„Unsere Vertreter in Prag und nicht in Berlin“: die 92-jährige Erna Meißner über Jugend, Krieg und Aussiedlung

Ernestine (Erna) Meißner

Im nordböhmischen Ústí nad Labem / Aussig hatte das Collegium Bohemicum eine besondere Person zu Gast. Die 1920 in Střekov / Schreckenstein geborene Ernestine (Erna) Meißner besuchte eine Woche ihre Geburtstadt, die heute Teil der Stadt Ústí nad Labem ist, um von ihrer sozialdemokratisch geprägten Jugend in der Ersten Tschechoslowakischen Republik zu berichten. Sie besuchte mehrere Grund- und Mittelschulen und sprach vor interessierten Studenten, aber auch Bürgern der Stadt Ústí. Radio Prag hat die 92-jährige ans Mikrofon gebeten.

Ernestine  (Erna) Meißner
Frau Meißner, sie sind geboren in Schreckenstein. Wie ist es jetzt, nach so langer Zeit, zurückzukehren?

„Ich würde sagen: Teils, teils. Einerseits mit viel Wehmut, andererseits, gerne, weil ich ja meine alte Heimat geliebt und sie gerne wieder gesehen habe.“

Wie war es hier im Großraum Ústí aufzuwachsen, in Schreckenstein?

„Ich bin einfach hier zu Hause gewesen. Es war es für mich als Kind ein wunderschönes Erlebnis, hier aufzuwachsen.“

Sie haben heute vor Studenten auf Tschechisch vorgetragen. Haben Sie in der Schule Tschechisch gelernt oder auf eigene Initiative?

„Wir haben von der dritten Volksschulklasse an jede Woche zwei Stunden Tschechisch gehabt. Zum Beispiel mapa ist Karte und prapor ist Fahne. Als ich dann im Jahre 1934 aus der Bürgerschule entlassen wurde, hatte ich schon die Grundkenntnisse der tschechischen Sprache erlernt. Nach dem dritten Jahrgang in der Bürgerschule war ich ein Jahr auf Austausch in Týniště nad Orlicí / Tinischt an der Adler, um tschechisch in Wort und Schrift zu perfektionieren.“

Warum war das wichtig für Sie?

Foto: Barbora Kmentová
„Es war sehr wichtig für mich, da ich als Lehrerin eine Staatstellung haben wollte. Mein Wunsch war von Kindheit an, Lehrerin zu werden. Meine Eltern haben mir das unter großen Entbehrungen ermöglicht. Ich erinnere mich, dass mein Vater in den 20 Jahren in denen ich aufgewachsen bin, einen einzigen Anzug genäht bekommen hat. Ansonsten ist er immer in der Montur der Eisenbahner gekleidet gewesen.“

Sie sind aus einer sozialdemokratischen Familie. Ihr Vater war Sozialdemokrat, ein Arbeiter. Wie war das für Sie aufzuwachsen. Waren Sie eingebunden in diese Arbeitervereine, in diese Arbeiterkultur?

Henleinpartei
„Das spielte eine sehr große Rolle für mich, weil ich die Gedankengänge der Sozialdemokraten von klein auf gekannt habe. Die Ziele, die die Sozialdemokraten verfolgt haben, die sind mir eingebrannt worden. Und ich habe sie das ganze Leben beibehalten.“

Wie war es für Sie und Ihre Familie 1935 bei den Wahlen in der Tschechoslowakei, als die Henleinpartei so stark wird. Wie haben Sie das wahrgenommen, da waren Sie 15 Jahre alt. Haben Sie teilgenommen am Wahlkampf?

Wahlen in 1935  (braun - Sudetendeutsche Partei)
„Also wenn Sie damit meinen, dass ich am ersten Mai rote Nelken verkauft habe, dann können Sie sich vorstellen, dass ich auch bei der Wahl gezittert habe und sehr enttäuscht war über die Menschen, die damals angaben Sozialdemokraten zu sein, und dann zu den Deutschnationalen übergewechselt sind. Das war die Henlein-Partei. Ein Ableger des Faschismus und Hitlers. Die Sozialdemokratie wurde immer schwächer. Ich persönlich war wirklich bekannt. Bei einem Treffen der Sudetendeutschen in Nürnberg habe ich eine Mitschülerin getroffen. Als sie mich sah, hat sie zu mir gesagt,: „Ach jetzt kommt die rote Rats-Erna!“.

