Das blutige Ende des Zweiten Weltkriegs im Protektorat

Freude, Erleichterung und Jubel über die Ankunft der Befreier – das Ende des Zweiten Weltkriegs sah überall in Europa ähnlich aus. Kurz vor dem ersehnten Ende des Krieges spielten sich jedoch noch entsetzliche Grausamkeiten ab – auch im Protektorat Böhmen und Mähren. Viele Dörfer wurden ohne jede Begründung niedergebrannt, ihre Bewohner gefoltert oder ermordet. Erstaunlicherweise werden diese Gewalttaten der Okkupanten erst in den letzten Jahren näher erforscht.

Sowjetische Sherman-Panzer auf der Křenov-Straße in Brno im April 1945  (Foto: Public Domain)
In der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs ereigneten sich auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens schwere Gefechte. Zwei Monate lang brauchten die Rote Armee und das Erste Tschechoslowakische Korps, bis sie die Abwehrlinie der Wehrmacht in Nordschlesien durchbrechen konnten. In April 1945 wurde vor allem in Brno / Brünn und in Ostböhmen hart gekämpft. Die letzte bewaffnete Auseinandersetzung war dann der Prager Aufstand, der am 5. Mai 1945 ausbrach. Doch auch die Wehrmacht und SS-Einheiten sowie versprengte Gruppen der slowakischen und ungarischen Armee durchzogen das Protektoratsgebiet auf ihrem Rückweg aus dem Osten. Die fanatisierten Soldaten hinterließen „verbrannte Erde“. Sie trieben Tausende gefangene Soldaten und KZ-Häftlinge vor sich her, vielerorts kam es zu Massakern. Es gab dutzende solcher Fälle, sagt der Forscher Jiří Padevět.

Ein Grabhügel mit den Opfern,  die in der Nähe von Tachau starben  (Foto: Ondrej.konicek,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
„Tief beeindruckend wirkt zum Beispiel der neue jüdische Friedhof im westböhmischen Tachov / Tachau. Das ist wahrscheinlich das größte Massengrab in Mitteleuropa. Etwa 600 Menschen liegen dort begraben. Am 13. April 1945 gelangte nach Tachau ein Zug mit etwa zweitausend völlig erschöpften Häftlingen aus dem Konzentrationslager Buchenwald. Etwa 400 kamen bereits tot in Tachau an. Sie wurden noch auf dem Bahnhof verbrannt und auf dem jüdischen Friedhof zusammen in einem Grab beerdigt. Die übrigen sollten von den SS-Männern ins KZ Flossenbürg getrieben werden, aber etwa 200 Menschen starben noch unterwegs in der Nähe von Tachau. Ihre Leichen wurden am Rande der Stadt in ein Massengrab gelegt. Zur Erinnerung befindet sich dort heute ein Grabhügel.“

„Das blutige Finale“  (Foto: Verlag Academia)
Jiří Padevět ist Autor des vor kurzem erschienenen Buches „Das blutige Finale“. Darin beschreibt er die Ereignisse vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den böhmischen Ländern. Er konzentriert sich auf reine Fakten und zeitgenössische Fotos, eine Interpretation nimmt Padevět nicht vor. Seine Aufzählung umfasst 318 Ortschaften, in denen es im April und in der ersten Maiwoche 1945 zu brutalen, aus militärischer Sicht meist völlig sinnlosen Morden kam. Manche Historiker vertreten die Ansicht, dass in diesem Zeitraum mehr Menschen ermordet wurden, als während der Herrschaft des Stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich zwischen September 1941 und Mai 1942. Jiří Padevět hat viele der beschriebene Orte selbst aufgesucht.

„Ich wollte in diesem Buch den Schicksalen konkreter Menschen an konkreten Plätzen nachgehen. Dies betrifft sowohl die Täter als auch die Opfer. Manchmal ist es mir gelungen, viele Einzelheiten zu entdecken, dann sind den betroffenen Ereignissen auch mehrere Seiten gewidmet. In anderen Fällen findet der Leser aber nur zwei oder drei Sätze. Ich konnte auch nicht alle Orte besuchen, weil vielerorts nichts mehr an die tragischen Begebenheiten erinnert. Eine Reihe von Gemeinden ist sogar von der Landkarte verschwunden, vor allem im Böhmerwald, wo die Todesmarsche verliefen. Man ahnt, dass dort irgendwo Massengräber sein müssen, aber wo, das weiß niemand. Und noch eine Sache ist zu bemerken: Nur wenige Menschen in den Orten waren bereit, mit mir über die Ereignisse zu sprechen. Sie waren nicht unfreundlich, aber ich konnte ihre Einstellung deutlich spüren: ‚Uns geht es gut, wir leben da zufrieden, warum also diese tragische Geschichte wieder aufmachen?‘.“

Jiří Padevět  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Padevěts Buch gleicht einer Enzyklopädie der größten Brutalität, der die Menschen fähig sind. In seinem Buch steht zum Beispiel:

„Alois Pavlů wurde mit den Händen an das Scheunentor gefesselt und musste die Vergewaltigung seiner Ehefrau und seiner Tochter mitansehen. Diese wurden dann mit einem Draht gefesselt und ins brennende Haus geworfen. Die Wehrmacht-Truppe ‚Pilgrams‘ kommandierte Walter Hauck, damals 26 Jahre alt.“

