Tschechischer Anarchismus

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Ende des 19. Jahrhunderts spaltet sich auch aus der sozialistischen Bewegung in den Böhmischen Ländern eine neue Richtung heraus: der Anarchismus. Ihre Vertreter lehnen Autoritäten ab und treten für eine freie Gesellschaft ein.

Václav Tomek  (Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag)
Die Anfänge liegen in den 1880er Jahren. Zunächst handelt es sich nicht um eine geschlossene Ideologie. Aber die Arbeiter in Nordböhmen sind genauso begeistert von anarchistischen Vorstellungen wie Intellektuelle vor allem in Prag. Der Philosoph Václav Tomek von der tschechischen Akademie der Wissenschaften beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte dieser Denkrichtung. Und die erläutert Tomek so:

„Das freie Individuum sollte nicht durch irgendwelche Vorschriften gebunden sein – weder durch eine Partei oder eine Religion. Die Idee war, dass der Mensch seine Individualität und Freiheit schätzt. Eine zukünftige Gesellschaft sollte nicht staatlich organisiert, und die Mitgliedschaft in Verbänden und Vereinen nicht verpflichtend sein. Stattdessen sollten sich die freien Individuen ganz nach ihren Interessen zusammenfinden und ihre Zugehörigkeiten problemlos wechseln können.“

Gegen die Sozialdemokraten

Johann Most  (Foto: Public Domain)
Diese Vorstellungen gelangen zunächst aus der Fremde in die Böhmischen Länder. So etwa von Johann Most aus Augsburg. Er ist Sozialdemokrat und sitzt im Deutschen Reichstag. Nach mehreren Verhaftungen sieht Most aber keinen Sinn mehr in parlamentarischer Arbeit. Stattdessen wirbt er in seiner Zeitschrift „Freiheit“ für provokative Gewalttaten, das Blatt schmuggelt er auch in die Böhmischen Länder. Aus Chicago in den USA wiederum gelangt die „Budoucnost“ (Zukunft) hierher. Die anarchistischen Ideen fallen besonders in der Arbeiterbewegung auf fruchtbaren Boden. Ein Teil löst sich von der Sozialdemokratischen Partei und wirft den ehemaligen Genossen hierarchisches Denken vor und ein Verrat an den eigenen Ideen. Václav Tomek:

„Das waren gewöhnliche Leute, vor allem Bergarbeiter aus Nord- oder Nordostböhmen. Sie dachten praktisch. Ihnen lagen die Vorstellungen vom Menschen als freiem Individuum eher fern. Für sie war wichtig, sich frei in Gewerkschaftsgruppen zu organisieren.“

Dies ist die sogenannte anarchosyndikalistische Richtung. Sie will erreichen, dass die Arbeiterorganisationen selbst über die Produktion und die Betriebe bestimmen. Ihre Mittel sind unter anderem Streiks und Sabotage.

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Auch gebildete Großstädter sind von den neuen Ideen begeistert. Aber sie denken anders als der radikale Teil der Arbeiterschaft:

„Die Gruppe der Literaten und Intellektuellen machte sich mehr Gedanken über die Möglichkeiten der Freiheit. Mit den Problemen der nordböhmischen Berg- oder Textilarbeiter hatten sie eher wenig zu tun“, so Tomek.

Manifest der Anarchisten

Entsprechend klingt das Manifest der tschechischen Anarchisten von 1896. Dort zeigt sich aber auch, wie die k. u. k. Monarchie in den Böhmischen Ländern empfunden wird: als Fremdherrschaft Wiens. Das Manifest erscheint in den Zeitschriften „Volný duch“ (freier Geist) und „Komuna“, Autor ist Antonín Pravoslav Kalina. Dort steht unter anderem:

Tschechische Anarchisten am Anfang des 20. Jahrhunderts in Duchcov
„Freiheit sehen wir nur dort, wo es keine Autorität gibt – in der Anarchie; wir sind der Ansicht, dass weder Völker noch Einzelne in ihr untergehen. Im Gegenteil, sie gehen heute unter, in der legalisierten Unterdrückung. Für uns ist deshalb weder der Kollektivismus noch der staatliche Kommunismus, den die Sozialdemokratie zum Ziel haben, ein Ausgangspunkt für die Freiheit. Und ebenso wie wir Aktivitäten verwerfen, die auf ihre Herbeiführung gerichtet sind, so verwerfen wir diese auch aus der Überzeugung heraus, dass sie zur Unterdrückung und Verwischung jeder individuellen Freiheit führen, die wir als einzigen Impuls des Lebens ansehen.“

Spätestens das Manifest macht aus dem tschechischen Anarchismus eine eigene gedankliche Richtung. Zentrale Punkte sind die Ablehnung des Staates sowie des Militärs, weil sie den Vorstellungen der Anarchisten nach den Kapitalismus schützen. Stattdessen heißt es, dass Naturgüter und Produktionsmittel „jedem Einzelnen zur Verfügung stehen“ sollten. Mit dem Manifest wollen die Intellektuellen bei der Arbeiterklasse ein freiheitlich-revolutionäres Bewusstsein schaffen. So steht dort auch: Wir wollen…:

