Trainingsarbeitsstätte: Das Prager "Cafe auf halbem Weg"
Wie ein Mensch gestrickt ist - so sagt ja der Volksmund - das hängt von vielen verschiedenen Bedingungen ab. Und oft genug hat der Einzelne nur wenig Einfluss darauf. Die Welt, in die man quasi hineingeboren wird, kann man sich nicht aussuchen. Verbinden sich unglückliche Umstände mit bestimmten Dispositionen, kann einem das Leben zu schaffen machen. Manchmal bleibt man auf halbem Wege stehen. Dort aber kann eine ausgestreckte Hand helfen. Die nichtstaatliche Organisation "Green Doors" hat vor zehn Jahren ein Projekt mit dem Namen "Cafe auf halbem Weg" ins Leben gerufen.
Mit dem Fachbegriff "Frühpsychose" werden psychische Krankheiten bezeichnet, die heutzutage nicht nur mithilfe von Medikamenten und klassischer Psychotherapie behandelt werden. Wird die psychische Belastung rechtzeitig erkannt, ist die Chance auf ihre Bewältigung oder zumindest teilweise Verdrängung größer. Das kann auch bei einer betreuten Arbeitstätigkeit geschehen. Gerade darauf hat die Nonprofit-Organisation Green Doors ihr einmaliges Projekt "Cafe auf halbem Weg" aufgebaut.
Bestimmt ist es vor allem für junge Menschen, die sich im Prozess der - wie es in der Fachsprache heißt - Sozialisation schwer tun, also vor allem bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen. Im besagten Cafe, das im Prager Stadtteil Pankrac als eine Art Trainingsarbeitsstätte funktioniert, gehören sie dem Personal an. Die Zielsetzung der Arbeitstherapie erläutert Lucie Broukalova, die Leiterin von Green Doors, folgendermaßen:
"Unsere Klienten müssen bei der Arbeit alltägliche Probleme lösen. In erster Linie müssen sie mit den Gästen kommunizieren oder mit unseren Lieferanten verhandeln. Das ist für sie ein Training, bei dem sie sich an die Situationen eines ganz normalen Arbeitsalltags gewöhnen."
Die Belastung wird individuell mit Hilfe eines Assistenten - hier heißt er Arbeitstherapeut - festgelegt und allmählich gesteigert. Einige kommen zunächst zum Beispiel zweimal in der Woche für jeweils drei Stunden. Erst nach einem Dreivierteljahr fängt man an, auf fünf mal acht Stunden Arbeitszeit pro Woche zu erhöhen. Man muss also lernen, die nicht selten stressige Arbeitsbelastung in Abwechslung mit Ruhepausen zu bewältigen. Es geht dabei oft auch darum, sich an die Präsenz anderer Menschen zu gewöhnen, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, die Arbeit zu planen und vieles mehr. Kurzum: Geübt werden praktische sowie soziale Fähigkeiten.
Bei einem Besuch im "Cafe auf halbem Weg" habe ich diese Woche zwei junge Männer an der Bar angetroffen. Einer von ihnen erklärte sich bereit, mit mir zu sprechen. Zunächst aber wollte der zwanzigjährige Richard wissen, was ich fragen würde. Erst dann willigte er ein. Schon in einem Monat läuft sein einjähriger Arbeitsvertrag im Trainingscafe aus, daher ist Richard schon jetzt auf der Suche nach einem neuen Job, diesmal allerdings auf dem realen Arbeitsmarkt. Welche Vorstellung hat er?
"Ich bin gelernter Kellner und Koch, und so stelle ich mir vor, dass ich irgendwo in einem Hotel arbeiten könnte. Das würde mir Spaß machen."
Richard stammt aus dem mittelböhmischen Kolin, wo seine Eltern heute noch leben. Auf deren Rat hin und mithilfe einer Agentur hat er die Unterkunft im Rahmen des so genannten betreuten Wohnens in Prag gefunden, wo er auch gerne für sich kocht. Als ich Richard fragte, was ihm der einjährige Aufenthalt im Trainingscafe bedeute, bekam ich die spontane Antwort eines Sachkenners:
"Ich habe das Bierzapfen gelernt. Natürlich hat es mit der Temperatur zu tun. Wenn die Kühlanlage nicht richtig funktioniert, schäumt das Bier zu viel. Das lässt sich aber regulieren. Dieser Job ist schon etwas Positives für mein Leben. Das Lokal ist nicht weit vom Zentrum entfernt. Wenn schönes Wetter ist, kommen viele Leute. Sie sind auch froh, wenn sie bedient werden."
