Transit statt neuer Heimat: Der Umgang der Tschechoslowakei mit jüdischen Flüchtlingen nach 1945
Gerade dem Holocaust oder den stalinistischen Arbeitslagern entronnen, wurde die Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ziel für jüdische Überlebende vieler Nationen. Für manche war es eine Rückkehr in die Heimat, andere betrachteten den Aufenthalt als Durchgangsstation, ehe sie Europa endgültig den Rücken kehrten. Erwünscht, das merkten sie schnell, waren sie nicht. Die neue Tschechoslowakei wollte keine Minderheiten mehr im Land. Im Prager Jüdischen Museum wirft eine kleine Ausstellung nun einen schonungslosen Blick auf das Schicksal jüdischer Flüchtlinge unmittelbar nach Kriegsende.
„Diese Euphorie ist heute schwer nachzuvollziehen. Wir waren einfach begeistert, dass wir nun unseren Staat hatten, unsere Republik. Wir wollten eine glücklichere Zukunft bauen, eine Zukunft ohne Arbeitslosigkeit, ohne Hunger, mit genügend Brot. Und dann muss man noch sehen, dass 22 meiner Familienangehörigen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern durch deutsche Mörder ihr Ende gefunden hatten. Dann kann man vielleicht diese Euphorie verstehen. Aber leider währte sie nur bis Anfang der 1950er Jahre.“
Dann fand der Aufbruch in ein neues Leben, der erhoffte Neuanfang ein abruptes Ende. Weil er Jude war, wurde Karel Borský aus der Armee ausgeschlossen und musste ein Jahr ins Gefängnis. Zu hören und zu lesen sind seine Erinnerungen und die vieler anderer Zeitzeugen nun in der Ausstellung „Zmařené naděje“ (Zerstörte Hoffnungen) im Jüdischen Museum in Prag. Kurator Martin Šmok hat sich dem Schicksal der jüdischen Flüchtlinge angenommen. Es ist ein unangenehmes Thema, dem man hierzulande lieber aus dem Weg geht, sagt er.„Diese Ausstellung möchte sich einer Zeit, einem Thema annähern, das wenig Beachtung erfährt. Es ist der Zeitraum zwischen 1945 und 1953, als sich mit der Tschechoslowakei viele Hoffnungen der europäischen Juden verbanden. Das konnten einstige Bürger der Tschechoslowakei sein, die nach Hause zurückkehrten, oder aber Verschleppte, die das Gefühl hatten, dass sie hier ein neues Leben anfangen könnten. Oder es waren Flüchtlinge, Transit-Migranten, die überwiegend aus Polen über die Tschechoslowakei in die westlichen Besatzungszonen in Deutschland und Österreich gelangen wollten.“
Die Flüchtlinge waren allgegenwärtig. Eine Karte in der Ausstellung versucht den Ansturm grafisch mit Pfeilen zu verdeutlichen. Aus dem Osten strömten sie auf tschechoslowakisches Gebiet. Wie viele es waren, ist schwer zu bestimmen in einem Land, das gerade erst seine Staatlichkeit wiedererlangt hatte und sich langsam neu sortierte.„Es lässt sich nur schwer ermitteln, wie viele frühere tschechoslowakische Staatsbürger nach dem Genozid in die Tschechoslowakei zurückgekehrt sind. Was es gibt, sind Statistiken von sogenannten Optanten. Damit sind Staatsbürger der Tschechoslowakei aus der Vorkriegszeit gemeint, die sich nach der Abtretung von Karpatenrussland an die Sowjetunion unter Stalin für die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft entschieden hatten. Sie kamen entweder nach Prag oder zu großen Teilen in die geradezu entvölkerten Gebiete an den Grenzen des Landes, aus denen alle Deutschen vertrieben worden waren. Man geht davon aus, dass im Rahmen dieser Ströme aus Osteuropa in Richtung der westlichen Besatzungszonen insgesamt bis hin zu einer Viertelmillion jüdischer Flüchtlinge die Tschechoslowakei passierte. Das ist doch eine recht große Zahl.“
