Union verliert in Prag, aber feiert stimmungsvolle Rückkehr in Europa
In den Wettbewerben des europäischen Vereinsfußballs fand am vergangenen Donnerstag auch eine Begegnung statt, die es so noch nie gab: Slavia Prag gegen Union Berlin. Für die Gäste aus der deutschen Hauptstadt hatte die Partie an der Moldau sogar einen symbolhistorischen Hintergrund: Vor 53 Jahren verhinderte der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei, dass die Berliner ihre Europapokal-Premiere schon damals feierten. Umso mehr freuten sich die Anhänger des 1. FC Union auf den quasi europäischen Neustart ihres Teams in der Goldenen Stadt.
Der SK Slavia Prag und der 1. FC Union Berlin sind zwei Hauptstadtclubs, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Der am 2. November 1892 gegründete Prager Verein gehört zu den ältesten Fußballvereinen in Mitteleuropa. Mit 17 Meistertiteln (Anm. d. Red.:die vier im Protektorat Böhmen und Mähren errungenen Saisonsiege nicht hinzugezählt) und neun Pokalsiegen sind die Moldaustädter nach Lokalrivale Sparta Prag der zweiterfolgreichste Club des Landes. Und auch international machten die Prager schon mehrfach von sich reden, zuletzt vor drei Jahren und in der vergangenen Saison, als sie jeweils bis ins Viertelfinale der Europa League vorstießen.
Demgegenüber liest sich die Erfolgsbilanz des 1. FC Union Berlin wie ein leeres Blatt: Der Club aus dem Ostberliner Stadtteil Köpenick wurde offiziell erst am 20. Januar 1966 gegründet, sein Vorgängerverein, der SC Union Oberschöneweide, allerdings schon im Jahr 1906. Dieser erreichte 1923 mit der Deutschen Vizemeisterschaft seinen größten nationalen Erfolg. Der 1. FC Union kam dazu erst 1968 mit dem Gewinn des FDGB-Pokals in der ehemaligen DDR. Im wiedervereinten Deutschland schafften die Unioner in der Saison 2000/01 mit dem Einzug in das DFB-Pokalfinale eine Sensation – als Regionalligist waren sie bis ins Endspiel vorgestoßen! Von den beiden großen Pokalauftritten konnten die Köpenicker jedoch international nicht beziehungsweise kaum profitieren. Deswegen feiern die Anhänger des Vereins die diesjährige Teilnahme an der Uefa Conference League auch als ihre eigentliche internationale Premiere.
Union-Fans froh, in Prag endlich richtig in Europas Fußball einzusteigen
Das bestätigten Radio Prag International gegenüber einige Union-Fans kurz vor dem Anpfiff der Auswärtspartie bei Slavia Prag:
„Also warum bin ich nach Prag gekommen? Erstens mal ist Prag eine geile Stadt, zweitens ist das für uns ein großes Ereignis. Uns hat der europäische Wettbewerb quasi von heute auf morgen ‚überkommen‘, wir waren eigentlich noch gar nicht soweit. Wir finden das toll, und wir finden auch toll, dass viele Unioner den Weg hierher gefunden haben“, sagte Union-Fan Michael Kluge, und sein mitgereister Sohn Max ergänzte:
„Wie ich mich fühle? Ich bin einfach froh, hier zu sein und dieses Spiel vor Ort miterleben zu können. Es ist schön, nun auch international dabei sein zu können, im Stadion, mit den Union-Fans zusammen.“
Ein etwas später noch ans Mikrofon gekommener Berliner, FCU-Fan Rolf, beschrieb seine Vorfreude so:
„Ich freue mich sehr, dass wir jetzt hier in Prag sind. Für mich ist das Alles ein Plus zu der guten Saison vom letzten Jahr, und egal wie es ausgeht, wir freuen uns auf die Tour durch Europa. Wir sind natürlich gern nach Prag gekommen, denn so nah gibt es nirgendwo ein schönes Spiel.“
Die Unioner freuten sich schon Ende August auf die Rückkehr nach Europa, damals wurde die Gruppenphase der neu geschaffenen Conference League ausgelost. Und dass dieser Neustart ausgerechnet in Prag erfolgen sollte, habe die Berliner besonders glücklich gemacht, merkt Union-Fan Max an:
„Punkt eins: Man kommt schnell hin, man kann dabei sein. Der zweite Punkt ist der, dass hier alles sehr geschichtsträchtig ist: Prag hat eine lange Historie, der Verein auch, und mit Slavia Prag und Union Berlin treffen zwei Traditionsvereine aufeinander. Was will man mehr?“
