Verstecktes Kulturerbe
Alt, einmalig und wertvoll - das sind meistens die charakteristischen Züge eines Kulturdenkmals. Das von vielen Wissenschaftlern sowie von Kulturliebhabern bewundert wird. Berühren aber meistens verboten! Bara Prochazkova hat aber in Prag ein Archiv entdeckt, das seit 2004 zum technischen Kulturerbe der Tschechischen Republik gehört, unter Denkmalschutz steht und im vollen Betrieb genutzt wird. Im nun folgenden Kultursalon wird sie Sie in dieses Archiv führen:
Diese Türen verbergen hinter sich einen Schatz! Wer sich aber eine Grube voll von Goldmünzen vorstellt, der liegt falsch, allerdings nicht ganz. Denn hinter dieser Tür sind Tausende von Unterlagen versteckt, die für alle Tschechen Geld am Lebensabend bedeuten. Also keine Banknoten im wahrsten Sinne, aber wichtige Unterlagen für die Berechnung der Rente. Dieses Archiv befindet sich im Gebäude der zentralen Anstalt für Sozialversicherung in Prag 5 - Smichov, und das bereits seit ziemlich genau 70 Jahren. Im Jahr 1935 wurde dieses technische Wunder von der Firma Podhajsky im Auftrag der Versicherungsanstalt konstruiert. Die Leiterin der Abteilung für Datenerhebung, Dagmar Dudova, beschreibt den Grundgedanken dieser Erfindung:
"Der Sinn von diesem System war es, den Arbeitstisch näher zur Kartothek zu bringen. Wenn ein Dokument unter normalen Umständen aus der Datenbank herausgenommen wird, kann es oft passieren, dass es nicht dahin zurückkommt, wo es hingehört. Dann findet man es nie wieder. Wenn aber hier mit den Dokumenten gearbeitet wird, bleibt immer der Umschlag auf dem Originalplatz und der Mitarbeiter zieht nur die Zettel heraus, die er braucht, bearbeitet die Unterlagen auf dem Tisch im Sitzlift und dann gibt er sie wieder direkt in den Umschlag zurück."
Das Archiv besteht aus 18 Blocks mit jeweils einem Sitzlift, in einem Block befinden sich 500 Schubladen. Jede Schublade ist drei Meter tief, diese Rechnung ergibt am Ende insgesamt 27 Kilometer Ablageraum. Wie das technisch funktioniert, erklärt Dagmar Dudova:
"Die Bedienung ist ganz einfach. In der Sitzkabine gibt es zwei Hebel, mit denen man an den Blocks hoch und runter fahren kann. Auf dem Boden ist eine Schiene, die es ermöglicht, die Sitzlifte nach rechts und links zu fahren. Auf den Schienen befinden sich auch Raster. Wenn das Sitzlift an einem Raster stehen bleibt, kann der Mitarbeiter genau in die Schubladenreihe greifen, wo sich das Material befindet."
Damit man bei den vielen Materialien nicht durcheinander kommt, hat jedes Blatt seinen Platz, und zwar geordnet nach der Geburtsnummer. Seit 1947 bekommt jede Tschechin und jeder Tscheche eine Geburtsnummer, die dann bis zum Lebensende als Identifikationsmerkmal dient. Kein Wunder, dass diese Nummer vom ehemaligen Leiter dieser Datenbank, Josef Radhausky, eingeführt wurde. Der Grund: Ein System für die 27 Kilometer lange Ablagefläche musste gefunden werden. Wie sich die tschechische Identifikationsnummer zusammensetzt, erklärt Dagmar Dudova:
"Die Geburtsnummer setzt sich aus dem Geburtsdatum und einer Zusatzzahl zusammen, also zuerst kommen die beiden letzten Zahlen des Geburtsjahres, dann der Monat und zum Schluss der Tag. Zu diesen sechs Zahlen wird noch eine Endung gegeben. Bis 1954 wurden drei Zahlen als Endung benutzt, seitdem haben alle Tschechen vier Ziffern am Ende der Geburtsnummer. Die ganze Nummer soll durch elf dividiert werden können, so erkennt man, ob es sich nicht um eine gefälschte Nummer handelt. Bei Frauen wird noch zum Monat die Zahl 50 addiert. So können wir also nach der Geburtsnummer schnell erkennen, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelt."
