Suche nach der schlesischen Identität, Teil II: 20. Jahrhundert

Wappen des Tschechischen Schlesiens

Seit 1921, als die erste Volkszählung in der neu gegründeten Tschechoslowakei stattfand, wird traditionell auch nach der Nationalität der Bürger gefragt. 1991, als hierzulande die erste Volkszählung nach der politischen Wende stattfand, erklärten sich rund 44.000 Tschechen zur „schlesischen“ Nationalität zugehörig. Für Jitka Mládková ein Anlass, in einem Zweiteiler nach den Wurzeln der „schlesischen“ Identität zu suchen. Im folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte hören Sie den zweiten Teil der kleinen Serie. Sachkundiger Begleiter ist auch diesmal Dan Gawrecki, Geschichtsprofessor an der Schlesischen Universität in Opava / Troppau. Schwerpunkt ist die Zeit seit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg bis heute.

Wappen des Tschechischen Schlesiens
Das Adjektiv „schlesisch“ war mehrere Jahrzehnte lang verbannt aus dem offiziellen Vokabular der Staatsverwaltung. Erst 2001 - vier Jahre nach der letzten Reform des tschechischen Verwaltungssystems – kehrte es dorthin zurück. Das allerdings nur als Teilattribut, und zwar im Namen „Mährisch-schlesischer Landkreis“. Doch wo liegt dieser schlesische Teil des Kreises? Professor Dan Gawrecki von der Universität Opava:

„Wenn man sich die Landkarte anschaut, sieht man zwei durchaus unterschiedliche Gebiete: das östlich gelegene Teschener Schlesien und das westlich gelegene Troppauer Schlesien. Sie bilden im Prinzip keinen zusammenhängenden Landstrich. Sie sind nämlich nur durch einen vier Kilometer breiten Grenzkorridor miteinander verbunden. Voneinander getrennt hingegen sind sie durch einen großflächigen Keil, den ein Ausläufer Mährens entlang des Flusses Ostravice bildet. Die historische Grenze zwischen den beiden Kronländern Mähren und Schlesien hat sogar auch die Stadt Ostrava / Ostrau zweigeteilt - in Mährisch-Ostrau und Schlesisch-Ostrau. Der letztere Teil ist kleiner und gehört bis heute gebietsmäßig zum Teschener Schlesien. Doch auch die Lebensweise der Bevölkerung im Troppauer Schlesien sowie seine Nationalitätenstruktur waren in der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik wesentlich anders als die im östlichen Teil Schlesiens. Daran hat sich im Lauf der Zeit viel geändert. Der östliche Teil Schlesiens war ursprünglich wesentlich rückständiger, entwickelte sich aber dynamisch mit dem Ausbau des Bergbaus und des Hüttenwesens.“

Die Stadt Opava / Troppau, die bis zur Entstehung der Tschechoslowakei 1918 die Hauptstadt des Kronlandes Österreichisch-Schlesien war, hat ihre dominante Stellung längst verloren. Sie wurde darin durch die Industriestadt Ostrau abgelöst, die im Rahmen des neuen Selbstverwaltungssystems nach 1945 zur Hauptstadt des Nordmährischen Kreises wurde.

Nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie wurde die Entstehung der nationalen Nachfolgestaaten von verschiedenen Konflikten begleitet. Wie anderswo sorgte auch in der Tschechoslowakei die bunte Nationalitätenmischung für Streitigkeiten um die Sprachen. Der erwähnten Volkszählung von 1921, in der man auch die Nationalität der Bürger erkunden wollte, ging eine breite Debatte voraus. Vor allem Philosophen, Historiker und Politiker stritten in der tschechoslowakischen Fachpresse über den Begriff „Nation“. Die Diskussion war dermaßen kompliziert, dass letztlich entschieden wurde, die Nationalität der Bürger von der Angabe ihrer Muttersprache abzuleiten. Dem Internetserver „lidovky.cz“ kam man damals zu folgenden Zahlen: Von insgesamt 8,5 Millionen Bewohnern waren 50 Prozent Tschechen, 23 Prozent Deutsche, 15 Prozent Slowaken, 5,5 Prozent Ungarn, 3,5 Karpato-Ukrainer und 4 Prozent weitere Minderheiten. Welche Sprachenregelung wurde aber in diesem Vielvölkerstaat getroffen? Eine Frage für Dan Gawrecki:

