"Spätlese" - Reflexion der Kriegs- und Nachkriegsverfolgung
Eine der zahlreichen Veranstaltungen, die im Laufe dieses Jahres zum Andenken an den 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs stattfinden, ist auch das Projekt "Pozdni sber.cz" ("Spätlese"). Im Rahmen von Theatervorstellungen und Dokumentarfilmen, Ausstellungen, Vorträgen und Diskussionen wollen seine Organisatoren die Verfolgung in den Kriegs- und Nachkriegsjahren reflektieren. Mehr dazu erfahren Sie im heutigen Kultursalon, den Markéta Kachlíková für Sie gestaltet hat.
Zur Vorgeschichte des Projekts Pozdní sber.cz gehört das sozial und politisch engagierte Schaffen der Bürgervereinigung MEZERY ("Lücken"). Sie wurde vor sechs Jahren vom Theaterregisseur, -autor und -produzenten Miroslav Bambusek in der nordböhmischen Stadt Louny (Laun) gegründet. In diesem Jahr ist die Bürgervereinigung nach Prag umgezogen. In einer ehemaligen Aluminiumfabrik im Stadtteil Holesovice, die in einen Kulturraum verwandelt wurde, will sie ihre kulturpolitische Aktivität weiter entfalten. Die erste Veranstaltung stellt uns ihr Initiator, Miroslav Bambusek, vor:
"Das Projekt heißt ´Pozdní sber´ (´Spätlese´). Sein Inhalt ist eine Reflexion der tschechischen Vergangenheit zwischen den Jahren 1939 und 1954. Das heißt der Zweite Weltkrieg und die damit verbundene Verfolgung, das Ende des Zweiten Weltkriegs und die damit verbundene Verfolgung von der anderen Seite, sowie die Prozesse, die von dem Einzug gehaltenen kommunistischen Regime geführt wurden. Das Hauptthema der ´Spätlese´ ist der Zusammenstoß zweier Ideologien: die des Nazismus und des Kommunismus. Alles wird sich auf der Grundlage der Bühnendokumentationen abspielen."
Die erste Veranstaltungsreihe mit dem Namen "Persekution" gilt der Verfolgung und Aussiedlung der tschechischen Bevölkerung zur Zeit des Protektorats Böhmen und Mähren, aber auch der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit. Im Jahr 2006 wird die zweite Phase unter dem Titel "Prozesse 1948 - 1954" folgen.
Die Form, die diese Reflektion ermöglichen soll, ist - wie wir bereits gehört haben - die so genannte Bühnendokumentation."Diese Form ist in Tschechien bisher nicht besonders üblich. Die tschechischen Künstler tun es nicht, sich mit ihrer Geschichte zu befassen, diese zu reflektieren, Quellen zu studieren. Dabei ist es von grundlegender Bedeutung, dass am Anfang Quellen, Dokumente sowie Fachleute, d.h. Historiker und Politologen, stehen. Sie befassen sich mit dem Thema seit Jahren und geben Publikationen heraus, die allerdings wenig gelesen werden. Punkt zwei ist ein kreatives Team. Gesucht wird vor allem ein Dramatiker, dessen Aufgabe es ist, das Quellenmaterial zu studieren und es mit einer künstlerischen Lizenz, in einer dramatischen Form zu bearbeiten."
Das ist die erste Schicht der Bühnendokumentation, sagt Miroslav Bambusek. Eine weitere Ebene ist die Veröffentlichung von konkreten Foto-, Film-, Text- und Tonmaterialien im Rahmen einer Bühnenaufführung des dramatischen Textes. Kurzum eine Verknüpfung einer Kunstform mit dem Film als Dokument, mit Fotografien, aber auch mit der Anwesenheit von Experten auf der Bühne.
"Sie können es sich als eine Form vorstellen, wo Schauspieler nicht nur als Figuren in einer Geschichte, sondern gleichzeitig auch als Kommentatoren bestimmter Ereignisse u. dgl. auftreten."
Das erste Werk, das im Rahmen des Projekts in der "La Fabrica" aufgeführt wird und sozusagen sein Pfeiler ist, ist das Bambusek-Stück "Porta Apostolorum". Sein Hauptthema ist ein Massaker, zu dem es unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an einigen hundert deutschen Bürgern in der nordböhmischen Stadt Postoloprty (Postelberg) gekommen ist:
"Porta Apostolorum ist sozusagen ein Muster für andere Autoren, die sich anschließen. Das Stück entstand auf einem weit breiteren Grundriss als nur die Causa Postoloprty. An Stelle dieser Stadt stand früher ein Benediktinerkloster namens Porta Apostolorum, also Aposteltor. Es ist ein Ort in Böhmen, am Rande des Sudetenlandes, etwa 30 Kilometer von Chomutov/Komotau entfernt. Seit dem 17. Jahrhundert lebten dort die deutsche und die tschechische Bevölkerung nahezu reibungslos zusammen. Und wovon handelt das Stück? Davon, wie es aussehen kann, wenn die politischen Bedingungen in einer Stadt anders werden, welchen Einfluss das auf die Nachbarn, die bisher zusammen geangelt haben, haben kann. Es behandelt solche Dinge wie die Rache an falschen Personen und die Suche nach einem repräsentativen Opfer. Ich bin in keinem Fall dagegen, dass konkrete Menschen für konkrete Sünden und Gewalttaten zur Verantwortung gezogen werden und dafür büßen müssen. Das auf keinen Fall. Ich bin aber prinzipiell dagegen, dass die vom Zweiten Weltkrieg betroffenen Leute, die Tschechen, sich an ihren Nachbarn, an der Zivilbevölkerung rächen. Davon handelt eigentlich das Stück."
Es handelt sich um eine Rekonstruktion der Begebenheiten in Postoloprty vom 18. Mai bis 3. Juni 1945. Im Laufe von vier Nächten sind dort an die 800 Zivilisten umgekommen. Wie konnte so etwas passieren? Gerade diese Frage wird im Stück gestellt. Miroslav Bambusek knüpft damit an ein anderes, verwandtes Thema an, mit dem er sich in der Vergangenheit beschäftigt hat.
"Ich habe noch vor einem Jahr ein anderes Projekt gemacht. Es trägt den Titel 'Balkanische Saison'. Ich wollte eine Reflexion der Bürgerkriege auf dem Balkan im tschechischen Milieu ermöglichen. Ein Mittel dazu waren balkanische Theaterstücke, die sich damit befassen. Ich war immer daran interessiert, die Kultur mit der Politik und dem sozialen Sektor zu verknüpfen. Dies gehört zusammen. Die Kultur an sich ist toll, in der heutigen Zeit hat sie meiner Meinung nach jedoch allein keinen großen Sinn. Sie muss sich auf eine bestimmte Sicherheit stützen, die sie schaffen muss. Wenn wir unsere Fehler nicht reflektieren, wenn wir auf politische Missstände nicht hinweisen, werden wir keine Kultur haben. Also diese Verknüpfung des kulturellen, politischen und sozialen Bereichs entstand eigentlich mit Blickrichtung auf den Balkan. Danach habe ich überlegt, was weiter. Es wurde mir klar, dass es gut wäre, sich auf sich selbst, auf uns, auf die Tschechen zu konzentrieren."
Das Projekt "Pozdní sber. cz" steht nun in seinen letzten Vorbereitungen. Es beginnt mit der Aufführung von "Porta Apostolorum" am 28. Mai 2005 in der Stadt Postoloprty und soll dann zwei Jahre lang in Prag realisiert werden.