Vor 70 Jahren wurde in Prag das "Milic-Haus" eröffnet
Das sogenannte "Milic-Haus" - eine einzigartige Bildungseinrichtung im Prager Stadtteil Zizkov, die mit der Persönlichkeit des tschechischen Humanisten und Pädagogen Premysl Pitter verbunden ist, wird in den nächsten Tagen sein 70. Jubiläum begehen. Mehr über die Geschichte des Hauses und dessen Begründer erfahren Sie im folgenden Spaziergang durch Prag von Martina Schneibergova und Silja Schultheis:
Der tschechische Sozialpädagoge und Humanist Premysl Pitter (1895-1976) setzte sich gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Olga Fierz während des Zweiten Weltkriegs für die Rettung jüdischer Kinder ein. Nach dem Krieg errichteten sie in einigen Schlössern in der Umgebung von Prag Erholungsheime sowohl für jüdische Kinder, die aus den Konzentrationslagern zurückkehrten, als auch für deutsche Kinder, die sie aus tschechischen Internierungslagern retteten. Weniger bekannt ist jedoch die pädagogische Tätigkeit Pitters in den Zwanziger bzw. Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, die mit dem sogenannten Milic-Haus verknüpft ist.
Die Geschichte des Milic-Hauses beginnt in den Jahren des Ersten Weltkriegs. Nach den schweren Fronterlebnissen kehrte Premysl Pitter als überzeugter Pazifist nach Hause mit dem Vorhaben zurück, Gott zu dienen. Er wusste nicht genau, wie er Gott dienen soll und entschied sich, seinen Nächsten zu helfen, vor allem denjenigen, die am verletzbarsten waren und die Hilfe am dringendsten brauchten, nämlich den armen Kindern im Prager Arbeiterviertel Zizkov.
Anfang der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts besuchte Premysl Pitter die damals neu gegründete hussitische theologische Fakultät. Am meisten interessierte er sich für die Vorlesungen von Professor Ferdinand Hrejsa über die Geschichte der Reformation in den böhmischen Ländern. Jan Milic aus Kromeriz/Kremsier, ein Vorgänger des Kirchenreformators Jan Hus, wurde für Pitter zum Vorbild, insbesondere da er sich vor allem um arme Menschen am Rande der Gesellschaft gekümmert hatte.
Mit einigen Freunden gründete Pitter 1920 einen Verein, den er mit Verweis auf Jan Milic das "Neue Jerusalem" nannte. Eine der Aufgaben des Vereins war es, Heime für Kinder und Jugendliche zu errichten. Da die damaligen Gesetze gemeinnützigen Genossenschaften gewisse Vorteile und Förderungen gewährleisteten, gründete Pitter mit seinen Freunden 1923 eine Baugenossenschaft mit dem Titel "Milicuv dum" (das Milic-Haus). Die beiden Organisationen begannen finanzielle Mittel zu sammeln, um ihr Vorhaben zu verwirklichen, in Zizkov ein Heim für Kinder - das Milic-Haus - zu bauen. Über die Anfänge von Pitters Arbeit mit Kindern sagte Dr. Jan Stepan vom Premysl Pitter und Olga Fierz-Stiftungsfonds:
"Premysl Pitter begann sich mit seinen Freunden bereits um das Jahr 1920 um Kinder zu kümmern. In vermieteten Sälen verschiedener Gaststätten in Zizkov organisierten sie zuerst sonntags, dann auch samstags und mittwochs Nachmittage für Kinder. Diese Tätigkeit war zwar bedeutend, aber nach einer kurzen Zeit traten bestimmte Probleme auf. Aus diesem Grund begann der um Pitter versammelte Enthusiastenkreis von einer eigenen Bildungsanstalt, von einem eigenen Haus zu träumen, wo die Kinder nicht nur sonntags, sondern täglich zusammentreffen könnten. Dieser Traum konnte erst dreizehn Jahre später in die Tat umgesetzt werden."Der Weg von der Idee zu deren Verwirklichung war - wie bereits Dr. Stepan bemerkte - nicht einfach. 1924 kaufte die von Pitter gegründete Baugenossenschaft ein Grundstück auf dem sogenannten "Kreuzberg" in Zizkov. Das Projekt wurde jedoch nicht gebilligt, weil die Staatliche Regulierungskommission vorhatte, die ganze Anhöhe in einen Park zu verwandeln. Die einige Jahre dauernden Verhandlungen mit der Prager Gemeinde endeten erst 1931, als ein Austausch des erwähnten Grundstücks gegen das Grundstück gebilligt wurde, auf dem das Milic-Haus bis heute steht.