Mährisch-schlesischer Landkreis
„Es gab eine Zwanzigprozentklausel. Wenn eine andere Nationalität als die tschechische beziehungsweise tschechoslowakische, wie es damals hieß, mit 20 Prozent und mehr in einer Gemeinde vertreten war, musste die Verwaltung zweisprachig sein. Und auch in den offiziellen Druckschriften wurde diese Gemeinde mit beiden Namen bezeichnet. Lag die anderssprachige Minderheit unter 20 Prozent, kam dieses Recht nicht zur Geltung. Vor allem bei der Volkszählung gab es wiederholt heftigen Streit darüber, welche Nationalität man angeben sollte. Nicht selten wurde auch der korrekte Verlauf der Volkszählung angezweifelt. Landesweit durfte man offiziell die tschechische, oder wie es damals hieß, ´tschechoslowakische Sprache´ verwenden – und das auch in Gebieten, die fast nur deutschsprachig waren.“

Eine andere Art der Konflikte, die mit der Entstehung der Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie entstanden, waren Grenzstreitigkeiten. Ein sehr heftiger Grenzkonflikt entflammte auch zwischen der Tschechoslowakei und Polen. Beide Staaten erhoben Anspruch auf das strategisch bedeutende Gebiet Ostschlesiens mit seinen Steinkohlegruben, Hüttenwerken und der wichtigen Eisenbahnlinie zwischen der Ostslowakei und Bohumín. In der umstrittenen Region war neben der tschechischsprachigen auch die polnischsprachige Bevölkerung stark vertreten. Der Volkszählung von 1921 zufolge lebten damals auf dem umstrittenen Gebiet bis zu 100.000 Polen. Mit welchen Argumenten untermauerten beide Staaten ihre Positionen?

Antipolnische Agitation in der Tschechoslowakei
„Die tschechische Seite behauptete, das umstrittene Gebiet habe seit dem 14. Jahrhundert zur Böhmischen Krone gehört und sollte aufgrund des historischen Rechts zur Tschechoslowakei angehören. Die Polen behaupteten wiederum, dass die Hälfte bis zwei Drittel der dort lebenden Bevölkerung polnischsprachig sei, daher sollte die Region Polen zufallen. Diskutiert wurde auch darüber, wie man das Gebiet teilen sollte und ob überhaupt sowie über eine mögliche Volksbefragung. Als bekannt wurde, dass in dem Gebiet auch die Wahlen zum polnischen Sejm stattfinden sollten, fiel die tschechoslowakische Armee in die ostschlesische Region ein. Ziel war, die Parlamentswahlen dort zu vereiteln und auf ein Ergebnis der Verhandlungen zwischen der Prager und der Warschauer Regierung zu warten. Beide Seiten leiteten die Angelegenheit danach an die Pariser Friedenskonferenz weiter, die zwei Jahre lang verhandelte. Letztlich wurde in einem internationalen Schiedsverfahren entschieden.“

Bohumín
Bevor es so weit war, mündete der tschechoslowakisch-polnische Grenzkonflikt zwischen dem 23.Januar und dem 30. Januar 1919 in den so genannten Siebentage-Krieg. Auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte. Eine Lösung brachten die Kampfhandlungen nicht. Über die Grenzführung zwischen der ČSR und Polen wurde am 28. Juli 1920 im belgischen Spa entschieden. Vertreter der USA, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Japans sprachen der Tschechoslowakei das Kohlerevier um Ostrau und Karviná zu sowie die wichtige Einsenbahnlinie zwischen dem ostslowakischen Košice und dem ostschlesischen Bohumín. Damit wurde auch die ziemlich starke polnische Minderheit vom polnischen Staat abgeschnitten. Ein Teil dieser Menschen empfand nach Gawreckis Meinung keine ausgeprägte ethnische Zugehörigkeit und bekannte sich, wie er sagt, „nicht unbedingt unter Druck oder wegen der Hoffnung auf eine bessere Karriere“, zur tschechischen Nationalität. Viele empfanden sich aber nach wie vor als „Schlesier“. Mit dem internationalen Schiedsverfahren war aber der Streit um das Teschener Gebiet nicht endgültig beigelegt – und das sollte sich schon bald zeigen.

