Osteuropa wird nicht mehr exotisch sein...

Norbert Gstrein

Die erste Europawahl tschechischer Bürger ist vorbei. Verlassen wir nun den Bereich der alltäglichen Politik und versenken uns in die Literatur. Auch da wollen wir jedoch beim Thema Europa bleiben. Kann man überhaupt einen Europäer charakterisieren? Was bedeutet die EU-Erweiterung für die Literatur? Bringt sie mehr Übersetzungen aus den Sprachen der neuen Mitgliedsländer mit sich? Und ein erhöhtes Interesse für deren Literatur? Das sind einige der Fragen, über die sich Markéta Maurová mit dem österreichischen Schriftsteller Norbert Gstrein im folgenden Kultursalon unterhält. Gstrein war einer der Gäste des Prager Schriftstellerfestivals, das im Frühling dieses Jahres - wie sollte es anders sein - dem Thema "neues Europa" galt.

Die Debatte im Rahmen des Schriftstellerfestivals war dem neuen Europa gewidmet. Sie haben am Anfang die Frage gestellt: Wie kann man eigentlich einen Europäer charakterisieren, definieren? Wie kann man das also Ihrer Meinung nach machen?

"Ich vermute, dass es problematisch ist, Punkte anzugeben und nach diesen Punkten vorzugehen und abzugleichen und dann zu sagen, das sei europäisch und das sei nicht-europäisch. Es ist ja auch ein Begriff, der schlichtweg in Bewegung ist. Was europäisch ist, ist ja auch im Werden begriffen. Im Werden begriffen auch dadurch, dass jetzt neue Länder zu Europa hinzukommen und in einigen Jahren wieder neue Länder zu Europa hinzukommen werden. Und jedes dieser Länder, das dazu kommt, definiert den Begriff Europa mit."

Sie sagen, jetzt kommen neue Länder zu Europa, aber waren diese früher nicht in Europa?

"Gut, Sie haben mich bei einem Sprachgebrauch ertappt. Damit ist jetzt einfach Europa gemeint, was die Europäische Union als politische Einheit betrifft. Natürlich waren diese Länder in Europa und sind diese Länder europäische Länder, wenn man den Begriff kulturell meint - ohne eine andere Diskussionsmöglichkeit. Der Punkt ist, dass es zwei Europas gegeben hat, bis 1989. Und diese beiden Europas wachsen jetzt zu einem zusammen, und das eine Europa, Westeuropa, hat sich selbst als Europa definiert. Ich bin auf diesem Europa-Begriff hereingefallen."

Was wird das für die Europäische Union bedeuten, dieser Beitritt vieler neuer Staaten?

"Ich sehe es vor allen Dingen darin: Was bedeutet das für die, die außen sind? Für Europa sehe ich die Erweiterung ausschließlich als Vorteil, weil mich ökonomische Gegebenheiten vielleicht zu wenig interessieren. Das können vielleicht problematische Gegebenheiten sein, aber alle anderen Dinge empfinde ich als ausschließlichen Gewinn, als kulturellen Gewinn, als kulturelle Erweiterung. Der Punkt ist eher, nicht was bedeutet dies für Europa, sondern was bedeutet dies jeweils für neue Ländern, die in jedem sich neu formierenden Europa wieder sehen müssen, dass sie draußen sind."

Es wurde hier die Idee ausgesprochen, die Zeit der nationalen Staaten sei vorbei. Vertreten Sie auch diese Meinung?

"Ich sehe nach dem ganzen letzten Jahrhundert nicht, wie man noch wirklich gut dem Gedanken an Nationalstaaten nachhängen könnte. Der letzte Versuch, der aus einem Nationsdenken, aus einem ethnischen Nationsdenken einen schrecklichen Krieg produziert hat, im ehemaligen Jugoslawien, verursacht, dass ich tatsächlich zustimme, dass Nationen keine Zukunft als staatliche Einheiten haben. Sie haben vielleicht Zukunft als kulturelle Teileinheiten eines größeren Ganzen."

Wir treffen uns auf einem Schriftstellerfestival... Was kann dies alles für die Literatur bedeuten? Gibt es eine europäische Literatur?

"Ah, für die Literatur... Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, was es für mich als Autor bedeutet. Ich glaube nicht, dass sich das, was sich in Europa entwickelt, was sich also auf der politischen Ebene entwickelt, für Autoren tatsächlich von Bedeutung ist. Weil sich die Ernsthaftigkeit eines Autors aus ganz anderen Dingen definiert, ganz häufig aus viel, viel kleineren Gegebenheiten. Die wirkliche Identität für den Schriftsteller, das, was ihn interessiert, ist der Mensch. Der Mensch, natürlich vor einem Hintergrund, auch vor einem politischen Hintergrund. Aber es interessieren ihn in der Regel nicht abstrakte politische Diskussionen."

Die Literatur, das ist vor allem eine Sache der Sprache. Glauben Sie, dass die einzelnen Sprachen ihre Bedeutung behalten werden, oder das eine davon eine größere Bedeutung als die anderen gewinnt?

"Sie stellen mir Fragen... Dass eine Sprache als eine sog. Verkehrssprache größere Bedeutung als alle anderen Sprachen hat, dass kann man im Alltag sehen. Es gibt verschiedene Wirtschaftszweige und andere Bereiche, in denen sich auch in anderssprachigen Ländern die Fachleute englisch verständigen. Das heißt noch nicht, dass dies das Leben oder die Lebendigkeit der jeweiligen Nationalsprachen beeinträchtigen würde. In diesem Sinne wird das Englische ja zunächst nur als eine Fachsprache verwendet, und ich sehe nicht die Gefahr, dass in Europa vielleicht am Ende nur eine Sprache gesprochen wird. Das ist ja ausgeschlossen."

Glauben Sie vielleicht, dass die EU-Erweiterung auch mit sich bringt, dass z. B. die Literaturen der neuen Staaten mehr in westeuropäische Sprachen übersetzt werden? Dass eine neue Möglichkeit entsteht, sich mit anderen Literaturen zu konfrontieren?

"Diese Bedeutung gibt es natürlich, dass auf dem Markt andere Gegebenheiten herrschen werden. Aber ich fürchte eher nicht zum Vorteil oder nicht nur zum Vorteil von osteuropäischen Sprachen. Es hat schon eine vergleichsweise rege Übersetzungstätigkeit aus osteuropäischen Sprachen insbesondere ins Deutsche gegeben, das ist aber häufig auch als eine Art Pflichtschuldigkeit gesehen worden. Pflichtschuldigkeit den Nachbarn im Osten gegenüber. Das ist wenigstens mein Eindruck. Weil in den Verlagen zumindest das Klischee geherrscht hat, zu Recht oder zu Unrecht, osteuropäische Literatur ist nicht verkaufbar. Sie wird übersetzt, weil man eine Pluralität haben will, und auch aus einem, wie mir manchmal erschienen ist, nostalgisch-folklorehaften Blick auf den Osten. Und dieser nostalgisch-folklorehafte Blick, der dumm ist, aber in dieser Beziehung vielleicht ein Vorteil gewesen sein konnte, der wird sich nicht in die Zukunft transportieren. Zum Glück nicht. Denn alles, was man in dieser dummen Sicht an Osteuropa als exotisch empfunden haben könnte oder auch empfunden hat, wird sich verwischen. Osteuropa wird nicht mehr exotisch sein."