dies schien die bequemste Variante für die durchreisenden Familien mit Kindern. Also wurden sie in Schulen, Bauernhäusern und schließlich auch in manchen Häusern bei tschechischen Familien untergebracht.“
Die Tschechen hatten zu den Flüchtlingen eine ähnliche Einstellung wie zuvor die Polen:
„Ihr Verhalten war einfach das Ergebnis dieser sechs Jahre an Unterdrückung. Die meisten Tschechen waren diesen Menschen gegenüber eher reserviert, einzelne sogar negativ eingestellt. Aber ich muss sagen, wenn die Flüchtlinge mit kleinen Kindern kamen, haben die Tschechen natürlich versucht, ihnen in irgendeiner Weise zu helfen.“
Die Lage war schwierig. Denn die Flüchtlinge hatten nichts mit sich, sie brauchten Verpflegung, spezielle Nahrung für die Kinder oder auch Decken. In den meisten Fällen blieben sie allerdings nur ein paar Tage im Protektorat Böhmen und Mähren:
„Sie hielten sich in der Regel nicht lange auf. Dennoch lässt sich gewissermaßen auch sagen, dass sie es nicht ganz so eilig hatten, denn das Protektorat schien im Januar relativ sicher zu sein. Es wurde sogar die Arbeitspflicht für Männer und Frauen erwogen, wenn sie länger bleiben wollten, also eine Hilfe für die einheimische Bevölkerung in der Landwirtschaft.“
Zwischenstation auf dem Weg nach Deutschland
Trotzdem sahen die Flüchtlinge den Aufenthalt in Tschechien nur als eine Zwischenstation auf ihrem Weg nach Deutschland…
Sie wollten nicht in einer rein tschechischen Umgebung bleiben.
„Auf jeden Fall. Sie wollten nicht in einer rein tschechischen Umgebung bleiben. Manchmal gab es Konflikte, weil einige Ankömmlinge sagten, sie würden hier bleiben, und die Tschechen sollten gehen. Aber das war nicht häufig. Vielmehr waren sie dankbar, vorübergehend Unterschlupf zu bekommen. Und danach gingen sie größtenteils in Richtung Bayern. Solange es möglich war, wurden Transporte mit der Bahn organisiert. Später flogen die Alliierten so starke Bombenangriffe auf die Bahninfrastruktur, dass die Züge nicht mehr sicher waren. Also versuchten sie lieber, mit Pferden oder zu Fuß aus dem Protektorat herauszukommen.“
Noch Anfang April 1945 wandte sich der Leiter des Sudetengaus, Konrad Henlein, an Karl Hermann Frank mit der Bitte, einen Konvoi mit einigen Dutzend Menschen im Protektorat aufzunehmen. Doch Frank habe schon mit anderen Dingen zu tun gehabt, sagt die Archivarin. Er kümmerte sich um die Deutschen, die im Protektorat lebten, und bemühte sich, ihnen zur Flucht zu verhelfen:
„Die Situation war dieselbe. Sie hatten Angst vor der Roten Armee, sie hatten Angst davor, was passieren würde, wie die Soldaten sie behandeln würden, und sie hatten Angst vor der einheimischen Bevölkerung. Die Ausreise der Protektoratsdeutschen begann eigentlich mit Franks Aufruf am 8. April, in dem ausdrücklich gesagt wurde, dass Frauen, Kinder, Alte und Kranke gehen können. Das galt vor allem für diejenigen, die Kontakte, also Verwandte und Bekannte, außerhalb des Protektorats hatten – im Sudetenland oder im Reich. Er kommunizierte ebenfalls mit dem Gauleiter von Bayreuth, das heißt, auch diese Flüchtlinge zielten auf bayerisches Gebiet. Am 19. April, ein paar Wochen vor dem Kriegsende, hat Frank diese Bevölkerungsgruppe nicht mehr nur aufgefordert, sondern ihr eigentlich bereits befohlen, das Protektorat sofort zu verlassen.“
Und dem Befehl sind die Deutschen auch gefolgt.
„Jedenfalls die Reichsdeutschen, die zwar nicht in großer Zahl, aber doch in den vorangegangenen sechs Jahren mit ihren Familien in das Protektorat gekommen waren. Denn sie hatten einen Ort, an den sie zurückkehren konnten. Aber auch die einheimische deutsche Minderheit machte sich auf den Weg, sofern sie die Kontakte und Möglichkeiten hatte.“