Virtuell (wieder)vereint – Sudetendeutsche Archivalien im Internet
Die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg hat nicht nur demographische und wirtschaftliche Lücken gerissen, die bis heute sichtbar sind. Auch in den tschechischen Archiven klaffen gewaltige Lücken, denn die Vertriebenen haben viele ihrer historischen Dokumente mitgenommen. Die sudetendeutschen Archivbestände in Tschechien und Bayern wieder zusammenzuführen ist das Ziel eines Projektes des bayerischen Hauptstaatsarchivs in München und des Staatlichen Bezirksarchivs in Cheb / Eger. Karel Halla, der Leiter des Archivs in Cheb, erklärt das Projekt im Interview mit Radio Prag genauer.
Herr Halla, Ihr Archiv in Cheb arbeitet mit bayerischen Archiven zusammen an einem gemeinsamen Projekt. Es geht dabei um Archivalien aus den ehemaligen Sudetengebieten. Könnten Sie dieses Projekt ein wenig genauer beschreiben? Was ist das Ziel?
„Ziel des Projektes ist es, Archivalien zusammenzufügen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewaltsam auseinander gerissen wurden. Mit den vertriebenen Sudetendeutschen sind viele Archivalien ins Ausland gelangt, die jetzt natürlich in den Archivbeständen in der Tschechischen Republik fehlen, zum Beispiel Chroniken. Wir haben relativ geschlossene Sammlungen von Gemeinde-, Schul- oder Kirchenmatrikeln. Aber in den Fällen, in denen zum Beispiel ein Chronist selbst vertrieben wurde, hat er seine Chroniken mitgenommen. Und die sind oder waren zum Teil im Bestand des Sudetendeutschen Archivs. Und dieses Sudetendeutsche Archiv wurde vor zwei Jahren vom Hauptstaatsarchiv in München übernommen. Wir würden gerne die Chroniken, die nun auf beiden Seiten der Grenze sind, wieder zusammenfügen. Wir wollen ganz sicher nicht eine Rückgabe dieser Dokumente fordern. Das steht überhaupt nicht zur Debatte. Aber wir denken, dass diese Archivalien zusammengehören. Das wollen wir virtuell erreichen, nach einer Digitalisierung der Dokumente, damit sich wieder eine zusammenhängende chronologische Reihe ergibt.“Um wie viele Dokumente handelt es sich dabei ungefähr auf beiden Seiten der Grenze?
„Das muss ich nach der Art dieser Dokumente auflisten. Bei uns werden in erster Linie Matrikeln digitalisiert. Diese Matrikeln sind im Original zumeist auf tschechischer Seite archiviert, Duplikate aber auf deutscher, gerade in dem Sudetendeutschen Archiv. Es handelt sich dabei um beinahe 11.000 Matrikelbücher, die einen Zeitraum etwa vom Ende des 16. Jahrhundert bis zum Jahr 1945 umfassen. Das ist also für Genealogen eine sehr fruchtbare Angelegenheit. Dazu kommen dann noch die Chroniken, über die ich schon gesprochen habe. Deren Zahl lässt sich nicht genau beziffern, weil auf bayerischer Seite nicht so viele Chroniken archiviert sind, dafür aber so genannte Heimatberichte. Das sind Dokumente, die gewissermaßen in der Rückschau darüber berichten, wie es vor und während des Zweiten Weltkriegs in den Sudetengebieten ausgesehen hat. Wir finden, dass das ähnlich stark aussagekräftige Archivalien sind wie die Chroniken. Deshalb kann ich also nicht genau sagen, wie viele solcher chronistischer Dokumente vorliegen, aber ihre Zahl geht in die Tausende. Des Weiteren sollen aber auch Fotografien digitalisiert werden. Dazu haben wir eine ungefähre Statistik erstellt, und auf beiden Seiten der Grenze kommen dafür insgesamt fast 120.000 Fotos in Frage, etwa 80.000 auf tschechischer und 40.000 auf deutscher Seite. Darunter sind natürlich Fotos aus der Vorkriegszeit, aber auch solche, die die eigentliche Vertreibung und die Jahre unmittelbar nach der Vertreibung dokumentieren. Und nicht zuletzt muss ich noch eine Sache erwähnen, die zur Digitalisierung vorgesehen ist, und zwar den Bestand des Klosters Waldsassen. Das ist ein immens wertvoller Bestand. Die ältesten Dokumente in ihm datieren aus dem Jahr 1133. Das Kloster Waldsassen liegt unmittelbar an der Grenze zum Bezirk Cheb auf bayerischer Seite. Aber im Mittelalter und der frühen Neuzeit gehörten zu dem Kloster viele kleine Lehngüter in der Gegend um Cheb. Gerade auch aus dem ursprünglichen Bestand des Klosters befinden sich viele Archivalien auf beiden Seiten der Grenze. Und wir wollen uns bemühen, diesen Bestand virtuell im Internet wieder zusammenzuführen. Das ist eigentlich das übergeordnete Ziel des ganzen Projektes.“
Wann werden die Dokumente im Internet zugänglich sein?