Es ist nicht schwierig zu erraten, dass es viele ähnliche Jahrgänge gibt, die sich gerade im produktiven Alter befinden oder die gerade ihren Rentenanspruch erheben. Damit aber das Archiv gleichmäßig ausgelastet ist, sind die Schubladen mit den in der Zahlenreihe darauf folgenden Jahrgängen nicht nebeneinander, nur Männer und Frauen bleiben immer zusammen, in getrennten Schubladen versteht sich. Darunter findet man auch museale Unterlagen aus dem Jahr 1890.
Bis zum Jahr 1958 mussten die Arbeitgeber jedes Jahr einen Evidenzschein ausfüllen und in die Datenbank schicken, damals arbeiteten bis zu 30 Mitarbeiter im Archiv im Schichtdienst. Dieses System wurde dann umgestellt, es musste nur bei einem Arbeitsplatzwechsel ein Evidenzschein ausgefüllt werden, dies galt bis 2003. Heute muss wieder der Arbeitgeber jedes Jahr einen Schein für seine Angestellten ausfüllen, die Unterlagen werden nun aber seit 1996 auch elektronisch bearbeitet. Deshalb sind im Moment nur vier Mitarbeiter im Archiv tätig, obwohl sich ihre Rolle auch teilweise verändert hat. Vom Lagerverwalter bis zum Schauspieler, heutzutage kommen regelmäßig Filmteams, die im Archiv ihre Szenen meistens aus den 40er Jahren drehen, die Mitarbeiter müssen dabei die Statisten spielen. Aber nicht nur die Anzahl der Mitarbeiter hat sich verändert, dazu Dagmar Dudova:
"Also die Schubladen und die Sitzlifte sind in dem ursprünglichen Zustand, wie auf den Fotos aus den 30er Jahren. Nur die kleinen Lampen sind ausgetauscht worden. Der Hauptunterschied liegt darin, dass hier damals nur Männer saßen, heute arbeiten hier ausschließlich Frauen."
Das Archiv der zentralen Anstalt für Sozialversicherung steht auch regelmäßig auf dem Kulturprogramm von Staatsdelegationen, die nach Tschechien kommen. Dagmar Dudova hat schon vielen ausländischen Gäste das 56 Meter lange und 6,5 Meter hohe Archiv gezeigt:
"Neben unserem Ministerpräsidenten, anderen Politikern und einigen Abgeordneten, waren hier auch Direktoren von Versicherungsanstalten oder Politiker aus dem Ausland. Zuletzt war hier der französische Minister für Informatik, der hier auch auf dem Sitzlift hoch und herunter gefahren ist. Auch Chefs deutscher Versicherungsanstalten waren hier zu Besuch."
Jedes Jahr werden rund 100.000 Dokumente aussortiert, es sind meistens Menschen, die bereits gestorben sind, also keinen Anspruch auf Rente mehr haben. Dafür kommen aber immer neue Leute in den Arbeitsprozess dazu, die Kartothek wird also nie leer sein. Denn obwohl heutzutage die Renten-Unterlagen elektronisch bearbeitet werden, werden nach wie vor Zettel in Papierform als Kopie in das Archiv einsortiert. Dies sei zum Beispiel als Gerichtsdokument notwendig, denn fast jede Woche kommt eine Nachfrage auf Überprüfung der Rentenunterlagen, so Dagmar Dudova. Das Archiv ist zwar 70 Jahre als, aber funktioniert auf moderner Basis, erklärt Dudova weiter:
"Es wurde zur vollen Benutzung entwickelt und man kann das Archiv bis heute effektiv nutzen. Der Hauptpunkt ist, dass die Datenbank 18 Zugänge hat, die auch parallel genutzt werden können. Die Ingeneure, die zu uns kommen, sagen, dass es wie die moderne EDV funktioniert. Die heutige elektronische Datenverarbeitung arbeitet auch auf der Basis, dass mehrere Leute aus mehreren Stellen Zugriff haben können. Also muss ein Arbeiter nicht warten, bis der nächste mit seiner Arbeit fertig wird, sondern sie können gleichzeitig arbeiten."