Präsidentschaftswahlen im Schatten Havels
In den letzten Tagen haben wir schon des öfteren über das derzeitige Thema Nummer eins der tschechischen Politik berichtet, nämlich das Ende der Amtszeit von Vaclav Havel und die Wahl eines neuen Staatsoberhauptes. Und auch nun, im letzten "Schauplatz" vor dem auf Mittwoch angesetzten ersten Wahlgang, widmen wir uns ganz diesem Ereignis. Gerald Schubert stellt sich dabei vor allem die Frage, inwieweit Havels Abgang eine Zäsur in der jüngeren Geschichte des Landes bedeutet, und ob sein Nachfolger vielleicht bereits jetzt, bevor er überhaupt gewählt ist, schon in Havels Schatten steht.
Machen wir zunächst einen Blick auf den Zeitplan rund um die Neubesetzung des Präsidentenamtes. Zwei Termine stehen dabei hundertprozentig fest: Vaclav Havel, der - zunächst als tschechoslowakisches und dann als tschechisches Staatsoberhaupt - insgesamt 13 Jahre lang auf der Prager Burg residierte, wird am 2. Februar endgültig seinen Hut nehmen. An diesem Tag läuft seine Amtszeit ab, und laut Verfassung kann er nicht nochmals kandidieren. Und bereits zweieinhalb Wochen vorher, am kommenden Mittwoch, werden die Mitglieder beider Parlamentskammern, also des Abgeordnetenhauses und des Senats, auf der Prager Burg zu einer gemeinsamen Sitzung zusammentreffen, deren einziger Tagesordnungspunkt die Wahl des Präsidenten ist.
Doch dies war, was den absehbaren Teil des Prozedere betrifft, auch schon so gut wie alles. Denn hierzulande glaubt fast niemand daran, dass bereits aus jenem ersten Wahlgang ein neuer Präsident hervorgehen wird. Sowohl die Abgeordneten als auch die Senatoren müssten sich dazu in getrennten Abstimmungen unabhängig voneinander und mit absoluter Mehrheit für ein und denselben Kandidaten aussprechen. Und dies gilt als nahezu ausgeschlossen. Erwartet wird somit ein zweiter Wahlgang, in dem nur noch zwei, nämlich die jeweils stimmenstärksten Kandidaten aus beiden Kammern, gegeneinander antreten. Doch auch hier müssen, wiederum getrennt voneinander, zwei absolute Mehrheiten für einen Bewerber entscheiden. Also kann es durchaus sein, dass es einen dritten Wahlgang geben wird. Dort würde es dann zu einer gemeinsamen Abstimmung aller Gesetzgeber kommen, was aber immer noch keine Garantie für die Kür des nächsten Präsidenten darstellt. Durch Stimmenthaltungen nämlich könnte auch in der dritten Runde die erforderliche Mehrheitsbildung blockiert werden, und alles würde wieder von vorne beginnen. Und daher gilt es immer noch nicht als völlig ausgeschlossen, dass es letztlich doch noch zu einer Verfassungsänderung kommt, und bereits der Nachfolger Havels direkt vom Volk gewählt werden könnte, wie dies viele Politiker seit langem fordern.
Wie und wann die Wahl des nächsten tschechischen Staatsoberhaupts also schließlich entschieden wird, das ist noch völlig unklar. Fest steht einstweilen nur, dass sie die Öffentlichkeit des Landes noch eine Zeitlang beschäftigen wird. Und man kann erwarten, dass die Diskussionen dabei zu einem nicht unbeträchtlichen Teil rund um eine Person kreisen werden, die, rein formal gesehen, längst aus dem Spiel ist: nämlich um Vaclav Havel selbst. Bereits jetzt zeichnet sich dies ab. Denn die Kandidaten führen zwar, weil ja nur im Parlament abgestimmt wird, keinen klassischen Wahlkampf, müssen sich aber dennoch irgendwie nach außen präsentieren. Und wie es scheint, wollen sie sich dabei oft weniger mit ihren Gegenkandidaten als mit ihrem Vorgänger messen. Wir haben Robert Schuster, er ist Politikwissenschaftler am tschechischen Institut für Internationale Beziehungen und freier Mitarbeiter von Radio Prag, gefragt, wo seiner Meinung nach die Ursachen für diese eigentümliche Situation liegen:
"Es ist wahrscheinlich in der Tat so, dass die meisten der Kandidaten, die jetzt versuchen, an Havel und seiner Amtsführung etwas falsches zu finden, vielfach nicht das Format Havels besitzen, und sich dessen auch bewusst sind. Und dass diese Leute jetzt versuchen, auf Grundlage des Amtsverständnisses künstlich ein Anti-Modell zu Havel aufzubauen. Besonders fällt das bei Petr Pithart auf, der ja eigentlich der einzige Kandidat ist, von dem man sagen kann, dass er, als ehemaliger Dissident und als Kandidat der Mitte, in der Tradition Havels steht. Havel war ja ebenfalls immer ein Mann der Mitte, der sich nicht nach links oder rechts bewegt hat, sondern immer fest in der Mitte verankert war. Bei Pithart ist das auch so. Und selbst Pithart hat - nicht ganz offen, sondern eher zwischen den Zeilen - immer wieder durchblicken lassen, dass er das Präsidentenamt, ganz plastisch gesprochen, mehr aus der Burg zum Bürger, zum Normalbürger herunterbringen will, dass er ein Bürgerpräsident sein will. Und er tut dabei so, als ob Havel eben kein Bürgerpräsident wäre, was natürlich nicht stimmt."