Die Mehrheit der Flüchtlinge waren Staatsbürger Polens. Bis 1939 lebten sie zumeist in Gebieten, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjetunion fielen. Dann wurden sie in die Lager und Gulags im Osten des Sowjetreiches deportiert. Das rettete ihnen paradoxerweise das Leben, wie es in der Ausstellung heißt. Sie entkamen dem Holocaust. Martin Šmok:„Es waren Vorkriegsbürger von Polen, die sowohl von nationalsozialistischen wie auch von sowjetischen Gesetzen als Juden bewertet wurden, und die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Polen heimkehren wollten. In Anbetracht der Situation, die in Polen herrschte – das heißt: ein Bürgerkrieg, Pogrome gegen Juden – suchten sie einen Ausweg. Dann war da noch ein weiteres Problem: Weil sie aus sowjetischen Gebieten zurückkehrten, wurden sie für Anhänger des Kommunismus gehalten. Warum also sollten sie in einem Land bleiben, in dem ihnen erneut die Ermordung drohte? Und der einzige Ausweg führte über die Tschechoslowakei.“
Doch auch Juden aus der Sowjetunion, Ungarn und Rumänien wählten die Tschechoslowakei als Zwischenstation. Fast alle wollten weiter in die westlichen Besatzungszonen und von dort aus nach Amerika, Kanada, Australien oder Palästina. Dass ausgerechnet die kleine Tschechoslowakei zur Drehscheibe jüdischer Nachkriegsemigration in Mitteleuropa wurde, hatte mehrere Gründe:„All diese Hoffnungen unterschiedlicher Gruppen kreuzten sich in der Tschechoslowakei, was zum einen an der geographischen Lage des Landes, zum anderen an der politischen Situation lag. Denn die Tschechoslowakei war zwar von der sowjetischen Armee befreit worden, aber sie war nicht von ihr besetzt – im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern des späteren Ostblocks. Darum war es möglich, unser Land in Sicherheit zu passieren. Zugleich widersetzte sich die Tschechoslowakei dem Druck Großbritanniens, das verlangte, diese Emigration einzuschränken. Denn die Briten gingen davon aus, dass die Mehrzahl der Flüchtlinge nach Palästina wollte und ihnen dort Probleme bereiten würde.“
In der Nachkriegstschechoslowakei unter Präsident Edvard Beneš wurden umfangreiche Wohlfahrtsprogramme ins Leben gerufen, um den jüdischen Flüchtlingen zu helfen. Spenden aus dem Ausland, überwiegend aus den USA, Großbritannien, Südafrika und Skandinavien, ermöglichten den Unterhalt von Waisenhäusern, Altenheimen oder Schulen. Existenzgründer erhielten Starthilfen. 54 der einstmals 136 jüdischen Gemeinden in der Tschechoslowakei wurden wiederbelebt. Trotz der materiellen Unterstützung merkten die jüdischen Emi- und Remigranten bald, dass ihnen Misstrauen oder gar unverhohlener Antisemitismus entgegenschlug. Die Ursprünge lagen laut Kurator Martin Šmok nicht nur in der Protektoratspolitik der deutschen Besatzer. Bereits in der zweiten Tschechoslowakischen Republik wurden Juden zur Zielscheibe:„Diese Hetze gegen Juden während der Zweiten Tschechoslowakischen Republik ging von tschechischer Seite aus. Sie bediente sich eines ganz einzigartigen Stereotyps in ganz Europa, nämlich der Annahme, dass Juden Deutsche seien. Das offenbarte sich schon während der jüdischen Flüchtlingswelle aus Deutschland in die Tschechoslowakei in den 1930er Jahren. Und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigte es sich erneut. Fortwährend wurde diskutiert, inwieweit Juden Deutsche seien, inwieweit sie ebenfalls vertrieben werden müssten oder nicht, wer Juden überhaupt sind, und ob Juden nun Bürger der neuen Nachkriegstschechoslowakei sein könnten. Denn dieses Land wurde errichtet als ein Land, in dem es, soweit wie möglich, keine nationalen Minderheiten geben sollte.