Polizisten, ganz poetisch: „Městská poezie“ aus Brünn
Der Polizeibericht fristet eher ein Nischendasein unter den Textgattungen. Als Literatur würde ihn wohl kaum jemand durchgehen lassen. Dabei wohnt den sachlichen Beschreibungen vom alltäglichen Leid und Weh der Menschen ein ganz eigener Zauber inne. Das zumindest dachten sich Marek Picha und Kateřina Čadová. Seit Juni 2014 veröffentlichen sie Auszüge aus dem Brünner Polizeibericht auf ihrer Website ‚Městská poezie‘ – zu Deutsch Stadtpoesie. Inzwischen ist sogar ein Buch erschienen. Doch hat die Polizei in Brünn etwa tatsächlich literarische Ambitionen? Und kann so ein Phänomen vielleicht auch nur aus dieser Stadt kommen? Diese Fragen beantworten eine Sammlerin und ein Verfasser der Brünner Polizeiberichte.
„Sein rotes Auto?
wechselte über Nacht die Farbe
und wurde rosarot
so dass es ein wenig
an ein Weihnachtsgeschenk erinnerte
doch die Verpackung war
keineswegs elegant –
das Auto war nämlich komplett
mit Klopapier umhüllt.“
Ausgegraben haben die Geschichten Kateřina Čadová und Marek Picha. Seit einem halben Jahr veröffentlichen sie auf ihrer Facebook-Seite „Městská Poezie“ Auszüge aus dem Polizeibericht. Inzwischen verfolgen über 4000 Menschen die größeren und kleineren Einsätze der Polizei.
„Nach Zeugenaussagen begann der Angreifer den Konflikt
wegen einer Wurst
die seiner Meinung nach
all zulange gekocht hatte.“
Die Facebook-Sammler hatten mit der Polizei zuvor nichts am Hut. Sie übernahmen einfach die schönsten Passagen aus den offiziellen Polizeinachrichten. Die ursprünglichen Verfasser der Texte waren anfangs skeptisch, sagt der Brünner Polizeisprecher Jakub Ghanem:
„Wir haben das Projekt, ich würde mal sagen, zu Beginn aus der Ferne beobachtet. Als wir uns dann sicher waren, dass es sich wirklich um sehr unterhaltenden Humor handelt, der überhaupt nicht auf Konflikte aus ist, haben wir begonnen mit den Urhebern zu kommunizieren. Und wir haben uns dann auch bemüht, ihnen soweit wie möglich zu helfen. Schließlich haben wir sie bei der Edition eines Gedichtbandes unterstützt und ihnen die Erlaubnis erteilt, dafür unsere Berichte zu verwenden.“
Kurz vor Weihnachten ist das Druckwerk erschienen. Über ein Crowdfunding-Projekt im Internet wurde Geld gesammelt, und was übrig blieb, ging an das Tierasyl der Brünner Stadtpolizei. Die Kuriositätensammlung trägt den Namen „Hořící pařez“ – zu Deutsch: brennender Baumstumpf. Der Titel geht auf eine Meldung zurück, auf die Marek Picha und Kateřina Čadová schon 2012 gestoßen sind:
„Unter den Nachrichten aus aller Welt, über Politik, Wirtschaft und so weiter, befand sich eine Meldung aus Brünn, und zwar, dass die dortigen Polizisten einen brennenden Baumstumpf gelöscht haben. Das ist so wunderbar absurd. Mitten unter den Nachrichten, was weiß ich, über das Bruttoinlandsprodukt und die Wirtschaftskrise, steht auf einmal, dass in Brünn ein Baumstumpf brennt.“Wunderbar absurd, und doch poetisch. So beschreiben die beiden Sammler die Schriften der Brünner Polizei. Kateřina Čadová entwirft eigentlich Hüte und studiert nebenbei Sozialwissenschaften. Doch wenn sie über ‚Městská poezie‘ spricht, dann klingt sie wie eine Literaturwissenschaftlerin.
„Die Art und Weise in der die Nachrichten verfasst sind, ist wirklich narrativ. Man findet dort zum Beispiel auch direkte Rede. Das sind einfach Sätze, die Geschichten erzählen, und das ist ganz einzigartig. Zumeist fällt das niemandem auf. Mir wurde zum Beispiel vergangenen Juni das Auto gestohlen, und ich war auf der Wache hier in Prag, um ein Formular auszufüllen. Es war unglaublich, was für eine Geschichte der Polizist daraus gemacht hat. “
Oft sind es auch Spielereien mit der tschechischen Sprache, die den Nachrichten eine Meta-Ebene verleihen.
