Prag 1989: Der Uni-Streik als intensive Erfahrung
Petra Köpplová hat im Jahr 1989 an der Prager Karlsuniversität studiert. Als Mitglied des dortigen Streikkomitees stand sie unmittelbar an den Schalthebeln des Protests.
Die Samtene Revolution begann am 17. November mit einer Studentendemonstration zur Erinnerung an Jan Opletal. Dieser war 1939 bei Protesten gegen die Nazi-Besatzung erschossen worden. Mit welchen Erwartungen sind Sie im Jahr 1989 in die Albertov-Straße gegangen?
„Meine Mutter wollte nicht allein hingehen, deshalb sollten wir mit. Es war eine Demonstration, die vom Jugendverband SSM einberufen wurde. Allerdings muss ich sagen, die Einladung kam nicht nur von offizieller Seite. Wir waren in der Albertov-Straße, und schon da sah es nicht nach einer normalen öffentlichen Veranstaltung aus. Wir sind anschließend auf den Friedhof auf Vyšehrad gegangen. Es war ganz kalt, dort hat es angefangen zu schneien. Nach einer Rede am Grab von Karel Hynek Mácha wurde entschieden, dass es weitergeht. Dann sind wir der Menge einfach bis unten zum botanischen Garten gefolgt. Dort war die Straße gesperrt, man musste umdrehen. Einige gingen weiter am Moldau-Kai entlang bis zum Nationaltheater und in die Národní třída (Nationalstraße Anm. d. Red.).“
Waren Sie dort, als die Polizei hart gegen die Studenten vorgegangen ist?
„Ja, wir waren da eigentlich eingesperrt. Da kam es zu einer ganz speziellen Situation: Meine Familie war davor schon oft bei Demonstrationen. Wir wussten also, wie wir uns benehmen mussten. Der Instinkt war da, wie man sich in der Masse bewegen soll. Wir beobachteten, was die Polizisten taten, und wussten dann, wie wir uns aus den Zusammenstößen raus halten sollten. Deswegen waren wir überrascht davon, was dort passiert ist. Wir wurden von den Polizisten eingeschlossen. Und dann wurden wir von den Sicherheitskräften zusammengepresst, weshalb sich die Masse verdichten musste. Das war beängstigend. Ich wurde an ein Auto gedrückt. Dort bin ich rauf- und auf der anderen Seite wieder runtergesprungen. Dann bin ich in einen Durchgang im Kaňka-Haus gelaufen. Die Polizisten haben dort eine enge Gasse gebildet und die Leute geschlagen. Ich hatte Glück, dass ich nicht getroffen wurde. Andere waren da schlechter dran.“
„Dann wurden wir von den Sicherheitskräften zusammengepresst, weshalb sich die Masse verdichten musste. Das war beängstigend.“
Als Reaktion auf die Gewalt haben die Hochschulen am Montag einen Streik ausgerufen. Sie waren Mitglied des Streikausschusses an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität. Wie hat sich der Ausschuss konstituiert?
„Es ging auf mehreren Linien, unabhängig. Manche Leute haben schon am Samstag etwas organisiert. Am Sonntag gab es eine Demo auf dem Wenzelsplatz, nach der wir ins Studentenwohnheim Hvězda gegangen sind. Dort wurde schon geplant, wer Mitglied des Streikkomitees sein möchte. Dann kamen wir am Montag zur Uni und es ging los.“
Was war die Aufgabe des Streikkomitees? Wie wurde seine Arbeit organisiert?