Anschluss Sudetenlands  (Foto: Wikimedia Commons / PD)
Was passierte dann 1938 nach dem Anschluss? Wie war das für Sie und Ihre Familie hier in Ústí?

„Ich habe wirklich gelernt meinen Mund zu halten, weil ich wusste, dass es ganz schlimm werden würde für meinen Vater, der ja auf der Insel Sylt und in Heidkate zur Zwangsarbeit gewesen ist. Und wenn ich mich da in irgendeiner Art und Weise hervorgetan hätte, wäre es für ihn noch schlimmer geworden.“

Warum musste ihr Vater Zwangsarbeit leisten?

„Er war im Stadtrat von Schreckenstein der Sozialdemokraten, es waren nur drei, die im Stadtrat gewesen sind. Die Mehrzahl waren Henlein-Anhänger. Die drei mussten sich durchsetzen. Mein Vater hatte damals keine gute Position gehabt. Er ist immer für die Sozialdemokratie eingetreten. Und im Stadtrat hat er auch nicht geschwiegen. Wenn man ihn angewiesen hat, er solle sein Abzeichen abnehmen, hat er darauf lediglich erwidert, das Abzeichen bleibt dran. Wir haben immer noch unserer Vertreter in Prag und nicht in Berlin.“

Aussiedlung Sudetendeutscher
Jetzt waren Sie ja eigentlich Antifaschisten, als Sozialdemokraten. Sind Sie trotzdem vertrieben worden?

„Mein Vater kam zurück von der Insel Sylt. Meine Mutter lebte dann schon in Chomutov / Komotau. Von dort haben sie sich eine Bescheinigung geholt, mein Vater mit meinem Bruder, der war damals schon Lehrer. Die beiden sind dann nach Hause gefahren und haben sich die Dokumente, die ihn als Antifaschisten ausgezeichnet haben, geholt. Mein Bruder hat dann einem tschechischen Soldaten seine Dokumente gezeigt und gesagt: „Schau mal ich hab dieses hier, warum soll ich jetzt mitmarschieren?“. Darauf haben die geantwortet: „Was, schau, dass du nach Hause kommst!“. Er durfte dann wieder zurück zu seiner Familie und konnte mit ihnen dann aussiedeln. Mein Bruder ist erst später weggekommen von Komutau, da er die Antifa geleitet hat.“

Wo sind sie in Deutschland dann ansässig geworden?

„Meine Eltern kamen nach Nürnberg und mein Vater wurde wieder bei der Bahn angestellt, weil er ja im Beamtenverhältnis war. Nach seiner Pensionierung ist er nach Untertürheim gekommen und hat in unserem Häuschen eine Wohnung gehabt. Er hat dann noch zehn Jahre bei uns gewohnt hat. Ich bin ja aus Krnov / Jägerndorf ausgesiedelt worden. Ich hatte keine Unterlagen, die mich als Antifaschistin ausgewiesen hätten. Nach dem Krieg gab es ja kein gut funktionierendes Postsystem, es hat sehr lange gedauert. Bevor ich Unterlagen bekommen hätte, musste ich das Dorf ja schon verlassen. Mein Mann, mein Sohn und ich, durften dann 50kg pro Person mitnehmen. Wir sind in einem Viehwagon mit 32 anderen Deutschen von Jägerndorf nach Augsburg in Westdeutschland gekommen.“

Ernestine Meißner
Sie sind jetzt die gesamte Woche in Ústí an Schulen unterwegs gewesen und haben vor Schülern und Studenten gesprochen. Welches Gefühl haben Sie dabei, wenn Sie vor diesen jungen Leuten in der heutigen Tschechischen Republik ihre Geschichte erzählen?

„Erstens habe ich mich gefreut über die vielen jungen Menschen. In meinem Alter sind sehr viele griesgrämig und wollen nur ihre Ruhe haben. Aber ich habe mich gefreut, weil die Kinder und Jugendlichen so aufmerksam dabei waren. Sie haben so gut zugehört und auch wirklich gut applaudiert, wenn ich etwas gesagt habe. Da war die Freude meinerseits sehr groß.