Tschechische Pressestimmen zum Ergebnis der Kommunal- und Senatswahlen
Die Wahlen zu den tschechischen Gemeindeparlamenten und die erste Runde der Senatswahlen waren aus der Sicht der tschechischen Presse das beherrschende Thema der vergangenen Woche. Mehr dazu in einer weiteren Ausgabe von "Im Spiegel der Medien", der Mediensendung von Radio Prag.
Fasst man die Erwartungen vor den Wahlen zusammen, so lässt sich feststellen, dass allgemein auf eine Art Befreiungsschlag gehofft wurde, der die Pattsituation lösen könnte, die seit den Wahlen zum Abgeordnetenhaus vom Juni diesen Jahres besteht.
Aber haben sich die Wähler letzten Endes bei ihrer Wahlentscheidung wirklich von diesen Überlegungen leiten lassen? Oder haben in erster Linie doch lokale Motive den Ausschlag gegeben? Dazu der Kommentator der Tageszeitung Lidove noviny, Martin Zverina:
"Das hängt von der Größe der jeweiligen Gemeinde ab. In großen Städten haben die Ereignisse der letzten Monate weitaus stärker gewirkt als anderswo. Denn je größer eine Gemeinde ist, desto größer ist auch die Distanz zwischen ihren Bürgern und den gewählten Vertretern. In kleinen Städten und Dörfern kennt man sich hingegen, man weiß genau, wofür jemand steht und so weiter. In Großstädten, wie etwa Prag, Brünn oder Pilsen sind hingegen die Kandidaten nicht so allgemein bekannt und deshalb neigt der Wähler dort weitaus stärker dazu, seine Wahlentscheidung auf Grund von längerfristigen Überlegungen und Präferenzen zu treffen. Man wählt also öfter in erster Linie eine Partei und erst in zweiter Linie eine Persönlichkeit. So kann man zum Beispiel das Prager Ergebnis mit Sicherheit als Ausdruck eines Protestes gegen den Chef der Sozialdemokraten, Jiri Paroubek, interpretieren, weil ein solches Ergebnis gerade in Prag nicht einmal die größten Optimisten in den Reihen der ODS erwartet haben."Einige Autoren wagten aber in den vergangenen Tagen auch den Blick über den sprichwörtlichen tschechischen Tellerrand. So versuchte zum Beispiel Martin Komarek in der auflagenstärksten tschechischen Tageszeitung, der Mlada fronta dnes, die gegenwärtige politische Krise im Land in den mitteleuropäischen Kontext zu setzen, wenn er schreibt:
"Während drei der vier Visegrad-Staaten - die Slowakei, Polen und Ungarn - eine ernste Krise durchmachen, geht ihr Tschechien typisch tschechisch aus dem Weg. Aber das wird nicht unendlich so weitergehen. Entweder wird es in Tschechien eine Regierung geben, die von unberechenbaren und abstoßenden Exzentrikern, so wie in Polen und der Slowakei, abhängig sein wird, oder dem Land steht ein ähnlicher gesellschaftlicher Zusammenprall bevor, so wie er sich in den vergangenen Tagen wieder auf Ungarns Straßen abspielte. Aber die Hoffnung, dass die regierungslose Zeit in eine zivilisierte Lösung münden wird, besteht nach wie vor. Vieles wird von den drei Männern im tschechischen Boot abhängen - von Präsident Klaus, Noch-Premier Topolanek und dessen Vorgänger Paroubek. Bislang rudert jeder in eine andere Richtung, als ob er ein Narrenschiff führen würde."Viele Betrachtungen der tschechischen Kommentatoren richteten sich in den ersten Tagen nach den Wahlen auf den Wahlsieger, die rechtsliberale Demokratische Bürgerpartei (ODS). Schließlich drängt sich die Frage in den Raum, wie die Partei mit dem nun vielerorts erdrückenden Sieg, der ihr in den Gemeindeparlamenten satte und bequeme absolute Mehrheiten brachte, umgehen wird.
Die Journalisten versuchten sich auch in einer Ursachenforschung, warum der Sieg der Bürgerdemokraten so hoch ausgefallen ist. So schrieb etwa Petr Kamberský in der Wirtschaftszeitung Hospodarske noviny:"Das Wahlwochenende hat einen Sieger: Prags Oberbürgermeister Pavel Bem. Es wäre wohl eine große Überraschung, wenn der lächelnde Bergsteiger im kommenden Jahr nicht zum neuen Vorsitzenden der ODS gewählt werden würde. Damit hat sich ein altes Paradox bestätigt: Schwäche kann eine Stärke sein. Unter der bisherigen Führung von Mirek Topolanek hat die Partei sehr elegant und zur Gänze ihren Ruf als ideologische und arrogante Partei abgelegt; diese Hinwendung zu den Menschen wurde nun mit der absoluten Mehrheit für den Prager Oberbürgermeister vollendet. Somit hat sich gezeigt, dass der Abgang ihres früheren starken und polarisierenden Vorsitzenden und Parteigründers, Vaclav Klaus, geholfen hat. Die Rechtsliberalen haben zwar heute keinen eindeutigen und unbestrittenen Führer, sie sind aber stärker denn je."
Die eigentliche innenpolitische Sensation lieferten in der vergangenen Woche jedoch nicht die Wahlergebnisse, sondern die Entscheidung des sozialdemokratischen Abgeordneten Michal Pohanka, aus seiner Partei und Fraktion auszutreten. Da er jedoch sein Mandat behalten will, haben sich dadurch die Kräfteverhältnisse im Abgeordnetenhaus schlagartig verändert. Das seit Juni bestehende Patt zwischen linken und bürgerlichen Parteien wurde dadurch formell beendet, denn die Sozialdemokraten haben nun zusammen mit den Kommunisten eine Stimme weniger, als die drei bürgerlichen Parteien zusammen.Fälle, in denen ein oder sogar mehrere Abgeordnete während der Legislaturperiode die Seiten wechselten und es deshalb zur Veränderung der knappen Mehrheitsverhältnisse im Parlament gekommen ist, gab es in der Vergangenheit schon mehrmals. Kann sich nun also der scheidende bürgerliche Premierminister Mirek Topolanek freuen, nach vier Monaten doch noch die knappe Mehrheit im Parlament erlangt zu haben? Der Kommentator der Lidove noviny, Martin Zverina, ist da in seinem Urteil sehr vorsichtig, wenn er meint:
"Ich meine, dass der Schritt von Michal Pohanka nicht eindeutig interpretiert werden kann, weil wir eigentlich immer noch nicht wissen, in wie weit diese Entscheidung politisch motiviert war. Es können auch bestimmte kriminelle Verstrickungen und Motive nicht ausgeschlossen werden. Ebenso wenig lässt sich sagen, ob es ihm gegenüber einen Druck von Seiten seiner sozialdemokratischen Partei gegeben hat. Man muss also sehr vorsichtig bei der Beurteilung des Ganzen sein. Wenn auch die Entscheidung Pohankas alle Strategien von Jiri Paroubek gegenstandslos macht, glaube ich nicht, dass sich dadurch das Kräfteverhältnis dramatisch verändern wird. Der amtierende Regierungschef will ja auf jeden Fall Neuwahlen erreichen und braucht dazu die Einigung aller Parlamentsparteien auf eine vorzeitige Auflösung des Abgeordnetenhauses. Mit anderen Worten: Er braucht die Unterstützung von mindestens 120 Abgeordneten, jetzt hätte er auch mit Pohanka zusammen lediglich 101."