„Das Projekt ist für drei Jahre angesetzt. Momentan können wir nicht vorhersagen, wie lange die Arbeiten insgesamt dauern werden. Unser Archiv arbeitet schon fast ein Jahr an der Realisierung des Projektes. Bei den Matrikeln sind wir jetzt beim Buchstaben K, also etwa bei der Hälfte. Das bedeutet 5000 Bücher sind bereits digitalisiert. Von den Chroniken ist bei uns auf tschechischer Seite etwa ein Drittel fertig. Mit der Digitalisierung und dem Bestand des Klosters Waldsassen müssen wir erst noch anfangen. Ich nehme nicht an, dass wir das alles in diesen drei Jahren schaffen werden, aber das Projekt wollen wir selbstverständlich zu Ende führen. Die Ergebnisse werden nach und nach präsentiert. Das heißt, alles, was zur Verfügung steht und bereits fachmännisch begutachtet wurde, werden wir allmählich zugänglich machen. Nach der Bewilligung dieses europäischen Projektes – denn das Ganze soll aus Mitteln der Europäischen Union finanziert werden – soll bis zum Ende dieses Jahres ein tschechisch-bayerisches Internetportal geschaffen werden. Und darin sollen dann ab Anfang 2011 die Archivalien nach und nach abgespeichert und der Öffentlichkeit präsentiert werden.“Wie wird der Nutzer dann in den Archivalien forschen können? Muss man sich dafür in irgendeiner Form registrieren lassen, oder werden die Dokumente völlig frei zugänglich sein?
„Diese Dokumente werden frei zugänglich sein, das heißt gebührenfrei für die Nutzer vom heimischen Internetzugang aus. Das ist auch deshalb beabsichtigt, weil gerade die Matrikeln von den Nutzern sehr häufig angefordert werden. Vielleicht werden wir von den Internetusern irgendeine grundlegende Registrierung fordern, wie etwa den Namen. Die Archivalien wird man nur im Internet durchforschen können, das heißt, man kann sie nicht auf den eigenen Computer herunterladen. Denn wir wollen verhindern, dass jemand eine zweite Datenbank mit ihnen anlegt. Aber der Zugang wird gratis sein, uneingeschränkt. Und die Präsentation der Dokumente wird natürlich zweisprachig sein. Das war der Ausgangspunkt des gemeinsamen Projektes.“Wenn das Projekt ausläuft, werden Sie die Zusammenarbeit mit Ihren bayerischen Kollegen fortsetzen? Gibt es schon Pläne für weitere Projekte?
„Ja, diese Projekte sind so konzipiert, dass sie fortgeführt und erweitert werden können. Wir haben vorläufig vereinbart, dass wir irgendwann im kommenden Jahr über ein weiteres Projekt reden wollen, sobald unser jetziges Projekt richtig angelaufen ist, das heißt sobald das Portal im Internet funktioniert. Dieses weitere Projekt wird die Digitalisierung historischer Landkarten und Pläne aus Tschechien und Bayern zum Ziel haben. Das ist eine etwas komplizierte Angelegenheit und sie wird eine gründliche Vorbereitung brauchen, weil Landkarten ja vom Format her schwieriger zu digitalisieren sind als viele andere Archivalien. Aber das ist der nächste Schritt, den wir im kommenden Jahr gemeinsam unternehmen wollen.“Ihr Archiv in Cheb ist nicht das einzige in Tschechien, das Archivalien aus den ehemaligen Sudetengebieten besitzt. Wissen Sie vielleicht, ob auch andere tschechische Archive vergleichbare Projekte mit deutschen Archiven planen oder durchführen?
„Bisher ist mir nichts Vergleichbares bekannt. Aber das Staatliche Gebietsarchiv in Litoměřice / Leitmeritz hat seine Bereitschaft erklärt, auch an unserem jetzigen Projekt teilzunehmen. Das heißt, auch Archivalien aus anderen Staatlichen Archiven in der Tschechischen Republik könnten in Zukunft in das Internetportal eingespeist werden. Aber abgesehen von dem Interesse der Kollegen in Litoměřice, weiß ich von keinem anderen Projekt in Tschechien, das mit den Sudetengebieten oder den Beziehungen zu Bayern zu tun hat.“