Mit dem Projektentwurf wurde damals der Architekt Ervin Katon beauftragt. Der Bau sollte ca. eine halbe Million Kronen kosten. Die Baugenossenschaft hatte jedoch nur etwa 100 000 Kronen gesammelt. In der Zeit der Wirtschaftskrise und inmitten der Bauvorbereitungen erfuhr Premysl Pitter von dem Philanthropen Ingenieur Karel Skorkovsky, der eine Baufirma besaß und damals einige Arbeiterhäuser für die Arbeitslosen gebaut hatte. Pitter nahm an, dass dieser Mann Verständnis für sein Projekt zeigen könnte.
Nach gegenseitigen Verhandlungen schlug Skorkovsky vor, das Milic-Haus in zwei Etappen zu erbauen. Die fehlenden finanziellen Mittel bot er selbst zu einem sehr niedrigen Zins an. 15 Jahre nach seiner Rückkehr von der Kriegsfront hatte Pitter seinen Traum verwirklicht. Am Sonntag, dem 24. Dezember 1933, wurde sein Milic-Haus feierlich eröffnet.
Die ganze Atmosphäre im Haus war einzigartig. Es war ein hervorragend funktionierendes Haus für Kinder, in dem diese nach dem Schulunterricht ihre Freizeit verbringen konnten. Sie bekamen dort alles kostenlos. Täglich besuchten an die 150 Kinder das Haus. Die gesamte Tätigkeit wurde aus Spenden von Pitters Freunden finanziert. Das Milic-Haus ist mit der Zeit zu einer bedeutenden Bildungseinrichtung geworden, die vor allem für Kinder aus sozial schwachen Familien im Stadtteil Zizkov bestimmt war. Der Schwerpunkt der Arbeit bestand in einer sinnvollen Freizeitgestaltung für die Kinder. Wie kam Pitter auf diesen recht modernen Gedanken, Kindern sinnvolle Aktivitäten anzubieten? Jan Stepan dazu:
"Dies war auch dank Pitters Mitarbeitern möglich. Es ist nötig, hier den Namen des hoch gebildeten Pädagogen Ferdinand Krch zu nennen, der der engste Berater Pitters im Milic-Haus war. Olga Fierz hatte auch eine pädagogische Ausbildung. Die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren entweder Autodidakten, was ihre pädagogische Ausbildung anbelangt, viele haben aber auch Lehrerkurse absolviert."
Eines der Kinder, die nach der Schule das Milic-Haus besuchten, war Blanka Sedlackova. Sie erinnert sich an die Jahre 1938-1939:
"Zu Hause hörten wir damals über den Krieg, den Mangel an Nahrungsmitteln, die Okkupation, die Mobilisierung... Dies waren für uns Begriffe, die Angst hervorriefen. Und dann kamen wir in ein schönes Milieu, wo viele nette Menschen waren, und wir vergaßen die Schrecken des Krieges. In der Halle des Milic-Hauses gab es eine Tafel, auf der das Programm für den jeweiligen Tag stand. Das Phantastische daran war die Möglichkeit, dass jeder sich die Tätigkeit aussuchen konnte, die ihm am besten gefiel. Die Kinder waren immer in Gruppen von 10-12 Kindern versammelt, die von einer sogenannten "Tante" betreut wurde. Diese Tante traf mit ihrer Gruppe etwa einmal in der Woche zusammen, um den Kindern vorzulesen oder ihnen ein neues Spiel zu zeigen bzw. mit ihnen zu diskutieren. Auf dem Programm standen verschiedene Sportaktivitäten, Basteln in den Werkstätten, es standen uns ein Studienraum sowie ein Musiksaal zur Verfügung."
