Tschechiens Arbeitsmarkt ist flexibler wie auch älter geworden

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Die Tschechische Republik ist seit 1993 ein eigenständiger Staat. Viele Dinge haben sich seitdem verändert, das belegt auch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt.

Jan Wiesner  (Foto: Archiv von Studio Madam Business)
Rein wirtschaftlich hat Tschechien indes an seiner Grundausrichtung festgehalten, sagt der Präsident des Arbeitgeber-Dachverbandes (KZS), Jan Wiesner:

„Wir sind ein Industrieland und waren es schon immer, darauf ist unsere gesamte Wirtschaft ausgerichtet. Deutlich zu sehen ist das auch gegenwärtig wieder am Wachstum unserer Produktion, die vom Industriebereich bestimmt wird. Wir sehen die Zuwächse in der Automobilindustrie, im Maschinenbau und in der Metallverarbeitung.“

Nach Aussage von Wiesner zieht der hohe Grad der Industrialisierung in Tschechien aber auch ein anderes Phänomen nach sich – den hohen Anteil an Schichtarbeit im Land. Dieser Anteil lag im vergangenen Jahr bei 28,7 Prozent, das heißt fast jeder dritte Tscheche arbeitet im Schichtsystem. Zum Vergleich: Der Durchschnitt in der Europäischen Union liegt bei 18 Prozent.

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Rückblickend auf die vergangenen 20 Jahre lässt sich feststellen, dass der tschechische Arbeitsmarkt zweifellos zu den stabilsten in Europa gehört. Im vergangenen Jahr hatte Tschechien die viertniedrigste Arbeitslosigkeit innerhalb der EU. Im Schnitt waren 6,7 Prozent der Menschen hierzulande ohne Beschäftigung. Noch niedriger lagen die Werte nur in Österreich, Deutschland und den Niederlanden, der EU-Durchschnitt betrug elf Prozent. Dies geht aus den Berechnungen hervor, die das Tschechische Statistikamt (ČSÚ) kürzlich in Prag präsentiert hat.



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Einen Grund für die vergleichsweise niedrige Arbeitslosigkeit sehen Experten in der zur Vergangenheit wesentlich größer gewordenen Flexibilität des hiesigen Arbeitsmarktes. Jan Wiesner:

„Natürlich haben auch die Krise und alle anderen Unzulänglichkeiten, die es immer wieder gab, dazu geführt, dass die Arbeitgeber der Effizienz des Arbeitsprozesses mehr und mehr alles untergeordnet haben. Sie haben den Arbeitsmodus auf die Gegebenheiten eingestellt und letztlich all jene Dinge geändert, die Einfluss auf die Produktion haben.“

Vít Samek  (Foto: ČT24)
Vít Samek ist Vizechef des Dachverbandes der tschechischen Gewerkschaften (ČKMOS). Er beanstandet im Gegenzug die Entbehrungen, die die hiesigen Arbeitnehmer dafür hinnehmen mussten:

„Flexibilität im Arbeitsprozess kann auf der einen Seite vorteilhaft sein, auf der anderen Seite ist sie es aber wiederum auch nicht. Sie wird nämlich in vielen Fällen nicht freiwillig eingegangen, sondern durch momentane Umstände erzwungen. Arbeit wird gekürzt, auf die Arbeitnehmer wird Druck ausgeübt, dass sie Überstunden zu leisten oder sich anderen vorübergehenden Maßnahmen zu beugen haben.“

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Und dennoch: Die tschechischen Arbeitnehmer haben die Zeichen der Zeit erkannt und sind mittlerweile darauf eingestellt, dass Flexibilität auch die Mobilität einschließt. War es für die Beschäftigten hierzulande vor 20 Jahren fast unvorstellbar, dass Arbeits- und Wohnort voneinander entfernt lagen, so pendeln heutzutage schon etliche Arbeitnehmer zwischen beiden Plätzen hin und her. Im vergangenen Jahr fuhren im Schnitt bereits 300.000 Menschen täglich mehrere Kilometer zur Arbeit, davon waren allein 168.000 Pendler nach Prag. Jan Wiesner nennt die Ursache für diese Entwicklung:

Foto: Archiv des Regierungsamtes der Tschechischen Republik
„Die Konkurrenz auf den internationalen Märkten ist extrem, dieser Tatsache mussten sich unsere Arbeitgeber stellen. Dafür bestand die Chance, Märkte in Drittländern zu erschließen, viele neue Aufträge zu gewinnen, die Produktion zu erhöhen. All dies hat dazu geführt, dass die Arbeitgeber die Produktionsabläufe flexibler gestaltet und die Arbeitnehmer dafür mit ins Boot genommen haben.“

Gewerkschafter Samek hält den Argumenten Wiesners entgegen, dass unter dem Deckmantel des Konkurrenzdrucks auch die Löhne in Tschechien vergleichsweise gering gehalten werden:

Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
„Ich kann dazu nur sagen: Über die entstandene Situation freuen sich zwar die Arbeitgeber, wir aber nicht. Wenn wir zum Beispiel unseren Mindestlohn mit dem in Deutschland vergleichen, bleibt festzuhalten, dass unsere Nachbarn das Vierfache und mehr als wir verdienen. Und wenn man es positiv hervorhebt, dass die Niederländer viel mehr Teilzeitbeschäftigung haben als wir, dann kann ich dem nur entgegnen: Sie können von dem, was sie als Teilzeitlohn bekommen, auch leben – wir aber nicht.“

Der Unterschied ist in der Tat sehr auffällig: Nach den Angaben des Statistikamtes sind hierzulande nur 5,8 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Teilzeit beschäftigt. In den Niederlanden ist es jedoch rund die Hälfte. Zudem werden Teilzeitjobs in Tschechien vorwiegend nur von älteren Arbeitnehmern wahrgenommen. Und genau darin liegt auch ein weiteres Problem, sagt Ondřej Nývlt vom tschechischen Statistikamt:

Ondřej Nývlt  (Foto: Archiv der Hochschule für Ökonomie)
„Der tschechische Arbeitsmarkt altert, weil sich der Altersdurchschnitt der Beschäftigten weiter erhöht. Dies ist zudem begleitet von der Auffälligkeit, dass die ökonomischen Aktivitäten der jungen Leute ständig abnehmen, die der älteren Menschen hingegen zunehmen. Dadurch wird das Problem verstärkt.“

Ein Problem, das Vít Samek auch beim Namen nennt:

„Das hängt mit der ungenügenden Qualifikation zusammen, die die jungen Leute vor allem deshalb erhalten, weil es die einstige Lehrlingsausbildung nicht mehr gibt. Unter uns Sozialpartnern haben wir uns daher bereits auf die Einführung des dualen Systems verständigt, das junge Auszubildende näher an die Praxis heranführen soll, indem sie ihre fachliche Qualifikation wieder direkt beim zukünftigen Arbeitgeber erlangen.“

In den zurückliegenden 20 Jahren hat man es in Tschechien also verstanden, dem Konkurrenzdruck durch eine höhere Flexibilität am Arbeitsmarkt zu trotzen. Die nächste Aufgabe wird jetzt wohl sein, die Voraussetzungen für den erforderlichen Verjüngungsprozess auf dem Markt zu schaffen.