Zwischen West und Ost: Die Lage der LGBTQIA+ in Tschechien

Die Lage der LGBTQIA+ in Tschechien

Auch wenn zwei Drittel der tschechischen Bevölkerung für die Ehe für alle sind, hat der entsprechende Gesetzentwurf im Abgeordnetenhaus für lebhafte Diskussionen gesorgt. Es wurde sogar ein Gegenentwurf eingebracht, durch den in der Verfassung nach dem Vorbild von Polen, Ungarn, Russland oder der Slowakei die Ehe als ein Bündnis zwischen Mann und Frau verankert werden soll. Wieso spaltet die Diskussion um die rechtliche Stellung von LGBTQIA+ die politische Szene? Und wie sehen queere Menschen selbst die Situation in Tschechien? Das sind Fragen für die dritte Folge des Podcasts „Sechsmal Tschechien“, der in Kooperation mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung entsteht.

„Sechsmal Tschechien“ – ein Podcast, sechs Folgen, sechs Themen
https://www.slpb.de/veranstaltungen/veranstaltungsreihen/podcast-sechsmal-tschechien

Auf das untere Ende des Prager Wenzelsplatzes strömen nach und nach immer mehr Menschen. Überall sind Regebogenfarben zu sehen. Hier hinten, in der Mitte des Platzes, sehe ich eine riesige Regenbogenflagge. Sie liegt aktuell noch auf dem Boden, aber rundherum stehen bereits um die 20 Menschen, die die Flagge wohl gleich bei dem Umzug tragen werden. Jeden Augenblick beginnt hier der 13. Jahrgang der Prague Pride – ein Marsch, bei dem gleiche Rechte für alle Menschen gefordert werden, ganz egal welche sexuelle Orientierung oder welche Gender-Identität man hat.

Foto: Tom Bílý,  Prague Pride

Hallo, Sie gehen scheinbar auch auf die Prague Pride. Warum unterstützen Sie diesen Umzug?

„Wir gehen natürlich auf die Pride, weil wir schwul sind, genauso wie alle unsere Freunde. Die Aktion hier macht einfach Spaß. Wir kommen schon seit fünf Jahren hierher, die Atmosphäre ist immer super. Aber es geht nicht nur um das Vergnügen, sondern auch um die Menschenrechte. Wir kämpfen nämlich für die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare.“

Und wie sehr freuen Sie sich auf den Umzug?

„Wir freuen uns sehr. Die Stimmung hier ist super. Ich muss nur immer darüber nachdenken, dass wir bis nach oben auf die Letná-Anhöhe sehr viele Treppen zu steigen haben werden!“

Wie sehen Sie die Stellung von LGBTQIA+ in Tschechien? Wo besteht am meisten Nachholbedarf?

„Vor allem bei der Regierung. Wenn sie sich auch dafür einsetzen würde, dann dürfte das auch Einfluss auf die breite Bevölkerung haben. Außerdem können gleichgeschlechtliche Paare immer noch nicht heiraten. Und für Trans-Personen ist es sehr schwierig, beim Amt ihr Geschlecht ändern zu lassen.“

Das sollte sich also verbessern… Und dafür wollen Sie heute einstehen?

„Ganz genau.“

Foto:  Prague Pride Festival

Ein weiterer Mann hat eine große Regenbogenfahne dabei…

Darf ich fragen, warum Sie heute hier sind?

„Ich komme jedes Jahr hierher. Mir macht das einfach Spaß.“

Wie schätzen Sie die rechtliche Stellung von queeren Menschen in Tschechien ein? Woran mangelt es am meisten? Was sollte sich ändern?

„Im Vergleich zu vor ein paar Jahren hat sich unser Leben wesentlich zum Guten gewandelt. Das steht ganz außer Frage. Wir sehen aber auch, dass viel Unsicherheit herrscht – vor allem, wenn man sich anschaut, welche Auswirkungen manche Meinungen aus Osteuropa haben. LGBTQIA+ müssen deshalb weiter kämpfen. Derzeit geht es dabei vor allem um die Ehe für alle.“

Der farbenfrohe Umzug der Prague Pride hat sich mittlerweile in Bewegung gesetzt. Nach einem Marsch durch die Straßen der Altstadt und über eine Moldaubrücke erreichen die Teilnehmer*innen den Letná-Park. Dort spreche ich eine Frau an.

