„Schließen Sie die Augen...“ - Kristian, Kinoheld der kleinen Leute
Wir schreiben das Jahr 1939. Deutschland hat den restlichen Teil der Tschechoslowakei besetzt, der von nun an Protektorat Böhmen und Mähren heißt. Die Tschechoslowakei existiert nicht mehr. In den Prager Filmstudios Barrandov wird jedoch weiter gedreht. Es entsteht eine fröhlich-melancholische Komödie mit dem Titel „Kristian“. Dieser Film machte tschechische Kinogeschichte. Noch heute sind den Menschen manche Textpassagen ein Begriff. Es ist die Geschichte des kleinen Angestellten Alois Novák, der einmal im Monat seinem Leben Würze verleiht, indem er in der Gesellschaft der Orient Bar als geheimnisvoller Charmeur Herr Kristian in Erscheinung tritt.
Alles gerät in fliegende, eingespielte Bewegung. Alle Bediensteten der Orient Bar scheinen nur für den eleganten Herrn Kristian da zu sein. Der Oberkellner geleitet den Gast zu seinem angestammten Platz. Der Champagnerkorken knallt, das Orchester setzt an und spielt das Lied von Herrn Kristian.
Alles läuft wie am Schnürchen. Und das ist kein Wunder. Er gehört nicht nur zu den besonders gut zahlenden Gästen, sondern ist auch geheimnisumwoben. Man weiß über ihn nichts. Nur, dass er Herr Kristian genannt wird und an jedem ersten eines Monats in die Orient Bar kommt. Eines wissen die diskreten Bediensteten der Orient Bar allerdings doch: Herr Kristian kommt, um zu verzaubern und zu verführen. Jedesmal eine andere, aber immer geht er allein nach Hause. Ein platonisches Vergnügen für Augenblicke.
So sieht das Leben von Alois Novák ein Mal im Monat aus. Die restlichen Tage verbringt er hinter dem Orient-Afrika-Schalter eines Reisebüros als kleiner Angestellter oder zu Hause bei seiner Frau Mařenka, einer einfachen Hausfrau, wie sie im Buche steht.
An diesem Abend, dem Monats Ersten, als Alois alias Kristian wieder in die Orient Bar kommt, da wird ihm Zuzana, die Bekanntschaft dieses Abends, zum Verhängnis. Aber zunächst läuft alles wie gewohnt. Kristian lockt Zuzanas Begleiter mit einem fingierten Telefongespräch aus der Bar, setzt sich zu ihr und beginnt sie zu umgarnen. Noch wehrt sie sich, steht auf und will gehen. Aber Kristian kennt die Frauen. Ein Blickkontakt mit dem Kapellmeister und das Orchester setzt an. Er greift nach Zuzana und sie gleiten im Slowfox über das Parkett. Ihr Widerstand ist gebrochen, als er sein Lied zu singen beginnt: „Jen pro ten dnešní den“ - nur für den heutigen Tag.
Kristian tanzt Zuzana ins orientalische Separee, wo er sie umwirbt mit seiner kristianschen Philosophie: „Dieser Augenblick ist wunderbar. Wir müssen ihn ergreifen und uns aufbäumen gegen das alltägliche Allerlei. Wir haben kein Recht so einen Augenblick verstreichen zu lassen.“ Als sie antwortet: „Ja, kommen Sie!“, da ist es Zeit für seinen Trick. Er werde vor der Bar auf sie warten - aus Diskretion. Dann gleitet seine Hand über ihre Augen und er flüstert:
„Zavřete oči – odcházím...“, schließen Sie die Augen – ich geh...
...und ist verschwunden. Eine aus seiner Tasche gefallene Visitenkarte jedoch bringt Zuzana auf Kristians, also auf Alois´ Spur. Sie bricht in sein wirkliches Leben ein, stellt es auf den Kopf bis Kristian merkt, dass man sich selbst nicht entfliehen kann. Das Happy End - die Rückkehr zu seiner Frau und zu sich selbst - steht bevor.
