Von der Barockbibliothek zum astronomischen Turm: Das Prager Klementinum
Im ehemaligen Jesuitenkolleg Klementinum hat die tschechische Nationalbibliothek ihren Sitz. Das einzigartige Barockareal liegt in der Prager Altstadt in unmittelbarer Nähe der Karlsbrücke. Seit 1. April gibt es für die Besucher dort eine neue Besichtigungsroute.
Das Klementinum ist seit Jahrhunderten ein Kultur- und Bildungszentrum. Zudem gilt es als Juwel der Barockarchitektur. Jeden Tag kommen viele Tausend Touristen an dem Areal vorbei, wenn sie vom Altstädter Ring über die Karlsbrücke Richtung Prager Burg spazieren. Jedoch nur wenige von ihnen ahnen, dass sich schräg gegenüber der Karlsbrücke eine einzigartige Sehenswürdigkeit befindet. Darum haben die Vertreter der Tourismusagentur Prague City Tourism in Zusammenarbeit mit der Nationalbibliothek beschlossen, besser auf das Klementinum aufmerksam zu machen. Am 1. April wurde eine neue Besichtigungsroute eröffnet. Auf dieser wird das Klementinum nicht nur als Baudenkmal präsentiert, sondern auch als lebendiger Gebäudekomplex, den täglich Forscher und Studierende besuchen.
Tomáš Klimek leitet in der Nationalbibliothek die Abteilung „Historische Bücher und Musikfonds“. Mit der Führung durch das Areal fängt er in der Spiegelkapelle an. Diese sei genauso wie der Barocksaal und der astronomische Turm im 18. Jahrhundert erbaut worden, erzählt er.
„All diese Bauten entstanden innerhalb weniger Jahre, was bewundernswert ist. Leider wissen wir nicht genau, wer der Hauptarchitekt war. Entweder war es Kilian Ignaz Dientzenhofer oder František Maxmilián Kaňka. Sie waren beide hervorragende Baumeister der Barockzeit. Die Spiegelkapelle hieß ursprünglich Kapelle Mariä Verkündigung. An der künstlerischen Gestaltung beteiligte sich der renommierte Maler Wenzel Lorenz Reiner. Der obere Teil des Gebäudes wurde nach einem Entwurf von Anselmo Lurago erbaut. Die ganz oben stehende Plastik eines Atlanten mit einem Globus stammt höchstwahrscheinlich aus der Werkstatt von Matthias Bernhard Braun. Das waren alles große Namen des Barocks in Böhmen.“
Prag diente damals zwar schon seit einem Jahrhundert den Habsburgern nicht mehr als Hauptstadt. Doch Klimek zufolge war es weiterhin eine bedeutende europäische Stadt, sie galt als Zentrum der Wissenschaft und hervorragender Architektur.
Aus der Spiegelkapelle geht es in die erste Etage, wo sich der Barocksaal befindet. Dort werden Bücher aus dem 16. bis 18. Jahrhundert aufbewahrt. Tomáš Klimek:
„Diese Bücher müssen unter speziellen mikroklimatischen Bedingungen gelagert werden. Es werden dort die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und die Staubmenge gemessen. Darum ist es nicht möglich, den Saal zu betreten. Die Besucher können jedoch in den Raum hineinschauen.“
Im Vorraum des Saals hängt ein Porträt von Franz Joseph Kinsky. Er war Ende des 18. Jahrhunderts Kommandant der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Kinsky spielte eine Rolle, nachdem 1773 der Jesuitenorden im Habsburger Reich aufgelöst worden war. Damals habe das weitere Schicksal des Klementinums und der Buchsammlungen an einem seidenen Faden gehangen, wie der Experte erzählt.
„Dieser Herr handelte mit Kaiserin Maria Theresia aus, dass die Bücher weiterhin im Klementinum bleiben konnten. Seinetwegen wurde die Bibliothek der Familie Kinsky zum Bestandteil der Buchsammlungen hier. Und damit gründete er die öffentliche k. u. k. Universitätsbibliothek. 1780 wurde Karel Rafael Ungar zum ersten Direktor der Bibliothek. Auf seine Initiative brachte man auch Bücher aus jenen Klöstern ins Klementinum, die unter Joseph II. aufgelöst wurden. Es ist bekannt, dass damals oft wertvolle Bände zum Schleuderpreis verramscht oder aus den Seiten alter Bücher sogar Tüten gefertigt wurden. Dank Menschen wie Franz Joseph Kinsky wurde die Bibliothek im Klementinum gerettet und konnte zum Kern der späteren Nationalbibliothek werden.“
Allegorien des Wissens und Tempel der Weisheit
Der Barocksaal stammt aus den 1720er Jahren. Die Arbeiten an der künstlerischen Gestaltung des Raums wurden 1726 beendet. Der Saal sei das Zentrum jesuitischer Bildung gewesen, dem entspreche auch die Gestaltung der Deckenfresken, erzählt Klimek:
„Zu sehen sind Allegorien des Wissens, die das hiesige Konventsmitglied Jan Hiebl malte. Er hat auch die Fresken in der Spiegelkapelle geschaffen. Die Geschichte des Wissens fängt am Eingang an mit dem antiken Berg Parnassus und den Musen. In der Mitte fliegt der Genius mit einer Flamme, die die Vernunft symbolisiert. Das steht für das antike Wissen, das wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Zudem gibt es das offenbarte Wissen. Das ist das theologische, biblische Wissen. In der Mitte ist eine Szene aus dem Alten Testament mit Salomos Tempel der Weisheit zu sehen. Die Geschichte des Wissens erreicht im hinteren Teil des Saals ihren Höhepunkt, wo Christus auf dem Berg Tabor dargestellt ist.“
Jan Hiebl malte über den Bücherregalen noch Porträts namhafter Jesuiten wie unter anderem Ignaz von Loyola oder Franziskus Xaver an die Wand. Im Saal befinden sich laut Klimek im Übrigen rund 27.000 Bücher.