Überhaupt hat die tschechische Hauptstadt für den Verein aus der Berliner Wuhlheide eine schicksalhafte Bedeutung. Denn ein Ereignis aus dem Jahr 1968, das vor 53 Jahren in Prag stattfand und in der ganzen Welt für Schlagzeilen sorgte, ließ damals auch die Europapokal-Träume der Unioner platzen. Fan Micha erinnert sich:
„Union ist zweimal gebeutelt gewesen. Einmal durch die ganzen Umstände im August 1968, es war meines Wissens ein Aufbegehren der hiesigen Bevölkerung gegen die Besatzer des Landes. Und das zweite Mal war es Nine Eleven! Da waren viele von uns schon in Finnland, mussten dann aber unvermittelt wieder zurückreisen. Insofern sind wir froh, dass wir hier in einer friedlichen Zeit endlich mal richtig in Europa spielen dürfen.“
Michael Kluge meint die Reformbewegung „Prager Frühling“, die im August 1968 von den Truppen der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Warschauer-Pakt-Staaten niedergeschlagen wurde. Als Konsequenz auf die Okkupation der Tschechoslowakei wurden die Unioner in der folgenden Saison um ihre Qualifikation für den Europapokal der Pokalsieger gebracht, da der Deutsche Fußball-Verband (DFV) der DDR aus Protest gegen die Neuauslosung aller Europapokalpartien mit Trennung von Ostblock- und Westblock-Staaten seine Mannschaften zurückzog. Der Einzug der Mannschaft in das DFB-Pokalfinale 2001 bescherte dem Verein dann aber 33 Jahre später die europäische Premiere. Weil Pokalsieger FC Schalke 04 als Vize-Meister für die Champions League startberechtigt war, durfte Union dennoch in der Folgesaison erstmals im Europapokal spielen. Man qualifizierte sich daher als erster und bisher einziger deutscher Drittligist für den Uefa-Pokal. Dort war jedoch schon nach zwei Runden Schluss: Die Köpenicker schalteten in der ersten Runde den finnischen Vertreter Haka Valkeakoski aus, und dies mit der besagten Auswärtspartie am 11. September in Helsinki. Schon eine Runde später aber schieden sie gegen die bulgarische Mannschaft Litex Lowetsch aus.
Vor 20 Jahren aber spielten die Unioner eben noch in der dritten Liga Deutschlands. In der Saison 2018/19 aber gelang ihnen der bisher größte Coup in ihrer Vereinsgeschichte: der Aufstieg in die 1. Bundesliga. Schon zwei Jahre darauf folgte der nächste Meilenstein: Union schloss die Saison 2020/21 als Siebter ab und qualifizierte sich für die Conference League. Und hier rechnen sich Spieler wie Anhänger der Rot-Weißen durchaus Chancen aus. Union-Fan Micha:
„Wir sind immerhin Siebter der Vorsaison in der Bundesliga. Das heißt, ein kleines bisschen Fußball spielen können wir auch. Wir haben eine kämpferisch starke Mannschaft, wir haben auch ein paar clevere Jungs dabei, unser Kapitän hat mit Rapid Wien schon viele internationale Spiele bestritten. Und unser Cheftrainer, Urs Fischer, hat als Coach schon in der Champions League gewirkt. Also ich denke, da können wir ganz guter Hoffnung sein.“
Union-Fan Rolf wiederum hebt hervor, dass sich die Berliner nicht nur als willkommene Touristen und Punktelieferanten in Europa präsentieren wollen:
„Aber wir wollen nicht nur durch Europa fahren, um schöne touristische Ziele zu sehen. Sondern wir wollen auch wirklich Fußball spielen, und das wenn möglich erfolgreich. Insofern sehe ich dem ganz optimistisch entgegen, dass die Mannschaft versucht, ihre Chancen zu nutzen.“
Wie erwartungsfroh und optimistisch die Unioner in dieses Duell hineingingen, zeigten die Fans schon kurz vor dem Anpfiff des Spiels, indem sie ihre Mannschaft mit innbrünstigen Gesängen begrüßten. Im Match selbst aber zeigte sich bald, dass die Berliner als Team noch relativ unerfahren sind auf dem internationalen Parkett. Ziemlich früh gerieten sie durch ein Tor von Slavia-Verteidiger Alexander Bah in Rückstand, und der sichtbar nervöse Unioner Paul Jaeckel flog kurz vor der Halbzeitpause nach einem unnötigen Foul mit Geld-Rot vom Platz. Überraschenderweise agierten die Gäste nach dem Seitenwechsel mit zehn Mann aber wesentlich forscher und entschlossener und wurden so auch durch den Treffer von Kevin Behrens in der 70. Spielminute mit dem Ausgleichstreffer belohnt.
