Sterben ohne den Feind zu sehen – tschechische Kriegstagebücher 1914-18

Foto: xkomczax, Free Domain

Der Erste Weltkrieg spielte sich zwar nicht auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens ab, doch das Leben der Menschen hat er dennoch sehr beeinflusst. Auch die Tschechen mussten für den Kaiser kämpfen – zu Kriegsbeginn 1914 noch mit einer gewissen Loyalität zur k.u.k. Monarchie. Später änderte sich dies dann aber. Einiges dazu lässt sich auch in den Kriegstagebüchern von tschechischen Soldaten widerfinden. Zwar gibt es nicht viele solcher Aufzeichnungen, umso wertvoller sind sie aber.

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Fast auf jedem Dorfplatz in Tschechien befindet sich ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Genaue Zahlen stehen zwar nicht zur Verfügung, den Schätzungen nach kamen aber zwischen 1914 und 1918 etwa 250.000 Männer aus Böhmen, Mähren und Schlesien auf den Schlachtfeldern ums Leben. Im Einsatz waren sie praktisch an allen europäischen Kriegsschauplätzen: vom Balkan bis Russland, von Italien bis Frankreich. Jahrzehntelang wurde nicht öffentlich an sie erinnert: In der Zwischenkriegszeit wurden nur die Legionäre hervorgehoben, die aus der k.u.k. Armee desertiert waren und dann an der Seite der Entente gekämpft hatten. Und danach stellte der Zweite Weltkrieg mit seiner bislang unerhörten Brutalität den vorherigen Konflikt in den Schatten.

Kamil Raichl
Privat vergaßen die Menschen hierzulande jedoch nicht das Schicksal ihrer Familienmitglieder. Häufig hüteten die Verwandten die Kriegstagebücher der Soldaten wie ihren eigenen Augapfel. 100 Jahre nach Ausbruch des „Großen Krieges“ bestehen auch Projekte, bei denen die Notizen von Soldaten im Internet veröffentlicht werden. Kamil Raichl wird beispielsweise 1915 rekrutiert und in Serbien eingesetzt. Am 17. November desselben Jahres notiert er:

„Am Morgen ein schreckliches Schneegestöber mit Regen. Wir steigen in die höchsten Berge Mittelserbiens hinauf. Jeden Moment halten wir ein. Jeder von uns ist von der schweren Last verschwitzt - am Rücken haben wir die Flinte, 200 Patronen, Proviant, Wäsche, Zelt usw. Der Regen hört langsam auf, nun schneit es nur noch ununterbrochen. Die Sicht beträgt ein paar Meter. Die nasse Kleidung friert an uns fest. In 2000 Meter Meereshöhe quälen wir uns einen schrecklich steilen Hang hinauf, wir kriechen eher auf allen Vieren. Dann kommt der Befehl: Zurück! Also nach unten, dann wider nach oben. Neben mir fällt ein Soldat mit einem schrecklichen Schrei zum Boden, sein Gesicht ist gelb wie eine Zitrone. Niemand kann sich um ihn kümmern, er wird bloß in den Graben gezogen. Schrittweise bleiben andere zurück, alle durch und durch gefroren. Sie sterben, ohne den Feind überhaupt gesehen zu haben.“

Kamil Raichl beschreibt weiter, wie seine Einheit in ein Dorf kommt und dort unerwartet freundlich empfangen wird. Doch im Verlauf des Kriegseinsatzes werden seine Notizen immer kürzer. 1916 nehmen die k.u.k. Truppen Italiener gefangen, und Raichl notiert ein Rätsel:

„Ein serbischer Soldat fragt seinen Kameraden: Es hat Federn, ist aber kein Vogel. Es hat eine Flinte, ist aber kein Soldat. Es ist ängstlich, aber kein Hase. Was ist das? Ein italienischer Soldat!“

Kriegstagebuch von Kamil Raichl
Bis zum Ende des Krieges wird Raichl in Italien eingesetzt, wo er zunächst vom Einsatz an der Front verschont bleibt. Im November 1917 beginnen die Schlachten an der Piave zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland auf der einen Seite und Italien mit seinen Verbündeten auf der anderen Seite. Raichl wird dabei gefangen genommen, und in der Gefangenschaft erlebt er auch das Ende des Krieges.

Solches Glück hatten aber nicht alle. František Huryta kommt zum Beispiel 1914 an die russische Front, wo er in Gefangenschaft gerät. In Sibirien muss er dann in der Landwirtschaft und beim Eisenbahnbau arbeiten. 1915 stirbt er wahrscheinlich an den Folgen eines Unfalls. Sein Tagebuch wird wohl von Hurytas Kameraden an dessen Ehefrau in die Heimat geschickt. Dort lassen sich Passagen wie folgende lesen:

František Zelený  (Foto: Archiv Post Bellum)
„Pfingsten ist hier in Sibirien so herrlich, alles blüht und duftet. Das Fest dauert hier länger als bei uns: von Freitag bis Montag. Am Samstag wurde auch noch der Geburtstag des Zaren gefeiert. Es wurden Kuchen aus weißem Mehl gebacken. Die Männer waren fast alle betrunken und manche rauften miteinander. Sonst geht es mir ziemlich gut. Das alte Ehepaar, bei dem ich wohne, ist nett, der Greis bringt oft Pilze nach Haus, die die Alte mir dann kocht. Sie ist ein bisschen dumm und vor allem ein Schmutzfink, aber darauf darf man nicht achten.“