„Es handelt sich um Bände, die hier von den Jesuiten aufbewahrt wurden. Die Schriften des Ordens sind an ihren weißen Buchrücken zu erkennen. Im hinteren Teil des Saals steht oben die Aufschrift ,Biblioteca nationalis‘, also Nationalbibliothek. Diese Bezeichnung wurde schon vom Direktor Karel Rafael Ungar benutzt. Er bemühte sich, tschechisch geschriebene Bücher sowie Bücher über tschechische Themen zusammenzutragen.“
Nach demselben Konzept wie Ungar richtet sich Klimeks Worten zufolge auch die heutige Leitung der Bibliothek beim Erwerb von Neuzugängen. Ansonsten sei der Bücherbestand sehr universell, merkt Klimek an:
„Der Großteil der Bände ist in Latein, zudem gibt es deutsche, italienische sowie tschechische Bücher. Die thematische und territoriale Breite ist recht groß.“
Der Generaldirektor der Nationalbibliothek, Tomáš Foltýn, betont:
„Insgesamt gibt es in der Nationalbibliothek mehr als 7,6 Millionen Dokumente und Bände. Was hier in der Barockbibliothek zu sehen ist, ist nur ein Bruchteil davon. In der Nationalbibliothek werden verschiede Schriften aufbewahrt – von Dokumenten auf Papyrus über herrliche alte Drucke bis zu Werken der Neuzeit. Zu den alten Drucken gehören etwa mehrere Bände von Reisebeschreibungen. Das erlaubt einen Vergleich mit der heutigen Zeit, beispielsweise von Landschaften oder einzelnen Orten.“
Laut Tomáš Klimek kann sich der Bücherbestand der tschechischen Nationalbibliothek durchaus mit dem vergleichbarer Institutionen in Europa messen:
„Was die historischen Sammlungen betrifft, sind in Mitteleuropa die Bayerische Staatsbibliothek in München und die Österreichische Nationalbibliothek in Wien am größten. Die historische Sammlung im Klementinum ist die drittgrößte.“
Meteorologische Messungen und Meridian-Saal
Aus der Barockbibliothek geht es weiter in den 70 Meter hohen astronomischen Turm, in dem seit 1775 meteorologische Messungen durchgeführt werden. Květa Navrátilová führt die Besucher dorthin:
„Der Turm wurde 1722 fertiggestellt. Ursprünglich diente er als Aussichtsturm. Doch seine Funktion wandelte sich schon bald, als hier mit den meteorologischen Messungen begonnen wurde. Wir besichtigen zuerst den Meridian-Saal, es ist der interessanteste Raum im Turm.“
Aus dem Meridian-Saal sei seit 1842 der Mittag den Pragern gemeldet worden, erläutert Navrátilová.
„Bis 1842 wurde der Mittag vom Altstädter Ring aus gemeldet. Der Prager Oberstburggraf Karl Chotek änderte dies jedoch. So wurde die Mittagszeit im Meridian-Saal nach dem Prinzip der Camera Obscura gemessen. Aus dem Turm wurde dann mit einer Fahne den Pragern das Zeichen gegeben, dass gerade Mittag sei. Die Farben der Fahnen haben sich im Laufe der Zeit geändert. Ursprünglich war sie rot-weiß, dann gelb-schwarz, am Ende des Ersten Weltkriegs weiß und anschließend erneut rot-weiß.“
Ab 1891, als die Jubiläums-Landesausstellung in Prag stattfand, war die Bekanntgabe der Mittagszeit auch noch von Kanonendonner begleitet. Aus dem Meridian-Saal führen weitere Treppen bis hinauf in den Turm, aus dem sich ein herrlicher Blick auf Prag bietet.
Mit der Besichtigung des astronomischen Turms geht die neue Besichtigungsroute zu Ende, die am 1. April für die Prag-Besucher im Klementinum eröffnet wurde. Petr Slepička ist bei der Agentur Prague City Tourism für den Betrieb der Sehenswürdigkeiten verantwortlich. Seinen Worten zufolge sollen im Klementinum bald auch Führungen in anderen Sprachen angeboten werden – darunter Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch. Derzeit sei der Rundgang aber nur auf Tschechisch und Englisch möglich, sagt Slepička.
„Die Führungen finden im Abstand von 45 Minuten statt, der Mindestabstand zwischen den Führungen beträgt 30 Minuten. Dabei dürfen höchstens 25 Personen in einer Besuchergruppe mitkommen. Darauf haben wir uns zusammen mit der Leitung der Nationalbibliothek geeinigt.“
Die Besichtigungsroute soll künftig noch durch einige Exponate belebt werden.
„Wir wollen damit auf aktuelle Jubiläen reagieren. Die Nationalbibliothek wird Originalgegenstände aus ihren Sammlungen an einigen Orten der Besichtigungsroute zeigen. Damit möchten wir an Persönlichkeiten erinnern, die mit Prag und Tschechien verbunden sind.“
Das Klementinum ist von April bis September täglich von 9 bis 21 Uhr geöffnet. Einzelheiten erfahren Sie hier.