Guten Tag, haben Sie am ganzen Umzug teilgenommen?

„Ja, wir sind vom Wenzelsplatz bis hier oben auf die Letná-Anhöhe mitgelaufen.“

Wie sehen Sie die Lage von LGBTQIA+ in Tschechien? Denken Sie, dass sie gute Bedingungen haben? Oder sehen Sie hingegen eine Menge Luft nach oben?

„Die Lage ist nicht gut. Es gibt ein juristisches Vakuum. Wir wünschen uns eine neue Rechtsprechung, durch die die Rechte von queeren Menschen mit denen von heterosexuellen Paaren und Familien gleichgesetzt werden. Denn für Regenbogenfamilien mit Kindern führt die gegenwärtige Lage zu viel Stress.“

Frühe Entkriminalisierung

Michal Pitoňák | Foto: Thomas McEnchroe,  Radio Prague International

An dem Umzug sollen den Angaben zufolge bis zu 60.000 Menschen teilgenommen haben. Wie mehrere Teilnehmer*innen sagten, ist die Ehe für alle in Tschechien gerade ein wichtiges Thema. Als erster Schritt wird dabei oft die Entkriminalisierung der Homosexualität angesehen, zu der es 1961 in der sozialistischen Tschechoslowakei kam. Der Biologe und Sozial-Geograph Michal Pitoňák forscht am Nationalen Institut für seelische Gesundheit (Národní ústav duševního zdraví). Er sagt:

„In der Tschechoslowakei wurde Homosexualität ab dem Beginn der 1960er Jahre nicht mehr bestraft. Das hing auch mit einigen Gerichtsprozessen zusammen, die als ungerecht angesehen wurden. Zudem war die Sexualwissenschaft in der Tschechoslowakei recht weit fortgeschritten. Dank fortschrittlicher Sexologen ist den Menschen klargeworden, dass Homosexuelle keine Störung haben und sie deshalb auch nicht verfolgt werden sollten.“

Zum Vergleich: In der DDR wurde die Homosexualität erst 1968 legal, in Westdeutschland sogar noch einige Jahre später. In allen Fällen galt dabei eine Altersgrenze von 18 Jahren. Eine weitere Verbesserung für die Stellung gleichgeschlechtlicher Paare trat erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein.

Foto: Prague Pride

„Nach 1989 entstanden in der Tschechoslowakei – und später in der Tschechischen Republik – schnell Organisationen, die für Gleichberechtigung eintraten. Sie forderten unter anderem eine Senkung der ungleichen Altersgrenze für Geschlechtsverkehr von 18 auf 15 Jahre, und sie machten sich stark für den Schutz gegen sexuell übertragbare Infektionen. In den 1990er Jahren öffneten sich die Grenzen, und dadurch erlebte die Prostitution einen großen Aufschwung. Tschechien wurde als slawisches Land gesehen, das für die gut betuchten Kunden aus dem Westen recht erschwinglich war. Die NGOs beschäftigten sich damals vor allem mit der Frage, wie die Angehörigen sexueller Minderheiten ein sicheres Leben führen können. Zu dieser Zeit wurden auch erstmals Rufe danach laut, gleichgeschlechtliche Paare als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen, die ein Recht darauf haben, eine Ehe einzugehen“, so Pitoňák.

