„Tschechische Versuche zu Shakespeare“ - Übersetzungstradition des Klassikers

William Shakespeare

William Shakespeare, der Weltautor – er verorte Böhmen ja am Meer. Dort nahm man ihm das aber offensichtlich nicht sonderlich übel. Denn es gibt eine lange Geschichte der Shakespeare-Rezeption hierzulande, der Dramatiker gilt als meistgespielter Autor auf tschechischen Bühnen. Außerdem hat dieser englische Dichter auch 450 Jahre nach seiner Geburt am 23. April 1564 in Stratford upon Avon nichts an Aktualität verloren.

William Shakespeare
„Die Übersetzungen von Shakespeares Werken gehören zu den merkwürdigsten Phänomenen der tschechischen Kultur“, schreibt Pavel Drábek in seinem 2012 herausgegebenen Buch „Tschechische Versuche zu Shakespeare”. Der Anglist hat mit diesem Thema an der Masaryk-Universität in Brno / Brünn habilitiert. Sein über elfhundert Seiten umfassendes Werk über die Geschichte der tschechischen Übersetzungen Shakespeares ist durch eine Namensliste jener ergänzt, die zwischen den Jahren 1782 und 2012 mit dem Theaterklassiker zu tun hatten.

Sein Buch bezeichnet der Autor als „das Resultat einer mehrjährigen fieberhaften Agonie“, die sich sowohl aus der Breite des Themas, als auch aus seinem Studium in einheimischen Archiven ergab. Pavel Drábek:



Jindřich Hýzrle z Chodů
„Wo denn sonst soll man sich mit diesem Thema befassen, wenn nicht hierzulande. Die Böhmischen Länder waren ja seit jeher ein geografischer Schnittpunkt verschiedenster Kultureinflüsse - sei es der germanische oder der slawische, aber auch der jüdische und italienische. Allgemein gesagt: Alle Kulturen, mit denen unser Land in Kontakt kam, haben hier ihre Spuren hinterlassen. Vieles kann man aus historischen Dokumenten herauslesen, die in den reichhaltigen Archivbeständen Tschechiens zu finden sind. Zu Shakespeares Zeit waren die Grenzen nicht dermaßen undurchlässig, wie wir es aus dem 20. Jahrhundert kennen. Es gibt mehrere Berichte englischer beziehungsweise böhmischer Reisender nach Prag beziehungsweise London. Der junge Adlige Jindřich Hýzrle z Chodů zum Beispiel besuchte London im Jahr 1607. In seinem Tagebuch notierte er, dass dort an sechs oder sieben Orten täglich Theater gespielt worden sei - ein Stück schöner als das andere.“

Christopher Marlowe
Im Hinblick auf den hiesigen Kulturraum spricht Drábek von einem „faszinierenden Geflecht“ von alten aus England importierten Erzählungen und Mythen, die ihre Wurzeln auch hierzulande haben:

„Zum Beispiel Doktor Faustus, den man bei uns schon zuvor aus einem Marionettenspiel kannte, und der Zauberer Žito, der am Hof des böhmischen Königs Wenzel IV. gelebt haben soll. Eben Žitos Episoden, die schon im 15. Jahrhundert belegt sind, kann man auch in den Faustschen ausfindig machen. Als im 16. Jahrhundert eine englische Theatertruppe die ´Tragische Historie vom Doktor Faustus´ von Christopher Marlowe (1564 – 1593, Anm. d. Red.) hierzulande aufführte, kam sie in ein Land, in dem der Faust-Stoff schon längst bekannt war - oft auch unter einem anderen Namen und in unterschiedlichen Variationen.“

Andreas Gryphius
Der älteste Hinweis auf fahrende englische Komödianten in Böhmen stammt aus dem Jahr 1595 in Prag. Was damals auf dem Spielplan der Schauspielertruppe stand, ist nicht überliefert. Etwas später wurden zwar nachweislich schon Bearbeitungen von Shakespeares Stücken aufgeführt, doch der Name des Autors blieb auch im 17. Jahrhundert in Böhmen immer noch unbekannt. Nicht weit entfernt war das anders.

„Gekannt hat ihn zum Beispiel der deutsche Dichter und Dramatiker Andreas Gryphius (1616 – 1664, Anm. d. Red.). Der Barockschriftsteller aus dem schlesischen Glogau verarbeitete das Motiv aus Shakespeares ´Sommernachtstraum´ in sein eigenes wunderbares Theaterstück ´Absurda Comica oder Herr Peter Squentz´. Meine Kollegin Markéta Polochová hat das Stück von Gryphius ins Tschechische übersetzt und in der ´Divadelní Revue´(Theaterrevue, Anm. d. Red.) veröffentlicht. Irgendwann nach 1680 bearbeitete dann der im südmährischen Nikolsburg (Mikulov, Anm. d. Red.) geborene Johann Georg Göttner Shakespeares ´Romeo und Julia´. Dies tat er mit viel Witz, zugleich aber auch mit einem sehr vulgären Vokabular, entsprechend dem damaligen Geschmack“, so Drábek.

Jan Vilímek: Porträt von Josef Jiří Kolár
Bis weit in das 19. Jahrhundert hatten die deutschen Shakespeare-Übersetzungen von Christoph Martin Wieland (1733–1813) großen Einfluss auf die tschechischen Übersetzer. Später war es zum Beispiel Friedrich Schiller. Seine Übertragung des Macbeth ins Deutsche überführte der in Prag lebende Theaterschauspieler Josef Jiří Kolár weiter ins Tschechische. Die Premiere des Stücks auf den hiesigen Bühnen war 1839 im Prager Ständetheater.