“ Deutsche Juden verwendeten zu ihrer eigenen Sicherheit bald nicht mehr ihre Muttersprache, sondern übernahmen das Tschechische. Probleme bereiten konnte selbst ein Deutsch klingender Nachname. Viele – so auch der als Kurt Biheller geborene Karel Borský – suchten sich einen unverfänglichen tschechischen Namen. Und die Unterstützung der Auswanderung nach Palästina geschah nicht aus humanitären Gründen, sagt Martin Šmok.„Die Bemühungen um eine nationale Vereinheitlichung der Nachkriegstschechoslowakei oder zumindest der böhmischen Länder führten dazu, dass die zionistischen Bestrebungen unterstützt wurden. Die Nachkriegstschechoslowakei unterstützte den Zionismus und die Auswanderung von Juden, weil es die Minderheiten loswerden wollte. Darum unterstützte sie den Transit, vor allem aber die Auswanderung ihrer eigenen Bürger nach Palästina, wenn diese sich als Angehörige einer jüdischen Nationalität sahen. Am Ende dieser Ausstellung findet sich ein Zitat von Präsident Edvard Beneš. Es besagt, dass Juden, die sich als Tschechen oder Slowaken betrachten, bleiben können. Die anderen aber, die sich als Angehörige einer jüdischen Nationalität betrachten, wolle er nicht. Sie sollten in ihren eigenen Nationalstaat auswandern.“
Die Situation verschlimmerte sich, als 1948 die Kommunisten die Macht in der Tschechoslowakei übernahmen. Wie im gesamten Ostblock kam es nun auch hier zu stalinistischen Schauprozessen gegen angebliche jüdische Verschwörer. Sie gipfelten 1953 im Prozess gegen Rudolf Slánský. Der Zionismus wurde zum Zerrbild, gleichgesetzt mit den Kampfbegriffen des Imperialismus, des Kapitalismus, mit dem westlichen Klassenfeind. Martin Šmok:„Die meisten Zeitzeugen erinnern sich an die 1950er Jahre als eine sehr bizarre Zeit. Denn auf der einen Seite eröffneten die Kommunisten die Jagd auf die Zionisten, auf der anderen Seite unterstützten sie die kulturellen Aktivitäten der jüdischen Gemeinden, damit sie im Ausland darauf verweisen konnten, dass sie gegen Rassismus und dessen Erscheinungsformen eintreten würden. Doch wie man nun in der Ausstellung erkennen kann, stammen die Artefakte und Fotografien, deren Herkunft sich bestimmen lässt, zum größten Teil aus dem Ausland. Denn die meisten der Juden verließen die kommunistische Tschechoslowakei früher oder später. Ihr Judentum war ihnen wichtiger, als weiterhin im Heimatland zu bleiben.“
Im Jahr 1950 bekannten sich in den Böhmischen Ländern noch knapp über 10.000 Menschen zum Judentum. Vor dem Holocaust im Jahr 1930 waren es mehr als 123.000 gewesen. Der Aderlass setzte sich fort. Die letzte große Auswanderungswelle folgte auf den Prager Frühling 1968.
Am 14. April um 18 Uhr hält Kurator Martin Šmok im Jüdischen Museum (Auditorium Maiselová 15, Prag 1) einen tschechischsprachigen Vortrag zur Ausstellung „Zerstörte Hoffnungen. Die Nachkriegstschechoslowakei als Knotenpunkt jüdischer Schicksale“. Die Ausstellung in der Prager Galerie Roberta Guttmanna ist bis zum 23. August zu sehen. Sie ist zweisprachig in Tschechisch und Englisch.