Im Laufe der 1990er Jahre tauchten gleich mehrere Anträge auf, homosexuelle Ehen anzuerkennen. Keiner wurde aber angenommen. Einen Teilerfolg konnten die Befürworter erst 2006 verzeichnen. Damals wurde das Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft beziehungsweise die registrierte Partnerschaft verabschiedet. Michal Pitoňák sagt:

„Erst im ungefähr fünften Entwurf wurde das Gesetz 2006 angenommen – und das in einer Minimalversion. Die Vorlage umfasste nämlich eine Bedingung, die die Fraktionen der Bürgerdemokraten und der Christdemokraten durchsetzten. Dadurch wurde registrierten Partnern explizit verboten, eine Adoption zu beantragen. Und dies galt auch für jeden der Partner individuell.“

Adéla Horáková | Foto: Ian Willoughby,  Radio Prague International

Diese Regelung hat zu einer absurden Lage geführt, wie die Juristin Adéla Horáková von der Initiative Jsme fér (Wir sind fair) an einem konkreten Beispiel darlegt:

„Wenn man homosexuell war, aber keine Lebenspartnerschaft eingetragen hatte, konnte man als Alleinstehender ein Kind adoptieren. Sobald man aber eine Partnerschaft registrieren ließ, verlor man dieses Recht. Für einen normalen Menschen muss das doch absurd klingen. Aber dieses Vorgehen ist leider symptomatisch für die Gesetzgebung in Tschechien, was die Rechte von LGBTQIA+ angeht. Es kommt zwar zu kleinen Zugeständnissen, gleichzeitig soll uns aber auch das Leben schwerer gemacht werden – und eine wirkliche Gleichberechtigung rückt so in weite Ferne. Das Verbot individueller Adoptionen bestand zehn Jahre lang und wurde erst durch ein Urteil des Verfassungsgerichts geändert.“

Widerstand gegen gleichgeschlechtliche Ehe

Auch nachdem diese strittigen Bedingungen angepasst worden seien, bestünden aber weiterhin spürbare Unterschiede zwischen Ehe und registrierter Partnerschaft, erläutert Pitoňák:

„Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist im Grunde ein formeller Rechtsakt. Man braucht keine Zeugen, man braucht im Grunde gar nichts. Sie bringt keinen Anspruch auf eine Namensänderung mit sich, diese muss erst gesondert beantragt werden. Es entsteht auch keine Gütergemeinschaft. Wenn einer der Partner stirbt, steht dem Hinterbliebenen keine Witwenrente zu. Anders ist das, wenn einer von zwei Ehepartnern ums Leben kommt. Dann rechnet das System mit der zweiten Person, und es entsteht ein Anspruch auf Unterstützung. Bei eingetragenen Lebenspartnern ist das nicht so.“

Illustrativesfoto: Bhakti Kulmala,  Pixabay,  Pixabay License

Adéla Horáková macht noch auf einen weiteren zentralen Unterschied aufmerksam: So bietet die Lebenspartnerschaft aktuell nicht die gleichen Rechte wie eine Familie.

„Kinder, die mit zwei Müttern oder Vätern aufwachsen, wachsen rechtlich in einem schlechteren Umfeld auf als der Nachwuchs eines heterosexuellen Paares. Die Kinder gleichgeschlechtlicher Paare haben damit kein Problem, sie sehen beide Elternteile als ihre Eltern an, als zwei Mütter oder Väter. Vor dem Gesetz gestaltet sich das jedoch anders. Einer der beiden Elternteile gilt im Grunde als Mitbewohner. Es ist schon absurd, dass sich Menschen, die sich gegen die Rechte von Familien stellen, auf einmal den Rechten von Kindern verschreiben. Damit meine ich die Vertreter der Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie, die Christdemokraten, die Bürgerdemokraten und einen großen Teil der Partei Ano. Sie alle behaupten, sie wollten die Kinder beschützen. In Wahrheit tun sie jedoch das Gegenteil: Sie schaden ihnen. Die Kinder rufen: ‚Schützt unsere Familien, erkennt unsere beiden Eltern an.‘ Aber diese Politiker sagen: ‚Wir schützen euch, indem wir eure Eltern nicht anerkennen‘“, so die Juristin.

Wieso spaltet die Diskussion um die rechtliche Stellung von LGBTQIA+ die politische Szene? Welches ist die Rolle der katholischen Kirche in der Debatte? Und wie ist die Lage queerer Menschen in Tschechien im internationalen Vergleich? Die vollständige Version des Podcasts ist auf unserer Website und in allen gängigen Podcast-Apps verfügbar. In der nächsten Folge wird es um die Lage der nationalen Minderheiten in Tschechien gehen.

Autor: Filip Rambousek
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