Neben den unmittelbaren Tagebuchaufzeichnungen bestehen auch zahlreiche Erinnerungen von Teilnehmern des Ersten Weltkrieges - einige wenige sogar in Audio-Form. Eine von ihnen stammt von František Zelený. Er war während des Krieges zur tschechoslowakischen Legion übergelaufen und gelangte bis nach Wladiwostok, also bis an den östlichsten Teil des Russischen Reiches. Irgendwann in den 1970er Jahren packte Zelenýs Sohn ein Spulentonbandgerät aus, schloss ein Mikrofon an und bat den Vater zu erzählen. So ist eine etwa zweistündige Aufnahme entstanden, die der Sohn vor ein paar Jahren dem Tschechischen Rundfunk geschenkt hat. František Zelený erzählt unter anderem, wie er als junger Mann aus Ostböhmen am 26. Juli 1914 einrücken musste:

František Zelený  (Foto: Archiv Post Bellum)
„Ich ging eines Morgens zur Arbeit und sah an einer Bäckerei ein großes Plakat. Darauf wurde bekannt gegeben, dass der Krieg beginne und jeder kampffähige Mann sich sofort zum Abmarsch einfinden müsse. Noch am denselben Tag sah ich viele Männer, die zu einer bestimmten Sammelstelle in Vysoké Mýto unterwegs waren. Ich musste auch dorthin fahren. Von dort wurden wir in eine Kaserne mit Truppenübungsplatz in Josefov gebracht. Nach zwei oder drei Monaten Militärausbildung bekamen wir die Ausrüstung und wurden in den Zug nach Serbien gesetzt.“

František Zelený fährt leichten Herzens an die Front. Er ist 21, hat anscheinend gute Kameraden um sich und fühlt sich wohl. In dieser Laune verläuft die ganze Fahrt über Wien und Budapest nach Bosanski Brod. Das Regiment wird dort in einer alten Kaserne untergebracht. In der Sommerhitze bricht wegen der mangelnden Hygiene jedoch Typhus unter den Soldaten aus. Auch Herr Zelený steckt sich an.

František Zelený in seiner Legion  (Foto: Archiv Post Bellum)
„Ich musste ins Feldlazarett, wo ich mit vielen dicken Decken zugepackt wurde. Ein Arzt überwachte uns und verbot uns, die Decken wegzuschieben oder uns unter diesen Decken zu bewegen. Bei Typhus hat man nämlich sehr hohes Fieber, und das wird auf diese sonderbare Weise behandelt. Arzneimittel gab es damals dort keine. Mir war so schlecht, dass ich dachte, nicht zu überleben. Erstaunlicherweise funktionierte diese Therapie aber. Nachdem wir so etwa in der Lage waren aufzustehen, bekamen wir Glühwein. Dreimal täglich, am Morgen, Mittag und Abend mussten wir Glühwein trinken, bis das Fieber zurückgegangen war.“

Sobald die Soldaten wieder kräftiger sind, werden sie an die russische Front verfrachtet. Beim ersten Gefecht wird das Regiment jedoch gefangen genommen. Das ist im September 1915. Die Gefangenen müssen darauf viele Wochen lang nach Kiew marschieren, täglich etwa 40 Kilometer. Wer nicht mehr weiter kann, wird mit der Peitsche angetrieben. Das einzige Essen, das die k.u.k. Truppen am Tag bekommen, ist Hirsebrei. Als sie endlich das Gefangenenlager bei Kiew erreichen, werden sie an verschiedenen Orten als Hilfskräfte eingesetzt. Sie dürfen sich relativ frei bewegen und bekommen sogar einen kleinen Lohn für ihre Arbeit. 1917 entdeckt Zelený dann die Werbestelle der tschechoslowakischen Legion. Zusammen mit vier Kameraden meldet er sich bei dieser Truppe.

Tschechoslowakischen Legion am Baikal  (Foto: Archiv des Militärhistorischen Instituts in Prag)
„Wir fuhren über den Ural bis zum Baikal, das ist der größte und tiefste See der Erde. Während der Zugfahrt habe ich 52 Tunnels gezählt. Was mich besonders beeindruckt hat: Der Zug wurde sogar über den See befördert! Am einen Ufer fuhr er auf ein Schiff, und auf der gegenüberliegenden Seite konnte er seine Fahrt fortsetzen. Unser Fahrtziel war Wladiwostok, aber davor fuhren wir an der Chinesischen Mauer vorbei. Wer sie nicht gesehen hat, der wird kaum daran glauben, wie mächtig sie ist. Sie ist mehr als 3000 Kilometer lang und zieht sich über die Berge hinweg. Sie scheint endlos zu sein und reicht bis zum Horizont.“

Zelený erwähnt in seiner Erzählung fast keine Schlachten. Dass der Erste Weltkrieg der erste industriell geführte Massenkrieg war und an Grausamkeit alles zuvor übertraf, lässt sich allgemein weder bei ihm noch bei anderen herauslesen. Obwohl František Zelený sicher ebenfalls litt und vielmals Zeuge des Todes wurde, erinnert seine Schilderung eher an eine spannende Reisebeschreibung. Das gilt aber für die meisten Erinnerungen von Soldaten - aus welchen Kriegen auch immer.