Tschechisch-Deutsches Freundschaftsfest „Popráci“: Böhmische Tradition mitten in Neukölln

Freundschaftsfest „Popráci" (Foto: Klára Stejskalová)

Im Herzen des Berliner Bezirks Neukölln befindet sich das Böhmische Dorf. Am vergangenen Wochenende wurde dort an die Traditionen böhmischer Exulanten erinnert und die deutsch-tschechische Freundschaft gefeiert. Wegen der Corona-Pandemie war das tschechisch-deutsche Freundschaftsfest „Popráci“ in diesem Jahr aber etwas anders gestaltet als sonst.

Foto: Klára Stejskalová

Wir sind in Rixdorf – im Böhmischen Dorf im Berliner Bezirk Neukölln. Bis heute leben hier Nachfahren der Exulanten, die wegen ihres evangelischen Glaubens 1737 aus dem unter Habsburger Herrschaft stehenden Ostböhmen vertrieben wurden. Bis heute wohnen hier 18 Familien mit tschechischen Wurzeln. Und einige Traditionen haben auch überlebt. Mit Herzblut hat man hier das Erbe der Böhmischen Brüder und der Exulanten über die Jahrhunderte bewahrt: Jedes Jahr findet das tschechisch-deutsche Freundschaftsfest „Popráci“ statt. Die Hauptattraktion ist das abschließende Strohballenrollen. Der Ursprung des Festes liegt in der Mitte des 18. Jahrhunderts.

Foto: Klára Stejskalová

Bertil Wewer ist Vorsitzender des Vereins Freunde Neuköllns e.V:

„Wir pflegen die Städtepartnerschaften des Bezirkes zu Tschechien. Dazu gehören Ústí nad Orlicí und der fünfte Prager Stadtbezirk. Die Städtefreundschaften haben eine sehr lange Tradition. Wir sind ja hier im Böhmischen Dorf. Und dieses wurde von Exulanten gegründet, die wegen ihres protestantischen Glaubens aus Böhmen vertrieben wurden. Sie haben sich dann in Preußen niedergelassen. Deshalb heißt der Ort hier auch Böhmisches Dorf.“

Kleiner, aber stärker vereint

Foto: Klára Stejskalová

Wie so vieles hat Corona auch das „Popráci“ in diesem Jahr verändert.

„Das Fest ist Corona-bedingt kleiner und bescheidener. Normalerweise feiern wir hier ein wirklich großes Fest mit einem Wettbewerb im Strohballen-Rollen, Kostümen und einer abendlichen Straßenfeier. Aber trotz Corona wollen wir an die Tradition erinnern. Diesmal gibt es also eine Demonstration für ein vereinigtes Europa und die deutsch-tschechische Freundschaft“, so Wewer.

Foto: Klára Stejskalová

Das Fest hat diesmal nicht so viele Besucher. Alles beginnt mit den HeartBeaters, einer Berliner Sambagruppe unter der Leitung von Pamela Rehfeld. Die Besucher des Festes laufen viermal um den Richardplatz, das Herz des Böhmischen Dorfes. Sie werden dabei von der Sambagruppe begleitet. Auf der Rollstecke, die an der Villa Rixdorf beginnt, bleiben jeweils zwei Akteurinnen dann stehen. Das Ziel: eine Menschenkette rund um die Rollstrecke. Dann startet ein Staffellauf den Strohballen hinterher. Das Ziel der Strecke ist die Buchhandlung „Die gute Seite“.

„Es ist nicht wichtig, dass wir heute keine Siegermannschaft küren können. Ich glaube, wir sind heute alle Gewinner. Denn wir sind hier und haben gezeigt, dass es auch in schwierigen Zeiten sinnvoll ist, an wichtigen Aktionen teilzunehmen“, begrüßt der Bürgermeister von Ústí nad Orlicí / Wildenschwert, Pavel Svatoš, die Teilnehmer der Staffel.

Martin Hikel  (Mitte). Foto: Klára Stejskalová

Aus dem Städtchen Ústí nad Orlicí in Ostböhmen kamen damals viele Exulaten nach Rixdorf. Auch der Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel hat dieses Jahr seine Botschaft übermittelt:

„Das Wichtigste ist zu zeigen, dass es um ein offenes Europa und ein Europa der Solidarität geht. Die Pandemie hat uns alle im Alltag sehr eingeschränkt. Und es war nicht mehr so einfach möglich, in unsere Nachbarländer zu unseren Freunden und Freundinnen in den Partnerstädten zu reisen. Auch in den Geflüchteten-Lagern leiden die Menschen aktuell enorm unter der Pandemie. Insofern ist es gerade im Kontext der Partnerschaft mit Ústí nad Orlicí wichtig zu zeigen, dass die Beziehung in guten und schlechten Zeiten besteht. Es geht derzeit vielen Menschen in Europa sehr schlecht, und wir wollen ein Zeichen setzten. Wir wollen nicht, dass Europa ein Kontinent der Grenzen ist, sondern viel lieber ein Signal für grenzenlose Solidarität senden. Und dafür lohnt es sich zu kämpfen.“

Norbert Kleemann  (Foto: Klára Stejskalová)

Norbert Kleemann ist einer der Mitorganisatoren des Rixdorfer Strohballen-Rollens. Er erzählt, wie das Projekt entstanden ist.

„Bei dem Projekt kamen mehrere Dinge zusammen. Einige wollten gerne Strohballen-Rennen in der Stadt veranstalten. Meine Idee war es dann, das mit den böhmischen Einwanderern aus dem 18. Jahrhundert zu verbinden. Dann kam die Frage nach dem Namen auf. Er sollte tschechisch klingen. Das Wort Stroh, auf Tschechisch sláma, ist für die deutsche Zunge aber schwierig. Eine Freundin schlug dann Popráci vor. Da wurden wir hellhörig, das klang gut. Popráci heißt ‚Nach der Arbeit‘. Im Deutschen gibt es das Wort Feierabend, damit verbindet man ja etwas Schönes und hat sofort ein Lächeln auf dem Gesicht.“

Flüchtlinge von damals und von heute

Foto: Klára Stejskalová

Kleemann betont auch, dass man die Lage der Exulanten aus dem 18. Jahrhundert mit der heutigen Zeit verbinde.

„Ich sehe durchaus eine Brücke zwischen den damaligen Flüchtlingen und den heutigen im 21. Jahrhundert – egal ob Glaubensflüchtlinge oder Kriegsflüchtlinge. Und diesen Bogen wollen wir durchaus spannen. Neukölln ist bekannt dafür, dass hier 160 Nationen leben, zu denen auch viele Flüchtlinge zählen. Wir wollen also die deutsch-tschechische Freundschaft, aber auch das Thema der Aufnahme von Flüchtlingen thematisieren.“

Dass Tschechien heute keine Flüchtlinge mehr aufnimmt, kann Kleemann nicht verstehen.

„Ich denke, die Visegrád-Staaten beeinflussen sich da gegenseitig. Da muss noch viel Aufklärungsarbeit passieren. Wir haben zum Beispiel mit Menschen aus Horní Čermná gesprochen. Sie erklärten mir, dass damals im 18. Jahrhundert die Flüchtlinge ja Glaubensflüchtlinge gewesen wären. Für mich ist das aber genau das Gleiche: Flüchtlinge sind Flüchtlinge.“

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