In 1938 marschierte die polnische Armee in das Teschener Gebiet ein
Anfang Oktober 1938, nur wenige Tage nach der Besetzung der Sudetengebiete durch Hitler-Deutschland, marschierte die polnische Armee erneut in das Teschener Gebiet ein. Ungefähr 20.000 Tschechen flüchteten damals ins Landesinnere. Doch schon am 15. März 1939 wurde die polnische Okkupation durch die deutsche Besatzung abgelöst. Die Teschener Region wurde Teil des Deutschen Reiches und ihre Bewohner mussten in der Folge ihre Nationalität definieren. Die so genannte Volksliste bot als eine Möglichkeit auch die schlesische Nationalität. Doch diese Wahl hatte für viele fatale Folgen. Professor Gawrecki:

Auch die schlesichen Kinder können zum Waffendienst in der deutschen Wehrmacht einberufen werden  (Foto: Bundesarchiv)
„Diese Menschen wurden von der nationalsozialistischen Propaganda hierzulande und in Hitlerdeutschland missbraucht. Man erfand für sie die Bezeichnung ´eigensprachige Kulturdeutsche´. Nach der Entstehung des so genannten ´Protektorats Böhmen und Mähren´ im März 1939 und der nachfolgenden Eingliederung des ostschlesischen Landesteils ins Deutsche Reich, definierten sich viele dieser Menschen weiterhin als Schlesier. Dazu taten dies auch viele Polen und sogar Tschechen, weil sie es aus existenziellen Gründen für besser hielten. Sie wussten natürlich nicht, dass man sie als Menschen betrachten würde, die sich im gewissen Sinne mit dem Deutschtum identifizieren und daher auch zum Waffendienst in der deutschen Wehrmacht einberufen werden können. Die Tragödie, dass viele von ihnen in der Tat in den Krieg einrücken mussten, hatte nach 1945 eine Fortsetzung. Bis in die 1950er Jahre galt hierzulande die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit dieser Menschen als umstritten.“

Umstritten blieb bis in die 1950er Jahre auch die Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Polen im ostschlesischen Gebiet von Těšín, auf Polnisch Cieszyn und auf Deutsch Teschen. Erst am 13. Juni 1958 unterzeichneten die Tschechoslowakische Republik und die Volksrepublik Polen in Warschau einen Vertrag, in dem sie die bereits 1920 international beschlossene Grenzführung anerkannten. Bei der tschechoslowakischen Volkszählung von 1961 erklärten sich dann rund 66.000 Bewohner der Region zur polnischen Nationalität zugehörig.

Mit der Entstehung des Mährisch-schlesischen Landkreises als einer von 14 selbst verwalteten Regionen der Tschechischen Republik ist nicht zuletzt auch die Existenz des historischen Gebiets Schlesien wider ins Bewusstsein geholt worden. Das betrifft vor allem die jüngere Generation. Was denkt der Geschichtsprofessor Gawrecki über die zehn Jahre alte Region Mährisch-Schlesien?



Dan Gawrecki  (Foto: Jaskółka Śląska)
„Schon 1853 waren die Mitglieder des schlesischen Landtags bemüht, Mährisch Ostrau in das schlesische Gebiet einzufügen. Der Versuch scheiterterte. Es war aber ein ziemlich vernünftiger Vorschlag, der auf die Bewahrung der Eigenständigkeit der Troppauer Region hinausgezielt hätte. Die Rolle des natürlichen Zentrums hätte Ostrau bestimmt erfüllen können. Heute gibt es den Mährisch-schlesischen Landkreis. Er müsste eigentlich „Schlesisch-mährischer Landkreis“ heißen, weil er zu 80 Prozent aus schlesischem Gebiet besteht, auf dem etwa 70 Prozent der Bevölkerung leben. Bei der Entscheidung über den Namen dieses Landkreises hat wahrscheinlich ein gewisses Misstrauen wegen des angeblichen schlesischen Separatismus entschieden.“

Schlesische Autonomisten  (Foto: Lajsikonik,  Creative Commons 3.0)
In der Volkszählung 1991 erklärten sich über eine Million tschechischer Bürger zur nicht existierenden mährischen Nationalität und über 40.000 zur schlesischen Nationalität. Gawrecki sieht das eher gelassen. In beiden Fällen gehe es nicht um die Frage des nationalen Empfindens, sondern um den Willen, auf die Region aufmerksam zu machen, in der man lebt. Dem Historiker zufolge haben sich viele Bürger des Landes durch den lang anhaltenden Staatszentralismus herablassend behandelt gefühlt und wollten daher mithilfe politischer Postulate, darunter auch im Rahmen der Volkszählung, ihre Zugehörigkeit zu der jeweiligen Region demonstrieren. Interessant ist, welche Trends diesbezüglich die Volkszählung 2011 aufzeigt oder zumindest andeutet.