Von Prag nach Berlin: Eine Reise auf dem Weg des Wandels

Foto: Europäische Kommission

Der anstehende EU-Beitritt der Tschechischen Republik füllt nicht nur seit Wochen die Medienberichte, der Beitritt nimmt auch die tschechische Gesellschaft voll in Beschlag, und das seit Jahren. Nach der politischen Wende zu Beginn von 1989, der so genannten Samtenen Revolution, erlebte Tschechien gesellschaftlichen Wandel im Schnelldurchlauf, Umwälzungen, die heute jeden Winkel der neuen Republik erreicht haben. Doch was bedeuten diese Veränderungen für die einzelnen Menschen? Für unser heutiges Feuilleton sammelte Daniel Satra für Sie Beobachtungen aus dem Tschechien der Gegenwart.

Foto: Europäische Kommission
Wenn ich morgens die Zeitungen aufschlage- liebe Hörerinnen und Hörer -, hagelt mir dort der soziale Wandel in Begriffen entgegen. Begriffe wie Arbeitsmarktzugang, Beitrittskriterien, Visums-Regelung oder Schengen-Regime. Begriffe wie Korruptionsindex, Demokratie und Zivilgesellschaft. Begriffe, die uns erklären wollen, was sich getan hat in den vergangenen Jahren, die zeigen wollen, wohin es nun gehen wird in absehbarer Zukunft - im Mai 2004. Fast scheint es jedoch so, als hätten sich einige dieser Begriffe hinter eine geschlossene Wolkendecke zurückgezogen, den Sichtkontakt zum Boden, an dem wir Menschen leben, längst verloren. Dieser Gedanke überkam mich auch jüngst, und hier - liebe Hörerinnen und Hörer - beginnt mein Erlebnis, auf dem Weg von Prag nach Berlin, als ich einen Menschen traf, der mir seine Geschichte erzählte. Das ganze beginnt mit einer Verspätung: 6 Stunden, um genau zu sein. Ich wartete am Prager Hauptbahnhof auf meine Mitfahrgelegenheit nach Berlin. Der alte Mazda hatte erst seinen Auspuff verloren, dann hatte Pavel, der Besitzer des Wagens, auf dem Hof der Werkstatt aus Versehen noch ein anderes Auto gerammt. Der Pechvogel Pavel, den mir die Prager Mitfahrzentrale vermittelt hatte, hatte sich bereits mit mehreren Kurznachrichten per Mobiltelefon für die Verzögerung entschuldigt. Als er dann aus dem Wagen stieg, entpuppte er sich als schlaksiger Kauz, redselig mit Jesus-Frisur und Lennon-Brille. Ein Original, dachte ich, und war gespannt zu erfahren, warum er nach Berlin fährt. Und da waren sie wieder, die Begriffe, nur jetzt echt, am lebendigen Beispiel. Arbeiten wolle er, so Pavel, aber eigentlich wäre das, was er mache, ja gar keine Arbeit, sondern sein Leben: Die Musik. Ausgerüstet mit Trommeln, Flöten und seinem Digderidoo, einem hölzernen Blasinstrument der australischen Ureinwohner, das von der Form her an ein schweizerisches Alpenhorn erinnert, war Pavel auf dem Weg in die Berliner U-Bahn. Ein- oder zweimal im Monat fährt der 28-Jährige von Hauptstadt zu Hauptstadt, um mit Straßenmusik an Berliner Bahnsteigen ein zweites Gehalt zu verdienen. Denn als Verkäufer von mittelalterlichen Souvenirs im Goldenen Gässchen der Prager Burg kommt er monatlich nur auf 6000 Kronen (das sind knapp 200 Euro). Zwei Drittel davon kostet seine Prager Wohnung, das letzte Drittel zahlt er als Unterhalt an seinen dreijährigen Sohn. Und den dürfe er noch nicht einmal sehen, berichtet Pavel. Und nun also nach Berlin, um monatlich über die Runden zu kommen. Für Pavel ist das selbstverständlich. Normalität auf Reisen.

Fünf Stunden dauerte die Autofahrt. Von Prag nach Berlin. Aus Tschechien nach Deutschland. Mit einer echten Geschichten, von einem echten Menschen.

Es sind heute wohl die Zwanzigjährigen, die tschechischen Twens - sie sind die Gruppe der tschechischen Gesellschaft, die erst nach den Ereignissen von 1989 erwachsen geworden ist. Sie finden Wege über die Grenzen ihrer tschechischen Heimat hinaus. Sie sind die erste Generation, die eine echte Chance hat, die Begriffe von einer neuen Gesellschaft, einer Gesellschaft mit europäischer, oder zumindest mit grenzüberschreitender Bedeutung, mit ihren Geschichten, Erlebnissen und Taten mit Leben zu füllen. Ohne Probleme, ohne Hemmungen, ganz selbstverständlich.