Der erwähnte Petr Pithart ist Christdemokrat, Vorsitzender des Senats und bereits am längsten als offizieller Kandidat im Spiel. Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die anderen Präsidentschaftsanwärter: Es sind dies der ehemalige Justizminister Jaroslav Bures für die Sozialdemokraten, der ehemalige Chef der Demokratischen Bürgerpartei ODS, Vaclav Klaus, sowie der Kommunist Miroslav Krizenecky. Doch auch andere könnten noch in das Rennen um das höchste Amt im Staat eingreifen. So hat etwa Expremier Milos Zeman angekündigt, in einem eventuellen zweiten Wahlgang antreten zu wollen. Dies würde die Situation bestimmt noch weiter verkomplizieren. Denn sowenig die Sozialdemokratische Partei geschlossen hinter Bures steht, sowenig steht sie geschlossen hinter Zeman.
Jedenfalls haben bis jetzt so gut wie alle diese Kandidaten versucht, sich auf die eine oder andere Weise explizit gegen Havel abzugrenzen. Die Kommunisten sind ohnehin die klassischen Gegenspieler des Altpräsidenten, und auch die Rivalität zwischen Vaclav Klaus und Vaclav Havel ist mittlerweile legendär. Doch wie gesagt: Es kommt auch aus anderen, Havel sonst wohler gesonnenen Reihen jede Menge Kritik an dessen Amtsführung. So werden zum Beispiel seine Alleingänge bei der Besetzung von öffentlichen Ämtern wie etwa im Verfassungsgericht beklagt. Und auch seine Praxis bei der Erteilung von Amnestien ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Mögen diese in einzelnen Fällen auch von beiden Seiten mit durchaus interessanten Argumenten geführt werden - insgesamt ergibt sich daraus doch ein Bild mit einiger Schieflage. Denn Faktum ist zum Beispiel, dass Havel während seiner gesamten Amtszeit weniger Amnestien erteilt hat, als sein kommunistischer Vorgänger Husak in einem einzigen Jahr.
Vaclav Havel; der Schriftsteller und Dramatiker; der während des kommunistischen Regimes mehrmals inhaftierte Dissident; der letzte Präsident der Tschechoslowakei, sowie der erste und bisher einzige Präsident der Tschechischen Republik: Gerade er, der im Ausland enorm hohes Ansehen genießt und in weiten Teilen der Welt beinahe als Sinnbild moralischer und politischer Integrität gilt, hat im Inland kontinuierlich an Glanz verloren. Doch in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung ist dies wohl normal. Und um Glanz geht es dort letztlich auch gar nicht. Denn dieser setzt eine gewisse Distanz vielleicht voraus: örtlich eben - oder auch zeitlich.
Zum Abschluss haben wir Robert Schuster daher um eine Einschätzung der nächsten Zukunft gebeten. Wird Havel auch in Zukunft eine Rolle spielen? Wird, nach dem er das Amt abgestreift hat, seine symbolische Rolle als Integrationsfigur des demokratischen Wandels vielleicht sogar wieder an Bedeutung gewinnen?
"Ich denke, teilweise ist das jetzt schon der Fall. Die Kandidaten, die jetzt eben oft so krampfhaft versuchen, sich von Havel abzusetzen, die wissen ganz einfach, dass Havel - auch wenn er nicht mehr Präsident sein wird - eine politische Persönlichkeit ist. Selbst wenn Havel jetzt den Rest seines Lebens in seinem Landhaus in Portugal verbringen sollte: er wird immer, wenn nicht physisch so doch irgendwie, in der tschechischen Politik quasi im Hintergrund vorhanden bleiben. Und viele der Bewerber meinen wahrscheinlich jetzt, sich von vornherein positionieren zu müssen, und vielleicht auch an dem Denkmal Havel kratzen zu müssen, um ihren eigenen Einstieg in seine Fußstapfen zu erleichtern. Jedenfalls aber denke ich, dass Havel die tschechische Politik in naher Zukunft weiterhin stark beeinflussen wird. Es fragt sich jetzt wie. Es kann sein, dass er, wie es seinerzeit etwa Gorbatschow gemacht hat, eine politische Stiftung für eine offene Gesellschaft gründet, und dann, wie er das ja bisher auch tat, Projekte zur Stärkung der Bürgergesellschaft fördern wird. Was dann natürlich die Parteipolitiker in Tschechien wieder als Angriff auf die Parteiendemokratie begreifen werden. Das heißt: Dieses alte Spiel - Havel als Anwalt der, sagen wir, offenen Bürgergesellschaft gegen die Parteien und Parteienhierarchien - dieses Spiel wird einfach weitergehen. Mit anderen Karten, mit anderen Funktionen, aber es wird weitergehen."