Frau Sedlackova zufolge hing es immer von dem jeweiligen Kind ab, ob es an einer der angebotenen Tätigkeiten teilnimmt oder ob es nur seine Hausaufgaben machen wollte. Am Sonntagvormittag besuchten auch Kinder aus der Umgebung das Milic-Haus, die an Wochentagen nicht kamen:"Bei den Sonntagstreffen las Premysl Pitter etwas vor oder erzählte uns etwas aus der Geschichte. Z. B. warum das Haus eben Milic-Haus heißt oder über Jan Hus und über andere historische Persönlichkeiten. Bei diesen Treffen wurde viel gesungen und gespielt."
Musik und Gesang standen nach den Worten von Blanka Sedlackova im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Erzieher. Besonders begabte Kinder lernten im Milic-Haus, z. B. Klavier spielen.
"Die Kinder wurden auch individuell gefördert und betreut. Die Mitarbeiter des Hauses interessierten sich dafür, was für Begabungen das einzelne Kind hatte, womit man ihm eventuell helfen konnte. Nach Meinung von Onkel Premysl und Tante Olga - wie wir Olga Fierz nannten - hatte ich ein bisschen pädagogische Begabung. Ich las den kleinsten Kindern vor, habe sie betreut und für sie verschiedene Spiele ausgedacht, was mir auch Spaß machte."
Die Tätigkeit des Milic-Hauses stützte sich auch auf internationale Freiwilligenarbeit. 1934 wurden dort mit Hilfe der englischen Quäkerkirche Kinder deutscher Emigranten untergebracht, die aus Deutschland flüchten mussten. Während der Nazi-Okkupation war das Milic-Haus ein Zentrum der geheimen Unterstützung verfolgter jüdischer Familien. Blanka Sedlackova erinnert sich daran, dass jüdische Kinder bis 1941 das Milic-Haus besuchten:
"Da wir wussten, dass sie das Haus eigentlich nicht besuchen sollten, haben wir sie immer nach Hause begleitet und unsere Mäntel so mit den Ellenbogen gehalten, um den David-Stern, den sie tragen mussten, zu verdecken. Nach Kriegsende warteten wir gespannt darauf, dass unsere Freunde zurückkehren werden. Nur drei von unseren jüdischen Kameraden haben überlebt."
Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich Premysl Pitters Hilfe auf jüdische Kinder aus den Konzentrationslagern und auch deutsche Kinder aus den Internierungslagern. Blanka Sedlackova betreute damals diese Kinder einige Monate lang auf dem Schloss Olesovice und 1946 begann sie als Erzieherin im Milic-Haus zu arbeiten, wo sie jedoch nur bis 1951 bleiben durfte. Sie betont:
"Für mich war die Arbeit im Milic-Haus eine Art Universität der Menschlichkeit, des taktvollen Umgangs mit Kindern, der Liebe. Diese Erfahrungen haben mein ganzes Leben geprägt und mich sehr stark beeinflusst."
Nach dem kommunistischen Putsch von 1948 war Premysl Pitter schließlich gezwungen zu flüchten. Seit 1951 wirkte er in Deutschland und in der Schweiz. Noch während seines Lebens wurden Pitter hohe Auszeichnungen des Staates Israel und der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Er starb 1976 in der Schweiz. 1991 wurde er in memoriam von Präsident Vaclav Havel mit dem Tomas Garrigue Masaryk-Orden ausgezeichnet.
Der Betrieb im Milic-Haus wurde 1949 gewaltsam eingestellt. Der dort heute untergebrachte Kindergarten trägt seit 2001 den (Ehren)titel "Kindergarten Milic-Haus".