Polarisiert, fragmentarisiert: In Tschechien zerfällt die Gesellschaft ähnlich wie die in Deutschland
„Eine Gesellschaft – unterschiedliche Lebenswelten“, so lautet der Titel einer Studie, die das Prager Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und die Masarykova demokratická akademie (Demokratische Masaryk-Akademie, Mda) durchgeführt haben. Die Ergebnisse belegen eine Fragmentarisierung der tschechischen Gesellschaft. Zu den Schlüsselthemen der Gegenwart können sich die verschiedenen Meinungsgruppen im Land offenbar kaum noch auf Kompromisse einigen. Diesbezüglich gibt es interessante Parallelen, aber auch Unterschiede zur Polarisierung in Deutschland. Radio Prag International hat mit Kateřina Smejkalová gesprochen, sie ist eine der Autor*innen der Analyse.
Die Spaltung der tschechischen Gesellschaft ist nicht in der Corona-Krise entstanden, aber durch sie sichtbar geworden. Die Fronten sind verhärtet zwischen Impfgegnern und -befürwortern, zwischen Kritikern der Regierungsmaßnahmen und jenen, die sie einhalten. Aber schon vor der Pandemie wurden Konfrontationen eher geschürt als fair ausgetragen, etwa während der Präsidentenwahlen oder zur Frage der Flüchtlingsquoten in Europa.
Eine ähnliche Lagerbildung hat die Friedrich-Ebert-Stiftung auch in Deutschland ausgemacht und noch vor Ausbruch der Pandemie untersucht. Die Publikation „Auf der Suche nach dem verlorenen Dialog“ habe den tschechischen Kollegen als Vorlage gedient, berichtet Kateřina Smejkalová:
„Das Ergebnis dieser deutschen Studie war leider niederschmetternd. Die beiden Teile der Gesellschaft kommen in nichts mehr überein. Sie mögen dieselben Dinge sagen und dieselben Wörter benutzen, aber sie meinen nicht dasselbe. Wir fanden das sehr spannend, weil es eine solche Untersuchung im tschechischen Kontext noch nicht gibt. Unserem Gefühl nach besteht diese Problematik hierzulande auch, aber auf andere Weise. Daher fanden wir es sinnvoll, die sehr spannende Methodik zu übernehmen und zu schauen, wie es um die tschechische Gesellschaft steht.“
Der Methodik nach handelt es sich um eine qualitative Studie. Etwa 30 Teilnehmer*innen wurden aus drei Regionen Tschechiens ausgewählt. Aufgeteilt in kleinere Gruppen absolvierten sie mehrere Gesprächsrunden in unterschiedlicher Besetzung. Die beiden Think-Tanks FES Prag und Mda haben dafür mit dem Meinungsforschungsinstitut Stem zusammengearbeitet, das bei der Auswahl die soziodemografische Struktur der hiesigen Bevölkerung berücksichtigt hat.
Das Problem sind die anderen
Stem führt damit seine langjährigen Forschungen weiter, mit denen die Entwicklung der tschechischen Gesellschaft seit der Transformation 1989 untersucht wird. Die Haltung zu diesem historischen Umbruch spielt eine große Rolle für die Unterscheidung von drei Einstellungsgruppen, die sich im Ergebnis von „Eine Gesellschaft – unterschiedliche Lebenswelten“ herauskristallisiert haben. Sie werden in der Analyse als positiv, kritisch und die Mitte bezeichnet. Soweit, so legitim für einen pluralistischen Staat. Genau wie in der deutschen Studie habe man aber herausgefunden, dass diese Lager nicht fähig seien zu einem konstruktiven Dialog, so Smejkalová:
„Sie teilen nicht die gleichen Lebenserfahrungen. Und auf beiden Seiten ist kein Gespür dafür da, dass die Einstellungen der anderen Gruppen vielleicht einfach von anderen Erfahrungen geprägt sein könnten. Ein besonders plakatives Beispiel aus der tschechischen Studie ist das Thema Europäische Union. Für die einen ist sie sehr positiv konnotiert und wird mit Reisen und mit Freiheiten verbunden. Es gibt aber auch große Bevölkerungsteile, die so etwas in der Realität nicht tangiert. Sie können nicht im Ausland studieren und aufgrund ihrer materillen Situation auch nicht reisen. Für sie bedeutet EU beispielsweise, dass sie in einem transnationalen Unternehmen arbeiten und schlecht bezahlt werden – schlechter etwa, als in dem Mutterland der Firma. Es erschwert also die Debatte, wenn beide Seiten nicht wissen, dass sie beim Thema EU letztlich über ganz andere Dinge reden.“
Jana Faus ist Co-Chefin des Forschungsinstituts pollytix und Mitautorin der deutschen Studie „Auf der Suche nach dem verlorenen Dialog“. In einer Online-Debatte zu beiden Publikationen beschrieb sie Erfahrungen, die auch das tschechische Team gemacht hat:
„Am meisten hat mich überrascht, dass wirklich alle Teilnehmer von einer Spaltung in der Gesellschaft gesprochen haben. Dieses Auseinanderfallen hat ihnen Sorge gemacht, und alle wollten es überwinden. Es zeigte sich also erst einmal eine grundlegende Dialogbereitschaft. Gleichzeitig vertraten die beiden Randgruppen aber auch die Haltung, dass das Extrem immer die anderen darstellten und diese dann auch schuld seien an Polarisierung. Somit entziehen sich alle der eigenen Wirkungsmächtigkeit, weil sie meinen, die anderen müssten sich ändern, damit überhaupt etwas passieren kann.“
Beide Forschungsteams haben im Vergleich ihrer Arbeiten einen gemeinsamen Grundgedanken formuliert – dass nämlich die deutsche Gesellschaft polarisiert, die tschechische aber fragmentarisiert ist. Ondřej Kopečný vom Meinungsforschungsinstitut Stem erläuterte in der Online-Präsentation, was das bedeutet:
„Wenn wir von einer polarisierten Gesellschaft sprechen, meinen wir zumeist zwei Blöcke, die sich gegenüberstehen. Nach innen sind sie jeweils meinungskonsistent, jede Gruppe ist sich für sich einig. Die tschechische Gesellschaft ist aber anhand vieler verschiedener Themen gespalten. Nur sehr schwer kann sie sich überhaupt auf irgendetwas einigen, und es können kaum Entscheidungen getroffen werden. Damit tritt sie auf der Stelle, stagniert und kommt nicht vorwärts.“
Positiver Bezug auf die Zeit vor 1989
Die deutschen Befragten haben zu unterschiedlichen, nicht zusammenhängenden Themen immer entsprechend ihrer Einstellung als positiv, kritisch oder der Mitte zugehörig argumentiert. Im Gegensatz dazu hätten sich die tschechischen Meinungsgruppen innerlich nicht gefestigt gezeigt, sagt Kateřina Smejkalová:
„Eines der Themen, die wir getestet haben, war die Einstellung zur Roma-Minderheit. Unabhängig davon, ob die Probanden positiv oder kritisch waren, standen sie den Roma negativ gegenüber. Bei diesem Thema spielt es also keine Rolle, welcher Seite man sich zurechnet, und leider zeigten dann alle eine negative Einstellung. Und so verhält es sich hierzulande bei vielen Themen. Diese Hauptspaltungslinie sagt also nicht unbedingt etwas darüber aus, welche Einstellung eingenommen wird zu unterschiedlichen Themen – so wie es hingegen in Deutschland ist.“
Die Politologin weist noch auf einen weiteren Unterschied zwischen der tschechischen und der deutschen Studie hin:
„Auf den ersten Blick hat sich uns ein gleiches Bild geboten bezüglich der Einstellungsgruppen in den Gesellschaften. Es gibt immer diejenigen, die zufrieden sind, dann diejenigen, die unzufrieden sind, und die Mitte. Beim näheren Betrachten hat mich überrascht, wie sehr sich die Positiven in beiden Ländern unterscheiden und wie ähnlich sich die Negativen sind. Die Positiven in Deutschland kommen aus den kulturell liberalen Schichten. Das sind die weltoffenen Menschen, also – um das plakativ zu sagen – die Wähler der Grünen und des liberalen Teils der SPD. Im tschechischen Kontext sind dies aber Menschen, die sehr viel Wert auf persönliche Freiheiten legen. Auf die Frage, worin das Positive besteht, antworten sie: Ich kann reisen, ich kann sagen, was ich will, oder ich kann unternehmerisch tätig sein. Dies ist ein sehr anderes Bild, als das in Deutschland. Es sind also Menschen, die im deutschen Spektrum vielleicht eher bei der FDP oder in liberalen Teilen der Christdemokraten zu verorten wären.“
Was die kritisch eingestellte Gruppe angehe, hätten sich die tschechischen Teilnehmenden durchweg positiv über die kommunistische Zeit geäußert, fährt Smejkalová fort:
„Im Vergleich mit der deutschen negativen Einstellungsgruppe stellt man aber sehr schnell fest, dass dies für die tschechische Gruppe nur eine Art ist, die Unzufriedenheit mit dem Hier und Jetzt auszudrücken. Es handelt sich also weniger um eine echte Nostalgie für die Zeit vor 1989. Die beiden Gruppen sind sich letztlich sehr ähnlich in dem, was sie artikulieren. Das sind eine schlechte soziale Situation, eine geopolitische oder auch eine zwischenmenschliche Unsicherheit.“
Da die gleichen Argumente auch von westdeutschen Vertretern der Kritischen geäußert wurden, die keine eigenen Erfahrungen mit einem anderen als dem demokratischen Gesellschaftssystem gemacht haben, dürfe man für den tschechischen Kontext die negative Haltung nicht zu sehr auf den Kommunismus beziehen, ergänzt die Wissenschaftlerin.