Oder an einer anderen Stelle:

„Václav Vaniš wurde von betrunkenen Soldaten aus der Kirche herausgeholt und am Dorfplatz an einer Linde aufgehängt. Die Leiche hing bis zum Abend des 8. Mai an dem Baum. Dann wurde sie abgenommen und beerdigt.“

Das Denkmal erinnert an etwa 15 tschechische Zivilisten,  die die Soldaten in Trhové Sviny ermordeten  (Foto: Google Street View)
Was die Mitglieder der Wehrmacht, der SS-Waffen oder der Gestapo zu solchen Taten trieb, darüber will der Autor nicht spekulieren. Die meisten Historiker halten Rache und Wut über die bevorstehende Niederlage für die Beweggründe. Padevět unterstreicht jedoch, dass die Grausamkeiten nicht nur von Deutschen sondern auch von tschechischen Kollaborateuren begangen wurden. Und umgekehrt: Es gab auch Deutsche, die versuchten, das Wüten anzuhalten, auch wenn sie ihr eigenes Leben ins Spiel setzten.

„Beispielsweise verübte die nach Südböhmen zurückgerückte SS-Einheit aus Benešov bei Prag die Verbrechen in Trhové Sviny / Schweinitz. Die Soldaten ermordeten dort etwa 15 tschechische Zivilisten und eine ähnliche hohe Zahl nahmen sie als Geisel mit. Einige von ihnen töteten sie dann unterwegs. Nachdem sie in die Gemeinde Žár / Sohors gelangt waren, redete ihnen der deutsche Bürgermeister aus, die übrigen Menschen zu töten. Die Geiseln wurden also freigelassen. Ein paar Wochen später aber wurde der Bürgermeister von den tschechischen revolutionären Gardisten verdroschen und nach dem Krieg zusammen mit anderen Deutschen vertrieben. Er starb in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Für die Rettung von sieben bis zehn Menschenleben hat ihm nie einer gedankt.“

Nové Hrady / Gratzen
Der Fanatismus der erwähnten SS-Mitglieder zeigte sich auch im südböhmischen Städtchen Nové Hrady / Gratzen. Sie verprügelten dort den Bürgermeister, den Schuldirektor und den Befehlshaber der örtlichen Feuerwehr und erhängten sie schließlich auf dem Balkon des Rathauses. Alle diese Opfer waren Deutsche. Ihr einziges Vergehen bestand darin, dass sie auf dem Rathaus die weiße Fahne gehisst hatten. Die Bluttat ereignete sich sogar erst nach der Kapitulation Deutschland.

Buch „Das blutige Finale“  (Foto: Verlag Academia)
„Das blutige Finale“ ist das erste Buch überhaupt, das die Brutalitäten kurz vor Kriegsende systematisch dokumentiert. Etwa 100 Ermordete konnte Jiří Padevět mit Hilfe der zugänglichen Quellen und Zeitzeugenberichte identifizieren. Mehrmals stieß er zudem auf eine ideologisch verzerrte Interpretation der Ereignisse. An einigen Gedenkorten steht zum Beispiel heute zu lesen, dass dort die Soldaten der Roten Armee gefallen seien – tatsächlich starben dort aber KZ-Häftlinge verschiedener Nationalitäten. Zu derartigen Verfälschungen kam es vor allem Ende der 1940er und Anfang 1950 er Jahre. Jiří Padevět wird seine Zeitreise weiter fortsetzen. Er arbeitet schon jetzt an einem ähnlichen Buch, das die Grausamkeiten nach dem Krieg ins Blickfeld nimmt. Denn bekanntlich brachte das Kriegsende in den böhmischen Ländern nicht nur Glück und Freude, sondern auch eine neue Welle von Repressionen und Leiden. Dieses Buch wird wahrscheinlich viele Kontroversen auslösen, vermutet der Autor:

Vertreibung der Deutschen  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Das Konzept bleibt das Gleiche: Es wird ein Verzeichnis der Ortschaften, wo es zwischen Mai und August 1945 zu Grausamkeiten kam. Dabei geht es nicht nur um die Vertreibung der Deutschen. Ich habe beispielsweise den Mord eines Grafen entdeckt, der von Soldaten der Roten Armee verübt wurde. Die Gewalt der sowjetischen Soldaten gegen die Zivilbevölkerung ist übrigens ein noch wenig erforschtes Thema. Aber auch die Morde an den Sudetendeutschen betrachte ich ganz neutral: ob jemand in der NSDAP oder SS war, das spielt für mich keine Rolle. Es ist mir nur wichtig, dass es an einer konkreten Stelle ohne einen regulären Gerichtsprozess zum Mord an einem konkreten Menschen kam. Die Suche ist aber äußerst schwierig. Die erhaltenen Dokumente sind rar, die Erinnerungen der Vertriebenen durch die Emotionen oft verzerrt. Es helfen mir daher auch die Tipps vieler mir unbekannter Menschen an den jeweiligen Orten. Ich bin darüber sehr froh und überprüfe sie so gut wie möglich.“

Das bereits erschienene Werk von Jiří Padevět ist in den tschechischen Medien auf große Resonanz gestoßen. Auf Interesse stößt es bei Lesern, die die lange verschwiegene Geschichte ihrer Stadt oder ihre Gemeinde näher kennenlernen wollen.