„Es war teilweise Chaos, weil man immer auf neue Geschehnisse reagieren musste. Aber andererseits war das ein Kollektiv, das gut zusammenarbeitete. Das lässt sich wirklich mit der Parole der Französischen Revolution beschreiben. Es war Freiheit, denn wir konnten vieles tun, was wir zuvor nie hätten tun können. Es war Brüderlichkeit in dem Sinne, dass wir wirklich geschlossen handelten. Das hat auch bei unserem Treffen jetzt nach dreißig Jahren funktioniert. Und dann gab es noch die Gleichheit: Wenn jemand etwas machen sollte, dann hat er das gemacht, es gab keine Unterschiede.“
Wie war damals die Kommunikation zwischen den Studenten, die etwas ändern wollten, und den Professoren? Haben die Lehrkräfte Sie unterstützt, oder gab es Konflikte?
„Beides eigentlich. Aber das war nicht überraschend. Man wusste schon vorher, wer von den Professoren und Akademikern welcher Gesinnung ist.“
Bei dem Streik wurden die Unigebäude von den Studenten besetzt. Sie hielten sich dort ganze Tage und Nächte auf. Waren sie die ganze Zeit mit dabei?
„Es war teilweise Chaos, weil man immer auf neue Geschehnisse reagieren musste. Aber andererseits war das ein Kollektiv, das gut zusammenarbeitete.“
„Das ist eigentlich eine schöne Erinnerung. Wir haben in Schlafsäcken in der Uni übernachtet. Wir hatten dort einen Raum, wo wir die ganzen Essensspenden gesammelt haben. Das war sehr angenehm, vor allem vor Weihnachten, weil alle ihr Weihnachtsgebäck vorbeibrachten.“
Eine weitere Aktivität waren die Fahrten in die Regionen, wo die Studenten die Einwohner über das Geschehen in Prag informierten. Haben Sie daran teilgenommen?
„Meine Aufgabe war eher, an der Fakultät zu sein und einige Sachen zu koordinieren. Dank meiner Sprachkenntnisse habe ich mit den ausländischen Korrespondenten gesprochen. Später bin ich zum Beispiel nach Wien gefahren, um bei den Exil-Tschechen dort Geld für den Streik zu sammeln. Wir waren auch beim ORF, dort habe ich gedolmetscht. Es gab aber auch ganz komische Situationen: Ich stand plötzlich im Gemeindehaus, und bevor ein Konzert angefangen hat, erzählte ich den Leuten, was auf der Nationalstraße passiert war. Ich hätte es zuvor nie geschafft, vor so einer großen Masse zu sprechen.“
Bis wann dauerte die Uni-Besetzung?
„Man weiß es nicht. Ich habe erst kürzlich mit Kommilitonen von damals darüber gesprochen und wir konnten uns nicht einigen. Wir waren ganz bestimmt noch am Silvestertag an der Fakultät. Für mich ist der Herbst ein bisschen anders strukturiert. Die erste Woche des Streiks war interessant. Dann kam es zu der größten Demo auf der Letná-Anhöhe, und danach hatte ich plötzlich ein Gefühl von einer verlorenen Revolution. Man konnte sehen, dass die Leute, die immer zu Hause waren und Angst hatten, sich in dem Augenblick auf die Letná begeben haben, in dem es nicht mehr gefährlich war. Mit dieser Masse konnte ich mich nicht identifizieren. Auch wenn das für die November-Bewegung ein großer Augenblick war, denke ich, dass der Generalstreik viel wichtiger war.
„Ich hätte es zuvor nie geschafft, vor so einer großen Masse zu sprechen.“
Was waren für Sie die stärksten Eindrücke aus jener Zeit?
„Das hat wieder mehrere Schichten. Eine Sache ist die Familie. Eigentlich muss ich sagen, dass meine Eltern sehr liberal waren. Sie hatten ihre eigenen Erfahrungen aus dem Jahr 1968. Dass sie uns nicht daran gehindert haben, was mein Bruder und ich gemacht haben, war für uns erstaunlich. Zudem hat man neue Freunde gefunden und Freundschaften, die man schon hatte, vertieft. Dann gab es noch eine Linie, man hat seine eigenen Werte neu festlegen müssen. Und es gab auch eine Selbstbestätigung dessen, dass man irgendwo hingehört.“