Positiver EU-Fortschrittsbericht für Tschechien
Herzlich willkommen bei einer weiteren Ausgabe unserer Magazinsendung mit Themen aus Wirtschaft und Wissenschaft, am Mikrofon begrüssen Sie Dagmar Keberlova und Ruedi Hermann. Alle Jahre wieder im November kommt er, der Fortschrittsbericht der Europäischen Union. In der Vergangenheit hat er Tschechien wiederholt Sorgen gemacht, denn in der Zeiten der politischen Instabilität und wirtschaftlichen Rezession pflegte er nicht all zu schmeichelhaft auszufallen. Diese Zeiten scheinen aber der Vergangenheit anzugehören, denn dieses Jahr wurde Tschechien im Fortschrittsbericht überwiegend gelobt und sonnt sich im Ruhm, wieder an die Spitze der Beitrittskandidaten zurückgefunden zu haben. Dem Fortschrittsbericht gelten die folgenden Minuten, zu denen wir guten Empfang wünschen.
Zu den Prager Negativa zählt man in Brüssel die Probleme im Bereich der öffentlichen Finanzen, wo das Defizit mit beunruhigender Geschwindigkeit anwächst, sowie das ebenfalls zunehmende Defizit des Aussenhandels. Wie bekannt, hat ein ähnliches sogenanntes Zwillingsdefizit im Jahre 1997 die Währungskrise ausgelöst, die letztlich schmerzhafte Sparpakete nötig machte und das Land in die Rezession stürzte, die jetzt wieder überwunden ist. Auf der Minus-Seite verbucht die Europäische Kommission ferner die allzu zaghaften Bemühungen um eine Reform des Sozialversicherungswesens, das immer noch fehlende Gesetz über den Staatsdienst, die ungenügende Bekämpfung der Korruption und die zu langsame Reform des Justizwesens. Das Justizwesen ist dabei nur schon deshalb von Bedeutung, weil die beste Gesetzgebung nichts nützt, wenn sie nicht ausreichend durchsetzbar ist. Und der EU-Beitritt hat vor allem mit Gesetzen zu tun, handelt es sich doch vor allem um die Übernahme des gemeinsamen Rechtsbestands, des so genannten Acquis communautaire. Ein weiterer Kritikpunkt für die Brüsseler EU-Administratoren ist die tschechische Praxis bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Diese sei, so heisst es, zu wenig transparent. In der Tat ist es in letzter Zeit dazu gekommen, dass Aufträge nicht über einen öffentlichen Wettbewerb, sondern direkt vergeben wurden - erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an den Entscheid zum Bau einer Autobahn in Nordmähren oder zur Bestimmung der Beraterfirma für die Energieprivatisierung. Interessant ist, dass solche Kritik aus Brüssel in einer Zeit kommt, in der sich die Regierung energisch gegen die tschechische Wochenzeitung Respekt zur Wehr gesetzt hat, die ihr Ähnliches vorgeworfen hatte.
Wer aber ist jetzt im Hinblick auf die EU-Erweiterung nach Osten eigentlich ein Spitzenkandidat und wer nicht? Spitzenkandidaten sind, nimmt man die einzelnen Berichte aus Brüssel zum Massstab, fast alle. Denn immer mehr zeichnet sich das Szenario eines so genannten Big Bang ab, einer Erweiterungsrunde von bis zu 10 Staaten. Das heisst, dass zahlreiche Länder der sogenannten zweiten Welle oder Helsinki-Gruppe ihren Rückstand in den Verhandlungen, der dadurch entstanden war, dass sie diese Verhandlungen erst zwei Jahre später als die Länder der ersten oder Luxemburger Gruppe aufgenommen hatten, inzwischen wettgemacht haben. Zur ersten Gruppe gehören Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern, zur zweiten die Slowakei, Lettland, Litauen, Rumänien, Bulgarien und Malta. Von all diesen werden nur Rumänien und Bulgarien kaum in der Lage sein, die Verhandlungen bis Ende 2002 abzuschliessen. Ein Verhandlungsabschluss bis zu diesem Datum ist aber die Voraussetzung dafür, dass der Ratifizierungsprozess in den Parlamenten der schon bestehenden EU-Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2004, dem vorgesehenen Erweiterungsdatum, abgeschlossen werden kann.