Auf den ersten Blick ein normaler junger Mann, wenn auch mit etwas unkoordinierten Handbewegungen und Nervosität bei der Wortsuche. Doch vieles, was jeder psychisch gesunde Mensch völlig problemlos meistern würde, macht Richard offensichtlich zu schaffen:
"Es ist ja eine Bar, und wenn wir hier zur selben Zeit zu dritt als Barkeeper arbeiten, dann ist es manchmal stressig. Wir haben nur einen Computer. Aber wenn einer Bier zapft und die zwei anderen kassieren oder umgekehrt, kann man es meistern. Wir wechseln uns jede halbe Stunde ab."
Manchmal kämen zu viele Leute, wenn man aber Verschnaufpausen einlege, sei es zu bewältigen, erzählt mir Richard. Am Ende jeder Arbeitsschicht wird ihr Verlauf bei einem gemeinsamen Gespräch aus der Sicht des zuständigen Arbeitstherapeuten und des Klienten beurteilt. Nicht selten eine harte Nuss für den Letzteren:
"Am Anfang hatte ich große Angst, dass mich der Arbeitstherapeut rügen würde, wenn ich etwas nicht geschafft habe. Im Laufe der Zeit habe ich aber gesehen, dass es gut ist, wenn wir uns über den Tagesverlauf austauschen. Ich denke, dass es zu jeder Arbeit gehört." Die Idee, das Projekt "Cafe auf halbem Weg" in die Praxis umzusetzen, ist in Tschechien entstanden, hat aber mittlerweile die Grenzen des Landes überschritten. Lucie Broukalova:"Wir waren sehr erfreut, als das Open Society Institut von George Soros sich mit dem Anliegen an uns wandte, unser Projekt auch in die Länder des ehemaligen Ostblocks zu verbreiten. Aufgrund dieses Auftrags hat Green Doors ein zweijähriges Ausbildungsprojekt für Partner aus Litauen, Lettland, Ungarn und Bulgarien ins Leben gerufen. Das Modell des Trainingscafes ist damit auch außerhalb der tschechischen Grenzen expandiert."
Es funktioniert aber auch in entgegengesetzter Richtung, indem man nicht nur eigene Ideen umsetzen will. Inspiration wird auch im Ausland gesucht, bestätigt die Leiterin von Green Doors:
"Das, was wir gegenwärtig aus dem Ausland zu uns übertragen wollen, sind sozusagen maßgeschneiderte Dienstleistungen für Klienten, die sich in der ersten Phase ihrer Krankheit befinden, damit sie ihre Krise schnell bewältigen und wieder in die normale Welt zurückkehren können. Es ist natürlich nicht bei allen möglich, aber bei denen, die über das notwendige Potential verfügen, ist es unser Ziel. Einige Kolleginnen haben im vergangenen Jahr drei Wochen in Kanada verbracht, wo es spezialisierte Einrichtungen für die unter einer Form von Frühpsychose leidenden Menschen gibt. Dort ist es gelungen, dass der Service dieser Einrichtungen aus dem Staatshaushalt finanziert wird. Das ist bei uns etwas Unvorstellbares."
Offensichtlich genauso unvorstellbar wäre die Existenz einer Lobby, die sich hierzulande zum Beispiel bei befugten Institutionen oder auch im Parlament für das kanadische Modell einsetzen möchte. Was meint Lucie Broukalova?
"Um ehrlich zu sein, die Mehrheit meiner Kollegen und Kolleginnen - mich mit eingeschlossen - verbringen in der Arbeit mehr als acht Stunden pro Tag. Wir versuchen, das was wir machen, gut zu machen. Meiner Meinung nach ist die Psychiatrie in Tschechien ein sehr stigmatiesiertes und unterfinanziertes Medizinfach, aber ich muss sagen, dass wir für eine Lobbyarbeit in der Tat keine Kapazität übrig haben."