Von Jan Hus zu den Herrnhutern - wie die Böhmischen Brüder in die Welt gingen

Comenius

In Böhmen begann die Kirchenreformation etwa 100 Jahre früher als in Deutschland. Bereits im 15. Jahrhundert prägte die hussitische Bewegung diesen Teil Europas und war Impuls zu verschiedenen Formen der christlichen Erneuerung. Damals entstand in Böhmen auch eine Kirche, die heute über 19 selbständige Kirchenprovinzen auf vier Kontinenten verfügt. Sie heißt Unitas Fratrum, also Unität der böhmischen Brüder, und ist auf Deutsch auch als Herrnhuter Brüdergemeinde bekannt. Gegründet wurde sie vor mehr als 550 Jahren.

Verbrennung des Kirchenreformators Jan Hus
Die Brüderunität entstand in der Zeit der Hussitenkriege, die in Böhmen nach der Verbrennung des Kirchenreformators Jan Hus 1415 ausbrachen. Einige Jahrzehnte dauerte der Kampf zwischen den so genannten Utraquisten und den katholischen Truppen, das Land wurde verwüstet und seine Bewohner litten. Die radikalen Reformatoren mussten schließlich kapitulieren, ihre gemäßigten Mitkämpfer versuchten hingegen, sich mit den Katholiken auf einen Kompromiss zu einigen. Einer jedoch beschritt einen anderen Weg: Bruder Gregor. 1457 machte er sich aus Prag nach Kunvald / Kunwald in Nordostböhmen auf, um dort das Christentum nach eigener Art zu leben. Das war das Ideal aller Kirchenreformatoren, sagt die Sozialpsychologin Anežka Janátová von der Akademie sozialer Kunst „Tabor“ in Prag.

„Es handelt sich um das Grundideal der Menschlichkeit, das auch die Menschenverhältnisse prägt. Das heißt: in welcher Beziehung der Mensch zu Gott steht, wie er die geistliche Tradition seiner Nation versteht und wie er diese Tradition im Zusammenleben praktiziert. Bruder Gregor ließ sich von Apostel Paulus in dem Gedanken inspirieren, dass nicht der Kampf gegen den Körper, sondern nur der Kampf gegen das Böse in einem selbst sinnvoll und erfolgreich sein kann. Er meinte damit also den Kampf nur auf der geistlichen Ebene. Auf dieser Grundlage sammelte Gregor seine Anhänger um sich. In der Gemeinschaft sollten die Mitbrüder einander darauf aufmerksam machen, auf welche Weise konkret das Böse durch sie wirkt. Sie wählten auch ihre Ältesten, sie hielten regelmäßige Bibelstunden ab und legten wert auf Moral. Ich finde zum Beispiel faszinierend, wie sie ihre Ältesten wählten. Wenn sie sich nicht auf eine Person verständigen konnten, schrieben sie die Namen der Kandidaten auf Zettel und legten diese in einen Hut. Dann ließen sie ein Kind einen Namen ziehen. Zuvor beteten sie natürlich für die richtige Wahl. Mit der Ältestenwahl unterbrach die Brüdergemeinschaft die so genannte apostolische Nachfolge der katholischen Bischöfe. Ihrer Ansicht nach standen die Ältesten in direkter Abkunft von Gott.“

Petr Vok
Die bedeutendste historische Persönlichkeit, die vom Katholizismus zu den Böhmischen Brüdern konvertierte, war Petr Vok, das letzte Mitglied des mächtigen Rosenberger Geschlechtes. 1587 wagte er eine besonders mutige Tat: Er fuhr demonstrativ nach Mladá Boleslav / Jungbunzlau zur brüderlichen Kommunion. Die Brüderunität war damals in ganz Böhmen verboten. Petr überzeugte auch viele Angehörige von seinem Gut in Bechyně zur Kommunion. Auf dem Gut gründete er eine Gemeinde, in der sich Kunst und Wissenschaft frei entfalten konnten und wo konfessionelle Freiheit herrschte.

Petr Vok war auch einer der wichtigsten Initiatoren des so genannten Majestätsbriefes von Rudolf II. - der römische Kaiser und böhmische König erklärte 1609 in dieser Urkunde die Konfessionsfreiheit im Böhmischen Königreich. Es sei aber nicht nur bei einer Absichtserklärung geblieben, erläutert Anežka Janátová:

Anežka Janátová  (Foto: Archiv der Akademie sozialer Kunst „Tabor“)
„Als zum Beispiel zwei Jahre später Petr Vok starb, nahmen an dem Begräbniszug neben den Priestern der Brüderunität auch Jesuiten und Mitglieder weiterer Orden teil sowie Mitglieder der Bürgerschaften - alle zusammen ohne Unterschied. Toleranz war die Vorstellung der Brüderunität. Obwohl die Unität formal auf der protestantischen Seite stand, respektierte sie auch den katholischen Glauben. Ihre Mitglieder hatten die Worte von Apostel Paulus immer im Sinn: Ihr Kampf sei nicht gegen Blut und Körper gerichtet. Das ist gerade das Hauptthema der Brüderunität.“

Die Religionsfreiheit endete 1620 mit der Schlacht am Weißen Berg. Dort wurde die Ständearmee durch die katholischen Truppen besiegt. Für die Böhmischen Brüder bedeutete das, entweder zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Die Vertriebenen sorgten dann aber dafür, dass sich die Ideen der Brüdergemeinde in Europa verbreiteten. An erster Stelle war dies dem Philosophen, Theologen und Pädagogen Johann Amos Comenius zu verdanken. In Polen schrieb er seine besten pädagogischen Werke, sie machten ihn im ganzen protestantischen Europa bekannt. Auf Einladung des englischen Parlaments hielt er Vorträge in London und sprach zu den Mitgliedern der Königlichen Wissenschaftsakademie. 1642 wurde er mit der Schulreform in Schweden beauftragt, das Gleiche dann auch in Ungarn. Seine letzten 14 Jahre verbrachte Comenius in Amsterdam. Dort lehnte er eine Professur an der dortigen Akademie ab, um seine Ideen von der Verbesserung der Bildung und Erziehung zu entwickeln. Seine pädagogischen Überlegungen fußten gerade auf den Idealen der Brüderunität.