Wie aber ist es möglich, dass Länder wie die Slowakei, Lettland und Litauen einen zweijährigen Verhandlungsrückstand auf die erste Gruppe wettmachen konnten? Die Antwort könnte darin liegen, dass es sich um relativ kleine Länder handelt, deren Aufnahme die EU vor keine besonderen strukturellen Probleme stellt und die selbst schon relativ gut vorbereitet und auch zu Kompromissen bereit in die Verhandlungen gingen und deshalb schnell vorankamen. In der ersten Gruppe haben mindestens Polen und Tschechien gewisse Verzögerungen bewirkt. Bei Polen ist es nicht zuletzt das grosse Problem der Landwirtschaft, das schwierig zu lösen ist. Weil aus politischen Gründen eine erste Runde der EU-Osterweiterung ohne Polen kaum möglich wäre, scheint man sich in Brüssel auf die unausgesprochene Regel geeinigt zu haben, mit der Erweiterung gegenüber einem ursprüglich wohl ambitiöseren Fahrplan noch etwas zuzuwarten und damit gleich auch den schnellsten Ländern der zweiten Gruppe die Möglichkeit zu geben, aufzuholen. Dies dürfte auch Tschechien zustatten gekommen sein, denn in den letzten drei Jahren hatte auch dieses Land Probleme, die nötigen Verhandlungsfortschritte zu erzielen. Grund dafür waren, wie bereits erwähnt, politische Instabilität, die die legislative Vorbereitung zwar nicht verunmöglichte, aber doch erschwerte, und volkswirtschaftliche Probleme im Zuge der Rezession.
Inzwischen bewegt sich Prag zumindest bei einigen wichtigen makroökonomischen Indikatoren schon im näheren Umfeld des EU-Durchschnitts. Die Arbeitslosigkeit lag hier im vergangenen Jahr bei 8.8%, der EU-Durchschnitt lag bei 8.2%. Das Bewerberfeld wurde in diesem Bereich von Zypern mit 3.4% angeführt, dann folgten Malta, Ungarn, Slowenien, Rumänien und Tschechien, alle mit einstelligen Zahlen. Bei den drei baltischen Staaten, Polen, Bulgarien und der Slowakei hingegen lagen die Arbeitslosenraten im Bereich von 13.7 % im Falle von Estland bis 18.6% im Falle der Slowakei. Was die Inflation betrifft, machte im Jahr 2000 unter den EU-Bewerbern Litauen mit 0.9% die beste Figur und lag mit diesem Wert sogar deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 2.5%. Tschechien fand sich hier mit Estland, beide miteinem Wert von 3.9%, gleichauf auf dem vierten Platz hinter Malta mit 2.4 und Lettland mit 2.6%. Zypern und Slowenien lagen mit 4.9 respektive 8.9% noch im einstelligen Bereich; in Ungarn, Polen, Bulgarien und der Slowakei bewegte sich die Geldentwertung zwischen 10.0 und 21.1%. Einsames Schlusslicht war hier Rumänien mit einer exorbitanten Rate von 45.7%. Weniger günstig präsentiert sich für Tschechien das Bild beim Haushaltsdefizit, gemessen in Prozenten des Brutto-Inlandproduktes. Damit bestätigt sich, dass die öffentlichen Finanzen gegenwärtig eines der grössten Problemkinder Tschechiens - und zwar nicht nur für den EU-Beitritt, sondern auch die wirtschaftliche Stabilität - sind. Den EU-Durchschnitt von 0.1% erreichte bei diesem Indikator keines der Kandidatenländer; am besten schnitten Bulgarien und Estland mit je 0.7% ab. Slowenien und Lettland vermochten sich knapp unter die 3%-Grenze, die das Maastricht-Abkommen für Teilnehmer der Währungsunion vorschreibt, zu schieben, und knapp darüber, im Bereich von 3.1 bis 3.5%, befanden sich im Jahr 2000 Ungarn, Zypern, Litauen und Polen. Rumänien verzeichnete 3.8%, Tschechien schon 4.2, Malta und die Slowakei als Schlusslichter schliesslich 6.6%.
Wie geht es weiter? Der Grundsatzentscheid fällt nächstes Jahr, wenn die EU für die Spitzenbewerber keine Fortschrittsberichte mehr ausstellt, sondern Beitrittseinladungen ausspricht. Wurde der Fortschrittsbericht deshalb in Tschechien mehrheitlich mit Zufriedenheit kommentiert, so vergass die Zeitung Mlada Fronta dnes nicht anzufügen, bei den ungelösten Problemen gehe es jetzt um die letzte Warnung zu deren Behebung. Und damit sind wir am Ende der heutigen Sendung, das nächste Mal hören Sie uns am 5. Dezember.