Queeres Tschechien: Nachholbedarf im Händchenhalten
In dieser Woche findet zum neunten Mal das Pride Festival in Prag statt. Die Organisatoren wollen dabei unter anderem an die sogenannten Stonewall-Aufstände erinnern. Zugleich machen sie darauf aufmerksam, dass es in Tschechien in den letzten Jahren zu einer Stagnation bei der Gleichberechtigung von queeren Menschen gekommen ist. Bis zum Ende der Stigmatisierung sexueller Minderheiten muss sich – laut den Veranstaltern der Prague Pride – noch einiges verändern.
„Ich habe das jahrelang verheimlicht. Niemand durfte wissen, dass ich eine Frau liebe und sonst niemanden will. Dieses Leben war sehr schwer. Es bedeutete, sich jeden Tag 24 Stunden zu verstellen und zu lügen.“
Vor 50 Jahren haben sich Mitglieder der LGBT-Community das erste Mal gegen ihre Diskriminierung und Kriminalisierung zur Wehr gesetzt. Schauplatz des historischen Ereignisses war die New Yorker Schwulenbar Stonewall. Bei einer Polizeirazzia protestierten die Gäste gegen die Räumung. Dies führte zu tagelangen Unruhen. Die Organisatoren der Prague Pride wollen an die Ereignisse in der Bar erinnern und stellen sie deshalb in den Mittelpunkt des diesjährigen Festivals. Bohdana Rambousková ist Pressesprecherin der Veranstaltung.
„Die Stonewall-Aufstände haben zu einer Zeit stattgefunden, in der die Grenzen der damaligen Tschechoslowakei dicht waren. Aus diesem Grund wissen viele Menschen hierzulande bis heute nicht genau, was die Stonewall-Aufstände waren. Deshalb haben wir diese Ereignisse zum Thema für die diesjährige Pride gemacht. Wir wollen den jüngeren Generationen erklären, was damals passiert ist.“
Entkriminalisierung und Schikanen
Allerdings waren die Homosexuellen vor 50 Jahren in der Tschechoslowakei in einer besseren Lage als in den USA.„Ab dem Jahr 1962 wurde Homosexualität der Tschechoslowakei entkriminalisiert. Das war eine gute Sache. Allerdings geschah das unter dem kommunistischen Regime. Auch in der Folge diente die sexuelle Orientierung aber immer wieder als Grund für die Polizei und die Behörden, Homosexuelle zu schikanieren und sie politisch zu erpressen“, so Rambousková.
Zeitzeugin Jana Kociánová weiß noch sehr genau, wie ihr Leben ausgesehen hat:
„Ich persönlich hatte das Glück, dass die meisten meiner Freunde aus der Welt des Theaters und aus anderen Bereichen der Kultur waren. Dort war vieles einfacher. Aber ansonsten musste man seine Orientierung verheimlichen und immer achtgeben.“
Die Geschichte, wie sie Jana Kociánová erlebt hat, die Gegenwart und die Erwartungen für die Zukunft sind auf den Plakaten und im Werbevideo der diesjährigen Prague Pride eng miteinander verflochten. Sie zeigen jeweils die Hände von zwei Frauen und zwei Männern, die einander entgegengestreckt sind. Einander berühren können sie sich jedoch nicht. Darüber steht der Titel: „Together Within Reach“, auf Deutsch also „Bis wir uns erreichen“. Das soll ausdrücken, dass sich viele gleichgeschlechtliche Paare auch heute noch unwohl dabei fühlen, ihre Sexualität öffentlich zu zeigen. Zum Beispiel durch einfaches Händchenhalten. Sprecherin Rambousková erläutert:„Die Kampagne und das Problem mit dem Händchenhalten sind eine Parallele zu den Stonewall-Aufständen. Denn damals ist die LGBT-Community zum ersten Mal in großer Zahl auf die Straße gegangen. Sie begann, öffentlich ihre Rechte einzufordern. Heute, 50 Jahre später, sind wir immer noch mit dem gleichen Problem konfrontiert. Viele gleichgeschlechtliche Paare bevorzugen es weiterhin, lieber nicht öffentlich Händchen zu halten. Zwar müssen sie keine Schikanen vonseiten der Polizei oder körperliche Angriffe mehr fürchten, sehr wohl aber negative Blicke und Bemerkungen.“
Die Diskriminierung von Mitgliedern der LGBT-Community ist in Tschechien also noch ein Problem. Das European Journal of Public Health veröffentlichte 2019 eine Studie. In ihr wurde die Stigmatisierung von homo- und bisexuellen Menschen in 28 EU-Ländern analysierte. Michal Pitoňák vom Nationalen Institut für psychische Gesundheit erläutert die Ergebnisse:
„Die Studie ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Tschechien sich im europäischen Vergleich in der Mitte befindet. Auf der einen Seite liegen die osteuropäischen Länder wie Russland oder Litauen, in denen sexuelle Minderheiten dazu gezwungen sind, ihre Identität zu verbergen. Auf der anderen stehen zum Beispiel Spanien, die Benelux-Länder oder Skandinavien, in denen die Menschen ihre Sexualität offen ausleben können. Tschechien lässt sich irgendwo in der Mitte verorten.“
Nicht so offen wie der Westen
Bohdana Rambousková bestätigt, dass die Liberalisierung der tschechischen Gesellschaft irgendwann stecken geblieben ist.„Die Tschechen tendieren dazu, von sich zu sagen, dass ihr Land sehr offen und tolerant sei. Es liege zwar in der Mitte Europas, sei aber ein Teil von Westeuropa. Leider galt das aber nur für die 1990er Jahre. Mittlerweile stagniert aber die Entwicklung, es herrscht eher ein Zustand wie in den osteuropäischen Ländern“, so die Prague-Pride-Sprecherin.