‚Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens’
„Alle Grundsätze, an der sich die Brüderunität ausrichtete, nahm er in seine Idee eines Schulsystems auf. Es geht um die ganze Art, wie Kinder auf die Zukunft vorbereitet werden sollen. Laut Comenius besteht der größte Fehler darin, dass wir die Kinder so erziehen, wie wir das selbst erlebt haben. Das verhindert aber den geistigen Fortschritt. Man solle immer daran denken, dass zukünftige Generationen bessere Fähigkeiten haben als wir. Unsere Aufgabe sei es daher, ihnen den Raum dafür zu öffnen. Die Frage nach dem Wie ist das zentrale Thema von Comenius´ pädagogischen Werken, so zum Beispiel in ‚Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens’ oder in seinem philosophischen Testament ‚Unum necessarium’, das einzig Notwendige. Das sind bis heute unübertroffene Werke, die von der Wahrheit als strahlender Idee geprägt sind“, so Anežka Janátová, die unter anderem Mitgründerin der Waldorfschulen in Tschechien ist.

Comenius
Comenius schrieb auch ein Testament der sozusagen sterbenden Brüderunität. Er äußerte zudem seine Enttäuschung über den Westfälischen Frieden, der die Hoffnung auf eine Rückkehr der Böhmischen Brüder in ihre Heimat verbaute. Die Brüderunität starb jedoch nicht definitiv. Im 18. Jahrhundert brach eine neue Ära an, erzählt der heutige tschechische Bischof der Gemeinschaft, Jan Klas:

„Anfang des 18. Jahrhunderts gab es in Böhmen eine große Sehnsucht danach, seinen Glauben nicht verleugnen zu müssen. Viele Menschen hatten die Brüderbibel zu Hause versteckt und hofften auf Konfessionsfreiheit. Besonders stark traf das auf Schlesien und Nordböhmen zu, dorthin kamen die Unitätsprediger häufiger heimlich. Dann tauchte ein Wanderhändler namens Christian David dort auf. Er hörte die gefangenen Brüder im Gefängnis singen und begann, ihre Bibel zu lesen. Er fasste Vertrauen zu den Leuten und vereinbarte mit dem sächsischen Grafen Nikolaus Ludwig Zinzendorf, dass er ihnen ein Grundstück für eine neue Gemeinde überließ. So entstand Herrnhut, also ein Ort, der unter der Schirmherrschaft eines Herrn stand. 1722 setzten die Emigrationswellen ein, und 1727 wurde die Brüderunität nach dem Statut von Comenius neu gegründet.“

Graf Zinzendorf  (Foto: Wikimedia Commons Free Domain)
Obwohl die Brüder in Sachsen ihren Glauben frei praktizieren durften, war die Umgebung eher misstrauisch. Die Einwanderer schlossen sich nicht der dortigen evangelischen Kirche an, sondern blieben geschlossen in ihrer Gemeinschaft. Darüber hinaus nahm ihre Zahl schnell zu, was zu Konflikten mit den Einheimischen führte. Einige von ihnen zogen deshalb weiter nach Berlin oder sogar über den Atlantik nach Amerika. Sie hielten sich aber nicht für Vertriebene mit leeren Händen, sondern für Missionare, die das Wort Gottes frei verkünden.

„Mit ihrer Mission hatten sie in Amerika großen Erfolg, weil sie nicht zu getauften Christen kamen, sondern zu jenen, für die sich niemand interessierte. Den Anlass dazu gab Graf Zinzendorf selbst, er hatte vom dänischen König einen schwarzen Diener als Geschenk bekommen. Der Diener erzählte dann den Brüdern, wie die Schwarzen in Amerika nicht als Menschen galten, sondern als Sklaven. Die Herrnhuter waren so ergriffen, dass sie sogar bereit gewesen wären, sich in die Sklaverei verkaufen zu lassen und den Sklaven so das Evangelium zu verkünden. Das war natürlich nicht möglich, aber sie erhielten schließlich Genehmigung zur Mission in Lateinamerika. Die Brüder zogen zu den Miskito-Indianern in Nicaragua und Honduras und lebten mit ihnen zusammen ihren Alltag“, sagt Jan Klas.

Miskito-Indianer in Nicaragua  (Foto: Wikimedia Commons Free Domain)
Die Herrnhuter haben sich zweifellos um die Erhaltung dieses Indianerstamms verdient gemacht. Sie verteidigten sie gegen die „weißen“ Aggressoren und ersannen sogar eine Rechtschreibung für ihre Sprache. Bis heute bestehen Herrnhuter Gemeinden in Lateinamerika, aber auch in Afrika und sind weit bekannt. In diesen Regionen haben sie etwa 90 Prozent ihrer Mitgliederbasis. In Tschechien bildet jedoch die Unität nur noch eine geringe Minderheit. Auch deswegen ist für die meisten Tschechen dieses berühmte Kapitel ihrer Geschichte nur ein „böhmisches Dorf“.


Dieser Beitrag wurde am 21. Juli 2012 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.