Vor einigen Jahren hat das Tschechische Fernsehen eine Umfrage durchgeführt: Welches sind die bekanntesten tschechischen Filmzitate? „Zavřete oči – odcházím...“, schließen sie die Augen – ich geh, das war der Satz, der am häufigsten fiel. Obwohl der Film „Kristian“ fast 70 Jahre alt ist, kennt ihn auch heute noch fast jeder Tscheche. 1939 wurde er gedreht, kurz nachdem Hitlers Wehrmacht in die Tschechoslowakei einmarschiert war. Der Filmhistoriker Pavel Taussig:
„Diese Zeit war ein markanter Moment in der Geschichte der tschechischen Kinematografie, der zugleich eine gewisse Charaktereigenschaft der tschechischen Nation offenbarte. In der Zeit des Protektorates wurden vor allem fröhliche Stücke, also Komödien gedreht - gleich von Beginn der Okkupation an. Man kann sagen, wenn die Begeisterung für den Kampf und den Widerstand bei den Tschechen abebbt, dann wollen sie sich im Gegenteil amüsieren und vergessen. Und dafür ist der Kinofilm natürlich wie gemacht. Es genügt sich zu vergegenwärtigen, worüber Kristian im Tanz-Wirbel mit Zuzana singt. Darin liegt die ganze Poetik, die ganze Philosophie des Lebens und Überlebens von einem Tag zum anderen oder – wie in diesem Film - nur für den einen Tag.“„Jen pro ten dnešní den.... - Nur für den heutigen Tag lohnt es sich zu leben. Seine Ruh zu haben, sich nach nichts zu sehnen. Nur für den heutigen Tag, vielleicht für Ihr Lächeln, wird sich das Leben in einen Traum verwandeln, an dem Tag, an dem Du Deinem Glück begegnest. Du darfst nicht fragen, was gestern war, das wird auch morgen wieder sein. Den heutigen Tag zu ergreifen, und zu begreifen, dass der schönste Tag nur der heutige Tag ist.“
Der Kristian wurde von Oldřich Nový gespielt, der auch das Filmprojekt fest in seiner Hand hatte. Nový würde nach heutigen Maßstäben eher einen Schwerenöter am Rande der Midlife-Krises abgegen. Damals sah das Ideal noch anders aus, wie Filmhistoriker Taussig weiß. Und Nový hatte eben auch Führungsqualitäten:
„Oldřich Nový war damals ein großer Star. Nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Intendant seines ´Neuen Theaters´ in Prag, das er sehr gut führte. Seine Führungspersönlichkeit zeigte sich auch bei den Dreharbeiten. Und die Erscheinung der Figur des Kristian lag ihm sehr am Herzen.“
Nur 23 Drehtage in den Prager Barrandov-Studios unter der Regie von Martin Frič, nur 700.000 Kronen Produktionskosten - was im Vergleich mit anderen Filmprojekten recht wenig war - aber ein Riesenerfolg. Kleine Ungereimtheiten im Drehbuch konnten den Erfolg nicht schmälern, lassen aber schmunzeln: In der Separee-Szene mit Zuzana schwärmt Kristian verlockend von seinen Reisen in exotische Länder. Er bietet ihr eine Zigarette an und sie fragt, was das für Zigaretten seien. Er antwortet:
„Es ist die letzte Erinnerung von meiner Ägyptenreise. Ich erinnere mich noch klar an den Augenblick, als ich sie mir in Kairo gekauft habe. Es war eine tropische Nacht, die Palmen rauschten, das Meer sang sein Wiegenlied...“
„Es ist bemerkenswert“, so Filmhistoriker Taussig, „dass Kristian in Kairo das Meer singen hörte. Er muss ein sehr gutes Gehör gehabt haben. Denn diejenigen, die sich in Geografie ein wenig auskennen, die wissen, dass Kairo 123 Kilometer vom Meer entfernt liegt. Wir werden sicherlich nicht mehr erfahren, ob das Absicht oder ein Versehen war. Ob Kristian sich in seinen Verführungskünsten sogar solcher Lügen bediente oder ob es einfach Unkenntnis der Drehbuchschreiber war.“
Kristian hat Verehrer in allen Zuschauer-Generationen. Es gibt sogar einen „Klub Kristian“ in Prag, der die Liebhaber alkoholischer Cocktails vereint. Der Klub wurde noch zu Lebzeiten Oldřich Novýs gegründet, der auch eine Art Zehn Lebens-Gebote für diese Bar geschrieben hat – ganz in der Art seiner Verführungs-Philosophie, wie zum Beispiel:
„Um große Dinge schaffen zu können, müssen wir leben, als sollten wir nie sterben.“
Auch unter den Kommunisten hatte der Kristian seine Anhänger. Allen voran der damalige Präsident Antonín Zápotocký, wie Filmhistoriker Pavel Taussig erzählt:
„Als er eines Tages einen Staatspreis an Oldřich Nový verlieh, sagte er verträumt zum Schauspieler: ´Ja, Genosse Nový, Kristian, in jedem von uns ist ein Stückchen Kristian´.“