Ein wirkliches Spezifikum der tschechischen Studie sei aber das Phänomen der Meritokratie:
„Ihr Prinzip ist, dass man sich alles verdienen muss. Und was nicht verdient ist, das findet dann eben nicht statt. Dies haben wir in der tschechischen Gesellschaft als sehr starke Überzeugung vorgefunden. Und zwar wieder als eine, die quer über das ganze Einstellungsspektrum geteilt wird. Diese Idee vertreten sowohl die liberaleren Schichten, als auch die schlechter gestellten Schichten der Kritischen.“
Mögliche Lösung: Ein Deliberation Day
Während letztere beklagen, dass die Erwartungen einer eigenen Leistung und eines Verdienstes gegen sie selbst gerichtet sind, hängen die positiv Eingestellten der Meritokratie eher als einer abstrakten Ideologie an – so wie sie auf den US-amerikanischen Philosophen Michael Sandel zurückgeht. Da hieße es dann auch von progressiven Bevölkerungsteilen, so Smejkalová, wenn es jemandem nicht gut gehe, habe er dies selbst zu verantworten und mit keiner großzügigen Hilfe zu rechnen:
„Dies ist das politische Klima, das hierzulande seit 30 Jahren herrscht. Und quer durch das Einstellungsspektrum haben alle diese Meritokratie verinnerlicht. Nicht zuletzt beschreibt auch Sandel in seinem Buch, dass dies für eine Gesellschaft extrem zersetzend ist. Es schließt Solidarität, Großzügigkeit und gegenseitige Fürsorge aus.“
Dies lässt wenig Gutes hoffen für die nahe Zukunft Tschechiens. Denn während die jeweiligen Einstellungsgruppen in Deutschland laut FES-Studie immer noch eine Vorstellung davon haben, wohin das Land steuern sollte, fehle diese Überlegung bei den tschechischen Befragten völlig, resümiert Smejkalová:
„In Tschechien stimmt man interessanterweise darin überein, dass im Moment alles schlecht ist – die Gesellschaft ist demnach zerfallen, keiner kann mit dem anderen reden. Aber man hat überhaupt keine gemeinsame Zukunftsvision. Das finde ich bezeichnend. Als jemanden, der die tschechische Gesellschaft beobachtet, überrascht es mich letztlich aber nicht. Denn diese Erzählung, die nach der Wende längere Zeit präsent war – also der Weg zurück in den Westen, zurück nach Europa –, hat für bestimmte Bevölkerungsteile, die von der Entwicklung enttäuscht sind, ausgedient. Und ein anderes Narrativ gibt es nicht.“
Vielleicht könnte also helfen, was Jana Faus und ihr pollytix-Team im Nachgang ihrer Untersuchungen in Deutschland vorschlagen – einen Deliberation Day nämlich, also einen Tag, der der Reflexion und dem Austausch gewidmet ist:
„Es braucht eine Form, in der wir als Gesellschaft dazu gezwungen werden, miteinander in einen moderierten Dialog zu kommen. Ich rate dringend dazu, dass wir alle als Gesellschaften – womöglich erst national und dann auf europäischer Ebene – gemeinsam überlegen, wo die Reise eigentlich hingehen soll, bevor wir uns auseinanderdividieren lassen.“