Tschechische Gesellschaft gespaltener als gedacht
Wie steht es um die tschechische Gesellschaft 30 Jahre nach der Wende? Diese Frage hat sich auch der Tschechische Rundfunk gestellt und dazu eine großangelegte Studie in Auftrag gegeben.
„Wir haben die Klassen nach drei Grundparametern definiert: Das waren das wirtschaftliche Kapital, das soziale Kapital und das kulturelle Kapital. Wir haben also nach dem Einkommen und den Ersparnissen gefragt, nach der sozialen Einbindung und dem beruflichen Prestige von Bekannten.“
Außerdem wollten die Soziologen ergründen, wie die Klassenzugehörigkeit beispielsweise politische Ansichten prägt. Deshalb standen auch Fragen zum Vertrauen in die Institutionen oder die Demokratie auf dem Fragebogen, ebenso wie Fragen zum Verhältnis zu Mitmenschen oder zu religiösen, ethnischen sowie gesellschaftlichen Minderheiten.
Auf jeden Fall habe sich gezeigt, dass die tschechische Gesellschaft nicht nur in zwei Lager gespalten sei, erklärt Martin Buchtík. Er hat als Soziologe an der Erhebung mitgearbeitet:„Auch wenn es von den Medien oft so dargestellt wird, gibt es in der tschechischen Gesellschaft kein Schwarz und Weiß. Die Zahl echter Konservativer, Liberaler oder Linker ist tatsächlich sehr gering.“
Grob kann man aber drei Großgruppen zusammenfassen. Ganz oben steht die Gehobene Mittelklasse. Zu dieser gehören die sogenannte gut situierte Mittelklasse mit hohem Einkommen, ausreichenden finanziellen Reserven und guten sozialen Kontakten sowie die weit vernetzte und sprachgewandte sogenannte kosmopolitische Klasse. Diese hat ebenfalls recht hohe Einkommen jedoch ohne Reserven. Eine Elite wollten die Soziologen für Tschechien nicht definieren, so wie es sie laut einer ähnlichen Studie in Großbritannien gibt. Zwar gebe es hierzulande absolute Topverdiener, ihre Zahl sei jedoch verschwindend gering, heißt es. Außerdem seien diese kaum sozial in Tschechien vernetzt.
Die zweite Großgruppe ist die untere Mittelklasse, zu der die Arbeiterklasse gehört und eine sogenannte lokal gebundene Klasse. Diese ist ein tschechisches Phänomen, da sie Menschen mit niedrigen Einkommen bezeichnet, die lokal sehr begrenzte Netzwerke haben. Ebenfalls zur unteren Mittelklasse gehört die bedrohte Klasse, die zwar teils eine hohe Bildung hat, aber durch Familie oder sonstige Umstände kaum einen Aufstieg schaffen kann. Ganz im Gegenteil kann diese Klasse leicht zur niedrigsten und dritten Gruppe absteigen, und zwar zur Klasse der Abgehängten. Dazu der Soziologe Daniel Prokop:„In westlichen Gesellschaften können auch die unteren zwei Klassen an einem gewissen Wohlstand teilhaben und aufsteigen. In Tschechien ist es aber so, dass sie durch beispielsweise Pfändungsklagen oder die Strukturschwäche ihrer Region noch weiter nach unten gezogen werden. Daher ist ein weiterer Schritt der beiden Klassen hin zur Armut sehr wahrscheinlich.“
Schaut man sich dazu die Zahlen an, ergibt sich ein relativ beunruhigendes Bild in Tschechien. Die niedrigsten beiden Klassen machen insgesamt knapp 40 Prozent der Bevölkerung aus, dazu kommen weitere rund 26 Prozent der unteren Mittelklasse. Die obere Gruppe umfasst hingegen nur 34 Prozent der Tschechen, wobei eine vertikale Mobilität schwierig erscheint.
Die Studie trägt den Titel „Geteilt durch die Freiheit“ und soll ein Bild der tschechischen Gesellschaft seit der Samtenen Revolution vor 30 Jahren zeichnen. Sie bildet den Programmschwerpunkt des Tschechischen Rundfunks für den Jubiläumsherbst in diesem Jahr. Dies erklärt der Chefredakteur des Hauptnachrichtensenders des Rundfunks, Ondřej Suchan:„Anhand von persönlichen Geschichten wollen wir die einzelnen Klassen beschreiben, also was sie trennt und was sie verbindet. Wir haben dazu jeweilige Vertreter der Gruppen begleitet, ob nun bei der Arbeit oder in ihrer Freizeit.“
Auch wir von Radio Prag International werden uns in den kommenden Wochen ausführlich mit der Studie beschäftigen. Dazu bereiten wir für Sie zahlreiche Reportagen und Analysen vor zum Stand der tschechischen Gesellschaft 30 Jahre nach der Wende.