„Zum Beispiel erinnere ich mich an eine Wendung, die folgendermaßen lautete: ‚eine riesige Schachtel in der Jakob-Riese-Straße‘ (obrovská krabice v ulici Jakuba Obrovského). Da habe ich mich gefragt, ob die Polizei dieses Adjektiv ‚riesig‘ absichtlich gebraucht hat, um die Komik noch zu betonen.“
Die Polizei sagt: Nein. Polizeisprecher Ghanem hat selbst viele der Berichte verfasst, die nun illustriert in einem Gedichtband vorliegen.
„Wir sehen uns keinesfalls als Schriftsteller. Diese Gedichtsammlung enthält Texte, die wir Tag für Tag erstellen. Wir haben sie spontan geschrieben, ohne die Absicht, dass daraus irgendeine Art von Kunst entstehen könnte.“
Allerdings. Ein bisschen denken die Verfasser der Polizeiberichte in Brünn schon an ihre Leser. Es gebe genügend Ereignisse, die der Polizei kein Lachen mehr entlocken, sagt Jakob Ghanem. Aber für die kurioseren Fälle gelten andere Regeln.
„Alle diese Dinge sind tatsächlich passiert. Auf der anderen Seite schreiben wir über manche Vorfälle absichtlich in einem etwas leichteren Stil. Uns geht es darum, dass wir die Spezifika der Stadt Brünn, und was hier vor sich geht, so detailliert und farbig wie möglich beschreiben. Damit können sich die Leser das auch wirklich vorstellen und finden auf unseren Seiten nicht nur trockene Abkürzungen, sondern fühlen sich dadurch auch unterhalten.“Die Stadt Brünn und ihre Besonderheiten – das ist ohnehin ein Thema für sich, sagt Kateřina Čadová:
„Brünn hat für mich in Tschechien eine Sonderstellung. Es gibt Dichter und Autoren wie überall. Doch in der Stadt herrscht eine eigenartige Atmosphäre, die ich gar nicht beschreiben kann. Und mir kommt es so vor, als würden die Nachrichten und die Polizisten diese Mischung ganz hervorragend zum Ausdruck bringen.“
Und wer Brünn sagt, der muss auch immer Prag sagen.
„Es ist ja die zweitgrößte Stadt der Tschechischen Republik, und es gab einerseits schon immer diese Spannung zwischen Prag und Brünn. Die Prager lachen über Brünn, und nennen es das größte Dorf des Landes ist. Und umgekehrt? Ich glaube, es ist nicht Neid, sondern vielmehr stört die Brünner manchmal die Überheblichkeit mancher Prager.“
In den Polizeiberichten findet sich daher durchaus mal ein Seitenhieb auf die Hauptstadt.
„In eine brenzlige Situation
geriet gestern in Brünn ein 27-jähriger Prager.
Nach seinem abendlichen Besuch des Zentralfriedhofs
musste er mit Verwunderung feststellen
dass es kein Entkommen
von dem Gelände mehr gab.“
Die Kooperation mit ‚Městská poezie‘ – Stadtpoesie – bringt der ‚Městská policie‘ – der Stadtpolizei – eine Menge Vorteile. Jakub Ghanem:
„Für uns ist das eine Möglichkeit, die Stadtpolizei einer breiteren Öffentlichkeit näherzubringen, insbesondere auch den Menschen aus der Kulturszene, die doch sonst nur schwer etwas über unsere Arbeit und ihre Eigenheiten erfahren.“
Kateřina Čadová gibt zu, dass sie sich früher nie groß für die Arbeit der Polizei interessiert hat.
„Als wir aber diese Polizeiberichte durchgegangen sind – und das klingt jetzt wirklich schrecklich naiv –, habe ich eine etwas bessere Vorstellung davon bekommen, welche Arbeit die Polizisten eigentlich machen. Dass sie beispielsweise tatsächlich zu völlig hilflosen Menschen fahren, zum Beispiel zu einer 80-jährigen Oma, die alleine lebt, aus dem Bett fällt und nicht mehr aufstehen kann. Es ist schön, diese menschliche Dimension zu sehen. Dass auch zur heutigen Zeit die Nachbarn registrieren, was um sie herum vorgeht, dass eine Frau zwei Tage lang ihre Wohnung nicht verlässt, und sie daraufhin die Polizei rufen, die sich dann um die Frau kümmert und die Rettung oder den Arzt ruft.“So geschehen im Juli 2010.
„Im Krankenhaus endete
am Dienstag eine leicht betrunkene Seniorin
die an diesem heißen Nachmittag
Probleme mit dem Herzen
und dem Trolleybus hatte.“
Stadtpolizei und Stadtpoesie werden auch weiter zusammenarbeiten. Inzwischen haben die Sammler die Rechte dafür an die Stadtpolizei übergeben. Möglicherweise gibt es irgendwann noch weitere Gedichtbände der poetischen Polizisten aus Brünn.