Stanislav Kostka Neumann  (Foto: Public Domain)
„unseren radikalen Bemühungen auf radikale Weise zum Leben verhelfen, wobei wir auf die Erziehung des Proletariats zur Herausbildung von selbständig denkenden, energischen und kraftvollen Individuen einwirken.“

Nur wenig später, im Jahr 1904, entstehen die beiden wohl wichtigsten Organisationen des tschechischen Anarchismus: Für die syndikalistische Strömung ist dies der Tschechische Bund aller Gewerkschaften (Česká federace všech oboru) und für die stärker theoretisierende Strömung die Tschechische Anarchistische Föderation (Česká anarchistická federace). Einer der einflussreichsten Anarchisten in den Böhmischen Ländern zu der Zeit ist der Journalist, Dichter und spätere Politiker Stanislav Kostka Neumann. Er wirbt für eine Annäherung der syndikalistischen und der theoretisierenden Strömung, wie Václav Tomek schildert:

„Interessant ist, dass Neumann in einem Artikel mit der Überschrift ‚Beide Föderationen‘ schrieb, der allgemeine Gewerkschaftsbund sollte die Faust des Anarchismus sein und der theoretisch orientierte Zusammenschluss der Kopf des Anarchismus.“

Vor dem Ersten Weltkrieg begeistern sich viele junge Intellektuelle für anarchistische Ideen. Immer neue Zeitschriften entstehen, sie heißen zum Beispiel „Bezvládí“ (Anarchie), „Matice svobody“ (Freiheitsverein) oder – wie schon erwähnt – „Komuna“. Genau dort arbeitet unter anderem kein geringerer als Jaroslav Hašek als Redakteur. Der geniale Schriftsteller betätigt sich auch aktiv in der Anarchistischen Föderation, erst nach dem Krieg wird Hašek dann Sozialdemokrat.

Der Weg zu den Kommunisten

Bohuslav Vrbenský  (Foto: Public Domain)
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg entsteht in der Föderation tschechischer Anarchisten die Idee, sich ernsthaft parteipolitisch zu organisieren. Bei einem Kongress im April 1914 schlägt Gründungsmitglied Bohuslav Vrbenský vor, sich als Partei der tschechischen Anarchisten-Kommunisten neu zu formieren. Einige Mitstreiter lehnen dies jedoch ab. Michael Kácha etwa bezeichnet eine solche Partei als „nichtanarchistische Organisationsform“. Doch er verliert den Richtungsstreit, und Vrbenský setzt sich durch. Allerdings wird die weitere Entwicklung jäh gestoppt.

„Der Erste Weltkrieg bedeutete ein Ende für jegliche Tätigkeit, auch die illegale. Denn auch die Anarchisten mussten einrücken, oder sie wurden verhaftet. Als Organisation weiterzumachen, war also nicht mehr möglich. Viele der bekannten Anarchisten ließen an der Front ihr Leben“, so Václav Tomek.

Diejenigen Anarchisten, die während des Weltkrieges interniert sind, kommen in den Gefängnissen mit den sogenannten Volkssozialisten in Kontakt. Schon zuvor sind durchaus einige Anarchisten damit unzufrieden, dass ihre Bewegung eher eine Randerscheinung ist und keine Durchschlagskraft hat.

Oktoberrevolution in Russland  (Foto: Public Domain)
Dann kommt das Jahr 1918 mit der Oktoberrevolution in Russland. Wie Václav Tomek betont, stellt diese plötzlich „einen zentralen Aspekt jeglicher anarchistischer Überzeugung“ infrage: die Ablehnung des Staates. Letztlich schließt sich die Partei der tschechischen Anarchisten-Kommunisten 1919 mit den Volkssozialisten zusammen. So vereint nennt man sich „Tschechische Sozialistische Partei“. Aber nicht nur das: Einige Anarchisten nehmen sogar Mandate und Regierungsfunktionen an. Vrbenský etwa wird als Leiter des Ressorts Ernährung wohl erster anarchistischer Minister überhaupt.

Der linke Teil um Stanislav Kostka Neumann orientiert sich bereits zu Kriegsende immer mehr in Richtung Bolschewismus. Aber auch die Anarchisten in der Sozialistischen Partei wenden sich schließlich genau dorthin. Václav Tomek:

„Die Gruppe um Vrbenský hatte zunächst die Idee, den Kern der neuen Sozialistischen Partei zu bilden und anarchistische Forderungen durchzusetzen. Das erwies sich jedoch als Illusion. Vrbenský wurde sogar ausgeschlossen, die anderen folgten ihm und verließen aus eigenen Stücken die Partei. Zusammen gründeten sie die ‚Unabhängige Sozialistische Partei‘. Die war aber zu klein, um irgendwie Einfluss zu gewinnen. Deswegen wurde ihnen selbst klar: Wenn sie noch etwas bedeuteten wollten, konnte das nur durch eine andere, größere Organisation geschehen. Das wurde dann die Kommunistische Partei.“

Der Anschluss an die KP erfolgt im Jahr 1925. Es ist das Ende der Bewegung tschechischer Anarchisten.

Autoren: Till Janzer , Ondřej Novák
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