Seit der ersten Generation der tschechischen Shakespeare-Übersetzer lassen sich Drábek zufolge zwei Grundrichtungen bis in die heutige Zeit verfolgen: Übersetzungen vorzugsweise für das Theaterpublikum sowie vor allem für die Leserschaft. Die Fundamente dieser Tradition in der tschechischen Literatur- und Theaterkultur seien in den 1880er Jahren in den Böhmischen Ländern gelegt worden, sagt der Autor. Von den sieben Übersetzern der Generation um die Jahrtausendwende, die Drábek aufzählt, ist der Anglistik-Professor Martin Hilský (*1943) von der Prager Karlsuniversität bestimmt der bekannteste. Das liegt auch daran, dass er als einziger hierzulande Shakespeares Gesamtwerk ins Tschechische übersetzt hat. Nach seiner fast 30-jährigen Arbeit an 38 Dramen, 154 Sonetten sowie zwei langen epischen Gedichten macht er kein Hehl daraus, dass er manche harte Nuss zu knacken hatte:

Martin Hilský  (Foto: Archiv Radio Prag)
„Bei einem so großen Dichter kommt es schon vor, dass der Text sehr schwer übertragbar ist. Nicht nur weil sich die Ausdrucksweise der englischen Sprache von der tschechischen wesentlich unterscheidet, sondern das Englische fußt auch auf einer anderen Art zu denken. Hinzukommt, dass man die Sprache aus der Zeit von Königin Elisabeth I. ins Tschechische von heute überführen muss. Mitunter ist dabei auch die Übertragung der 400 Jahre alten Kultur der Renaissance in die Kultur unserer Gegenwart nötig. Und das ist in der Tat recht schwer.“

Martin Hilský vergleicht das Übersetzen mit dem Bergsteigen: Gleich nach dem Erklimmen des ersten Gipfels habe man schon den nächsten Berg im Visier und schaue zugleich noch weiter voraus. Dass Shakespeare immer wieder übersetzt wurde und auch künftig übersetzt wird, hält der tschechische Kenner des englischen Dichters für selbstverständlich. Seiner Meinung nach müssen die Übersetzungen immer wieder an die Entwicklung der Sprache angepasst werden. Dadurch bleibe William Shakespeare aber ewig jung, findet Hilský. Probleme sieht er paradoxerweise in Shakespeares Heimatland. In einem Interview für die Tageszeitung „Lidové noviny“ sagte er:

Foto: Verlag Academia
„Shakespeare zu verstehen ist heutzutage ein großes Problem für die Engländer. Insbesondere junge Leute sind dort nicht in der Lage, seine Werke im Original zu lesen. Nach einer Studie ist etwa ein Drittel seiner Wortspiele für die Muttersprachler unverständlich.“

Natürlich nicht nur die Sprache allein macht Shakespeares Werk kontinuierlich aktuell. Er verstand es auch wie kein anderer Dramatiker, die menschliche Innenwelt darzustellen. Vor dem Hintergrund des politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Geschehens, das weit über die Grenzen des Elisabethanischen Weltbildes hinausgeht, „zeichnet“ er seine Charaktere in einer meisterhaften Mannigfaltigkeit.

„Seine Theaterstücke erzählen von Liebe, Hass, Machtgier oder Sehnsüchten in einer konkreten Zeit und Situation. Doch der Verlauf der Geschichte hat uns gezeigt, dass die konkreten Situationen universal sind, auch wenn sich die Welt geändert hat. Wir leben ja in einer absolut anderen Zeit, aber die Gefühle der Menschen - ihre Leidenschaft, Liebeserlebnisse, ihr Hass, Liebenswürdigkeit oder Schadenfreude – überdauern alles. Manchmal bin ich erstaunt, wie hochaktuell Shakespeare ist.“

John Dee
Um den Namen Shakespeare ranken sich seit eh und je auch Spekulationen oder sogar Verschwörungstheorien, die die Identität des Autors in Frage stellen. So soll Shakespeare zum Beispiel in Wirklichkeit der englische Spion Francis Garland gewesen sein. Den Namen hat der Mathematiker, Astrologe und Alchemist John Dee, der am Prager Hof von Kaiser Rudolf II. lebte, in seinem Tagebuch erwähnt. Und dass Shakespeare als Spion von Königin Elisabeth I. in Prag weilte, davon ist der US-amerikanische Historiker Vincent Bridges überzeugt; Bridges wurde durch seine Werke über Nostradamus bekannt. Auf die Frage nach der „wahren“ Identität Shakespeares antwortet Martin Hilský indes kurz und bündig:

Francis Bacon
„Solange kein absolut überzeugender Beweis gefunden wird, dass Shakespeare nicht das Shakespeare-Werk verfasst hatte, und dass dahinter zum Beispiel Francis Bacon steht oder aber der heiße Kandidat der jüngsten Zeit, der 17. Graf von Oxford, werde ich davon ausgehen, dass Shakespeare der Autor Shakespeare ist, geboren in Stratford upon Avon als Sohn von John und Mary Shakespeare.“

Für seine Verdienste um die Verbreitung der englischen Literatur in Tschechien wurde Martin Hilský im Jahr 2001 der Verdienstorden des Britischen Imperiums (The Most Excellent Order of the Britisch Empire) verliehen.