Den Grund für diese Stagnation sieht die Aktivistin vor allem in politischen Entscheidungen.
„Zwei Dinge sind signifikant. Zum einen ermöglichen wir gleichgeschlechtlichen Paaren keine Eheschließung. Die Kampagne für eine gleichgeschlechtliche Ehe läuft seit zwei Jahren. Zwar wurde dem Parlament ein Gesetz für die Homo-Ehe schon vorgelegt, doch die Abgeordneten weigern sich einfach, darüber zu diskutieren. Zum anderen ist die Lage für Transgender-Personen immer noch schwierig. Diese müssen sich in Tschechien weiterhin sterilisieren lassen, um ihr Geschlecht offiziell ändern zu dürfen.“
In diesem Jahr möchte das Pride Festival zum ersten Mal auf die Rechte von intersexuellen Menschen aufmerksam machen. Intersexuelle Menschen werden sowohl mit männlichen, als auch mit weiblichen Merkmalen geboren. Ihr Geschlecht passt also nicht in das noch gängige Schema von Frau und Mann. Intersexuelle Personen werden immer noch stark in ihren Rechten beschnitten. Teilweise finden auch heute noch Angriffe auf ihre körperliche Unversehrtheit statt. Bohdana Rambousková weiß:
„Leider neigen die Ärzte hierzulande dazu, diese Menschen schon als Babys direkt nach der Geburt zu operieren, so dass sie in unsere sehr binären Vorstellungen von Mann und Frau passen.“Obwohl Tschechien also noch weit entfernt ist von einer queeren Gleichberechtigung, hat sich die Situation von Mitgliedern der LGBT-Community in den letzten Jahren verbessert. Zum Beispiel können Paare seit 2006 ihre Partnerschaft immerhin offiziell eintragen lassen. Diese Verbesserungen führen aber dazu, dass es große Unterschiede gibt zwischen den unterschiedlichen Generationen innerhalb der Community. Viele LGBT-Senioren haben einen großen Teil ihres Lebens ihre Sexualität verbergen müssen. Auch Jana Kociánová hat damit Erfahrungen gemacht:
„Das gibt es bis heute. Ich weiß von einigen Freundinnen, dass sie ihre Sexualität weiter verheimlichen. Da sie unter dem kommunistischen Regime zwanzig Jahre lang lügen mussten und ihren Freunden und Kollegen nicht davon erzählt haben, dass sie Frauen lieben – oder im Fall der Männer eben Männer –, haben sie Angst. Denn heute könnten die Freunde und Kollegen vielleicht sauer reagieren, dass sie viele Jahre lang angelogen wurden.“
Angst vor spätem Coming-out
Das Projekt „Pride Life“ soll hier Abhilfe schaffen. Bohdana Rambousková:„Pride Life ist ein neuer Treffpunkt innerhalb des Festivals. Die Lage von LGBT-Senioren war für uns lange Zeit ein Problem. Wir haben darüber diskutiert. In Verbindung mit den Stonewall-Aufständen und 30 Jahren queere Bewegung in Tschechien haben wir entschieden, dass wir einen Ort für ältere LGBTs eröffnen müssen. Ein Ort, an dem sie zusammenkommen und diskutieren können.“
Ganz allgemein ist es auch für Menschen anderer Orientierung wichtig, dass sie ihre Sexualität offen ausleben können. Andernfalls kann das auch dramatische Folgen haben, wie Michal Pitoňák weiß:
„Man stigmatisiert sich selbst, was Teil des Drucks und Stresses ist, dem Minderheiten ausgesetzt sind. Dieser Stress erfordert zusätzliche Ressourcen, und in manchen Fällen ist das der Grund dafür, das sexuelle Minderheiten ein über doppelt so hohes Risiko für Depressionen, Angststörungen, Drogenmissbrauch und im schlimmsten Fall sogar Suizid haben.“
Diese Worst-Case-Szenarien sollen verhindert werden. Laut Bohdana Rambousková kann jeder dazu beitragen, die Situation queerer Menschen zu verbessern:
„Wichtig ist, sich mit der Community zu verbünden. Also als heterosexuelle Person nicht nur zu sagen, dass man für die LGBT-Rechte ist, sondern das auch öffentlich zu zeigen. Man kann mit Parlamentsmitgliedern darüber sprechen, dass man die gleichgeschlechtliche Ehe unterstützt. Man kann Petitionen gegen das Transgender-Gesetz unterschreiben. Und man kann natürlich auch zur Prague Pride kommen, um zu zeigen, dass eine große Zahl von Menschen sich für die Rechte der LGBT-Community einsetzt.“
Die Pride Parade findet am Samstag, 10. August statt. Wer teilnehmen möchte, kann sich ab 11.30 Uhr auf dem oberen Teil des Wenzelsplatzes einfinden. Von dort startet um 12.30 Uhr dann der Umzug.