Nach diesem Tor aber schwanden bei den zahlenmäßig unterlegenen Berlinern dann die Kräfte, und zwei frisch eingewechselte Akteure von Slavia, die Angreifer Jan Kuchta und Ivan Schranz, trafen noch zum 3:1-Endstand. Die Fans der Gastgeber feierten den Sieg ihrer Mannschaft über den Bundesligisten gebührend, doch auch die Unioner verabschiedeten ihr Team mit Standing Ovations und einem langanhaltenden Fangesang.
Steffen Freund: Man genießt es, wenn beide Fan-Lager sich hochpuschen
Die einzigartige Atmosphäre dieses Spiels war dann auch ein Thema des Gesprächs, das Radio Prag International nach dem Abpfiff mit dem ehemaligen deutschen Nationalspieler und heutigen TV-Kommentator Steffen Freund geführt hat.
Herr Freund, wir haben ein Auftaktspiel in der neu geschaffenen Conference League gesehen, in dem man sicher keinen hochklassigen Fußball erwarten durfte. Doch was sagen Sie zur Stimmung dieser Begegnung, in der zwei Hauptstadtclubs, zwei Traditionsvereine und imponierend leidenschaftliche Fans aufeinander getroffen sind?
„Das Match heute hat auf alle Fälle gezeigt, dass die Uefa Conference League nicht nur lebt, sondern sehr viel Emotion dabei ist. Für Slavia Prag war es nach den bitteren Niederlagen in der Champions-League-Qualifikation und der Europa-League-Qualifikation schon so etwas wie die letzte Möglichkeit, jetzt international doch noch ein Ausrufezeichen zu setzen. Das haben die Prager gemacht, besonders in der ersten Halbzeit. Aus meiner Sicht aber hatten sie in der zweiten Halbzeit große Probleme, weil Union mit einem Mann weniger das wirklich ordentlich verteidigt und gekontert hat. Das führte zum Ausgleich, und wenn man dann das zweite Tor für Slavia sieht – ein abgefälschter Schuss, der dem Torschützen direkt vor die Füße fällt – ist es natürlich ein bitterer Abgang für Union. Andererseits aber fruchteten dann natürlich einige Auswechslungen von Slavia-Trainer Trpišovský sehr gut, weil er Offensivspieler brachte, die vor allem im Torraum gefährlich werden. Insgesamt ist es vielleicht ein verdienter Sieg, aber auch eine ordentliche Leistung mit zehn Mann von Union.“
Ich habe es ähnlich gesehen: Es waren zwei unterschiedliche Halbzeiten, also war es vielleicht der Schuss mehr internationale Erfahrung, der am Ende den Ausschlag zugunsten von Slavia gegeben hat?
„In der ersten Halbzeit vielleicht. Aber Union spielte natürlich auch auswärts, und da sind wir wieder an dem Punkt, dass wir endlich wieder Zuschauer im Stadion haben. Wir feiern das hier auch mit, genießen das, denn beide Fan-Lager haben sich hochgepuscht. Die Union-Fans singen sogar bei einer 1:3-Niederlage und stehen auf für ihre Mannschaft, die das dankend quittiert. Das ist eine wundervolle Symbiose, und ich würde mir natürlich wünschen, wenn Union jetzt in den nächsten Spielen auch erfolgreich ist.“
Also, es hat Spaß gemacht auf mehr…
„Ja, na klar, selbstverständlich.“
Und freuen dürfen sich die Fans beider Traditionsvereine auch schon auf das Rückspiel, das am 9. Dezember in Berlin ausgetragen wird.